9punkt - Die Debattenrundschau

Ausgerechnet die Etablierten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2021. In der FR erklärt der irakische Journalist Kamal Chomani, warum so viele Kurden aus seinem Land fliehen wollen. Die SZ notiert beschämt, wie fassungslos die Spanier auf Deutschland blicken. Die Zeit recherchiert zum "Klima der Angst" in der Berliner Zeitung. Und sie vermisst Frank Schirrmacher. Und eine wichtige RBB-Meldung für alle moribunden Berliner: "Auf den Friedhöfen im Berliner Bezirk Mitte können ab Mitte Dezember für drei Wochen keine Bestattungen stattfinden."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.11.2021 finden Sie hier

Europa

"Über Deutschland rollt die nächste Welle - und die Spanier blicken fassungslos auf dieses Scheitern", notiert Karin Janker auf Seite 3 der SZ. "Hier sind 95 Prozent der über 40-Jährigen geimpft, bei den über 70-Jährigen sind es fast hundert Prozent. (…) Die spanische Gesellschaft gilt als großer Gleichmacher. Kritische Stimmen hätten es hier schwerer, im Guten wie im Schlechten, sagt auch der Epidemiologe Manuel Franco, der an der Humboldt-Universität in Berlin studiert hat. Das war Ende der Neunzigerjahre, und ihm, dem jungen Spanier, kam Berlin damals vor wie pure Anarchie. 'Schon ästhetisch, angefangen bei den Frisuren, aber auch im Denken pflegt Deutschland stärker den Individualismus', sagt Franco. (….) Zudem sei Spanien ein sehr solidarisches Land. Dass die Gemeinschaft ein hohes Gut ist, werde schon kleinen Kindern beigebracht. 'Das sieht man auch daran, dass es hier mehr Organtransplantationen gibt als anderswo', sagt Franco. Der Grund dafür sei schlicht, dass es in Spanien so viele Spenderorgane gibt. 'Spanier denken noch im Tod an die anderen.'"

In der SZ sehnt sich Jörg Häntzschel nach klaren Worten in der Politik, wie sie etwa Helmut Schmidt einst fand. Aber heute wird nur noch ängstlich laviert, meint er: "Was Merkel und weite Teile der deutschen Politik den Bürgern unterstellen, ist eine Aversion gegenüber Autorität, gegenüber Führung, besonders gegenüber Führung durch verbindliche Aussagen. Doch sie übersehen, dass ihre Beschränkung auf soft power sie nur noch bevormundender erscheinen lassen. Wir haben Führungspersönlichkeiten gewählt, keine Sozialpädagogen, die ihre Worte bedachtsam wählen, damit sie nicht böse klingen. Die Bundesrepublik wird durch die schwerste Krise ihrer Geschichte von Leuten geführt, die 'Angebote' machen, aber keinesfalls 'Druck' auf die sensiblen Bürger ausüben wollen. Was, wenn ein Krieg ausbräche? Mobilmachung? Nein, es gäbe wohl ein 'Kampfangebot', aber auch größten Respekt für alle, die lieber nicht mittun wollen."

Der polnische Publizist Slawomir Sierakowski sucht in der Zeit nach Gründen für die ausländerfeindliche Mentalität der Polen und findet sie in der polnischen Geschichte: Die Polen möchten erst mal selbst als Opfer gesehen werden, zumal jene die sich dem Kaczynski-Regime verbunden fühlen: "Die Polen sollten sich in einer heroischen Geschichtsschreibung immer als Nachkommen des Adels und der Aufständischen fühlen - und eben nicht als die Bauern, die sie in der Mehrzahl waren und die lieber den im Kampf verwundeten Helden die Stiefel von den Füßen zogen als selbst zur Waffe zu greifen. Sie hatten keinen Grund, in den Freiheitsbewegungen zu sterben. Die Leibeigenschaft wurde in Polen erst 1864 vom russischen Zaren abgeschafft, nicht von der polnischen Aristokratie. Der Adel erwartete von den Bauern, dass sie sich einem Freiheitskampf anschlössen, der ihr Leben nicht im Geringsten verändert hätte: Für sie hätte es keine Freiheit gegeben." Auch in einem Gespräch mit der belarussischen Philosophin Olga Shparaga geht es um die Krise an der belarussischen Grenze und um Angela Merkels Annruf bei Alexander Lukaschenko. "Auf diesen Anruf hat Lukaschenko gewartet. Er wollte den Dialog mit der EU erzwingen, nun hat er diese Anerkennung bekommen."
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Gesellschaft

Eine wichtige Meldung des RBB für jeden in Berlin-Mitte: "Auf den Friedhöfen im Berliner Bezirk Mitte können ab Mitte Dezember für drei Wochen keine Bestattungen stattfinden. Grund dafür seien Wartungsarbeiten an einer zentralen Computersoftware bei der Friedhofsverwaltung im Bezirk, teilte das Bezirksamt auf rbb-Anfrage mit. Demnach sollen die Wartungsarbeiten vom 15. Dezember bis 2. Januar dauern."

Auf Zeit Online fährt die Historikerin Marion Detjen nochmal das ganz große Besteck auf, um Nemi El-Hassan gegen den, wie Detjen schreibt, "Rufmord" zu verteidigen (El-Hassan hatte vor Jahren an einer antisemitischen Demo teilgenommen, wofür sie sich entschuldigte, und likete noch vor kurzem antiisraelische Posts bei Twitter): "Nemi El-Hassan wird nicht als Beispiel, als Rollenmodell dafür dienen, dass Menschen, deren Familienerinnerungen und Identitäten quer zum offiziellen deutschen Erinnerungsdiskurs liegen und diesen herausfordern, in Deutschland eine Stimme in einer vom Staat geförderten öffentlich-rechtlichen Sphäre bekommen können. Sie wird vielmehr exemplarisch dafür stehen, dass ganze Bevölkerungsgruppen wegen ihrer Erinnerungen und Identitäten ausgeschlossen waren, ausgeschlossen sind und ausgeschlossen bleiben sollen. (…) Das wird eine ganze Generation prägen, die an ihre Zukunft in Deutschland geglaubt hat. Merk dir das, du junger Mensch!"
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Politik

Im FR-Gespräch mit Cedric Rehmann erklärt der irakische Journalist Kamal Chomani, weshalb so viele der Geflüchteten zwischen Polen und Belarus aus dem Irak stammen: "Es gibt eine politische und eine wirtschaftliche Misere und die Wirtschaftskrise hat ihre Ursachen in den politischen Zuständen im Nordirak. Die beiden Kurdenparteien KDP und PUK teilen seit 2011 die Posten im Land untereinander auf. Solange die Gewinne aus der Ölindustrie Geld in die Kassen der Verwaltung spülten, konnten die beiden Parteien genügend Jobs für junge Leute in der Verwaltung oder auch in der von ihnen kontrollierten Privatwirtschaft schaffen. Seit dem Einbruch der Ölpreise 2014 geht die Rechnung nicht mehr auf. Es gibt Zehntausende Graduierte jedes Jahr, aber nirgendwo Jobs für sie. Chance auf ein Einkommen hat nur, wer Teil des Klientelsystems wird. Proteste junger Menschen gegen den Stillstand werden immer stärker unterdrückt. Unter diesen Bedingungen ziehen es viele Menschen vor zu gehen, wenn sich die Möglichkeit bietet."
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Stichwörter: Flucht, Irak, Belarus

Geschichte

In der FR kommt Aleida Assmann auf die Debatte zum 9. November zurück: Soll nur die Pogromnacht von 1938 erinnert werden - oder auch die Ausrufung der Republik 1918 und der Sturz der Mauer 1989? Und was ist mit dem 9. November 1923, dem "Nationalfeiertag" im Dritten Reich, fragt Assmann. In der Zeit attackieren die eher pro Hohenzollern-Historiker Peter Hoeres und Benjamin Hasselhorn den Hohenzollern-kritischen Kollegen Stephan Malinowski.
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Ideen

Eigentlich hat zwar Kathleen Stock die Uni von Sussex verlassen (unsere Resümees), und nicht umgekehrt. Aber einige deutsche Akademiker tun in einem "Einspruch" in der Zeit so, als sei es die Position von Stock, die die "Macht" repräsentiert. Besonders ärgern sich die Akademiker über die Berichte der Medien, die Stocks Position nicht völlig abwegig fanden: "Die Einseitigkeit in der Darstellung solcher Fälle hat Methode und ist ein echter Grund zur Sorge. Immer wieder soll die Öffentlichkeit mit ähnlichen Strategien davon überzeugt werden, dass es ausgerechnet die Etablierten sind, die bedroht würden. So wird allein die Tatsache, dass bestimmte Positionen kritisiert werden, als Angriff auf die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit oder gar als 'Mobbing' identifiziert. Eine weitere Strategie ist, die Effekte von Petitionen oder offenen Briefen zu übertreiben und zugleich die realen Macht- und Gewaltverhältnisse, die die akademische Welt durchziehen, zu bagatellisieren oder zu leugnen."

In der NZZ begrüßt Sarah Pines die Gründung der Austin-Universität, denn: "Noch nie war das amerikanische akademische (insbesondere das geisteswissenschaftliche) Feld so eng, unfrei und lernbehindernd wie heute. Über ein Drittel konservativer Akademiker haben für ihre Ansichten Disziplinarmaßnahmen zu befürchten. Ein Viertel aller Akademiker der Geisteswissenschaften unterstützen Amtsenthebungen gegen Kollegen, die sich kritisch in Fragen zu Immigration oder Geschlecht äußern. Vier von fünf Doktoranden würden, so das Center for the Study of Partisanship and Ideology, konservative Akademiker von Beruf und Campus-Leben ausschließen, wenn sie könnten."
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Medien

Zwei charakteristische Figuren der deutschen Medien spielen heute in der Zeit eine große Rolle, eine - Holger Friedrich - quicklebendig, eine - Frank Schirrmacher - tot.

Hannah Knuth hat für den Wirtschaftsteil der Zeit mit einigen der verbliebenen RedakteurInnen der Berliner Zeitung gesprochen und interne Papiere gelesen. Der Berliner Oligarch Holger Friedrich führe ein "Regime der Angst", schreibt der Betriebsrat in einer Mail. "Mehrere Redakteurinnen und Redakteure der Tageszeitung sollen zuletzt überraschend aufgefordert worden sein, das Haus zu verlassen. Man wolle das Arbeitsverhältnis nicht fortführen, soll es vonseiten der Geschäftsführung geheißen haben. Als Gründe sollen die finanzielle Lage oder die Kompatibilität zwischen Mitarbeitern und Verlag genannt worden sein. Es soll Fälle geben, in denen es für Mitarbeiter, die gern geblieben wären, nicht einmal eine Abfindung gegeben habe. Einige sollen nach den Gesprächen zudem plötzlich aufgefordert worden sein, ihre Arbeit zu protokollieren. Auf Anfrage wollte sich der Verlag dazu nicht äußern." Friedrich soll im übrigen ab und an mit anonymen Texten zum Inhalt seiner Zeitung beitragen, etwa mit dem Artikel "Danke für nichts" zum Abschied der Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher. Im Mediendienst turi2 gibt es schon eine Reaktion der Berliner Zeitung auf diesen Artikel: "Tomasz Kurianowicz, Chefredakteur der Wochenend-Ausgabe der Hauptstadt-Zeitung, wirft der Zeit gegenüber turi2 fehlende journalistische Sorgfalt vor. Er nennt die Berichterstattung 'tendenziös', 'einseitig' und 'unfair'."

Der prominente Zeit-Reporter Stephan Lebert fragt in einem traurigen Artikel, warum der einst so dominierende Zampano Frank Schirrmacher heute quasi vergessen scheint: "Ich könnte es mir leicht machen und die Verantwortung für das Vergessen Schirrmachers seiner Zeitung, der FAZ, zuschreiben. Man kann es vorsichtig formulieren: Die FAZ hat es sich nicht zur Aufgabe gemacht, sein Lebenswerk zu ehren oder für eigene Zwecke zu nutzen. Man kann es auch härter ausdrücken: Viele Leute in der Redaktion, die Schirrmacher nahestanden, seine Jüngerinnen und Jünger, wurden über die Jahre vertrieben oder kaltgestellt."
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