9punkt - Die Debattenrundschau

Wer schwach war, wurde verprügelt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.01.2022. Viel Rätseln über Russland heute. Peter Pomerantsev empfiehlt in Time eine Psychoanalyse, um Wladimir Putins Obsessionen zu verstehen - und fordert russischsprachige Unis im Westen, um die Russen nicht Putins Zensur zu überlassen. In der FAZ fragt Gerd Koenen, wo die Russlandliebe der SPD eigentlich ihre Wurzeln hat. Martin Schulze Wessel erinnert ebenfalls in der FAZ daran, dass schon Peter der I.  Krieg gegen die "Umzingelung" Russlands führte. Bei rnd.de staunt Betroffenenvertreter Johannes Norpoth über die Neudefinition sexuellen Missbrauchs durch Expapst Benedikt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.01.2022 finden Sie hier

Europa

Paradoxe Koinzidenz von Politikeräußerungen vorgestern in der FAS. Markus Söder, CSU, wiegelt im Gespräch mit Timo Frasch und Konrad Schuller ab: "Selbst in der schlimmsten Zeit des Kalten Krieges gab es kein Infragestellen der Energieverbindung zwischen der Sowjetunion und Deutschland. Bei aller berechtigten Kritik an Russland muss der Westen irgendwann die Kernfrage beantworten: Ist eine NATO-Erweiterung um die Ukraine geplant oder nicht." Sigmar Gabriel aus der Nord Stream 2-Partei bezieht hingegen in einem Artikel, den er zusammen mit dem ehemaligen polnischen botschafter Janusz Reiter verfasste, eine überraschend klare Position zu Russland: "Man muss ohnehin damit rechnen, dass Russland selbst seine Lieferungen als eine Art Vergeltungsaktion für westliche Sanktionen abbrechen könnte. Ein verlässlicher Lieferant mag die Sowjetunion im Kalten Krieg gewesen sein. Im 21. Jahrhundert und mit Russland als Partner gilt das nicht zwingend. Asiens Energiehunger bietet Russland Alternativen zum Absatz in Europa." Die beiden sind sich sicher: "Die aktuelle Krise lässt sich nicht 'wegdeeskalieren'."

Es wäre falsch, Wladimir Putin einfach nur einen geopolitischen Rationalismus zu unterstellen- sein Handeln ist obsessiv und verdiente eine Psychoanalyse, meint Peter Pomerantsev in Time. Und er denkt schon an Wiederaufbauarbeit: "Es gibt viele Russen - Künstler, Akademiker, Filmemacher -, die bereits eine großartige Arbeit bei der Erforschung des russischen Unbewussten leisten. Sie erhalten oft nur minimale Unterstützung von ihrer eigenen Regierung, und einige mussten das Land verlassen. Es sollte einen transatlantischen Fonds geben, der unabhängig von jedem Staat ist, um ihre Arbeit zu unterstützen. Ebenso sollten wir an die künftige Generation denken und eine russischsprachige Universität einrichten, an der kritische Untersuchungen möglich sind."

Thomas Schmid glaubt hingegen in der Welt nicht, dass Putin eine "größer angelegte Invasion von Teilen der Ukraine plant. Dazu ist er zu nüchtern. Denn diese Invasion hätte für ihn zwei kaum kalkulierbare Folgen. Da sie zu schweren Verlusten an Menschen und Material der russischen Armee führen würde, wäre sie bei Russlands Bevölkerung alles andere als populär - und dies in einer Situation, in der Putins Popularitätswerte im Land so schlecht sind wie nie zuvor. Zweitens wäre er nach einer (Teil-)Eroberung der Ukraine mit schweren und kaum berechenbaren Unruhen in den eroberten Gebieten konfrontiert - er hätte seine Macht überdehnt."

Eigentlich war die Sozialdemokratie gegen den Bolschewismus aus eigener leidvoller Erfahrung geimpft, schreibt Gerd Koenen in einem großen FAZ-Essay. Die jetzige Linie des Russlandverstehens in der SPD führt er zurück auf "die von Egon Bahr betriebene Fortentwicklung der 'neuen Ostpolitik' zu einer Strategie der Zementierung des europäischen Status quo, die allen demokratischen Entwicklungen von unten, wie in Polen 1980, mit offenem Misstrauen begegnete. Insofern hatte es wieder seine Logik, dass die Verhängung des Kriegsrechts in Warschau im Dezember 1981 mit einem symbolträchtigen Treffen von Schmidt und Honecker beantwortet und die Signale auf business as usual gestellt wurden. Und es war wiederum Egon Bahr, der diesen militärischen Eingriff auch ausdrücklich als Recht der Sowjetunion anerkannte, in ihrem strategischen Vorfeld für Ruhe zu sorgen, so wie die 'Breschnew-Doktrin' es 1968 mit Blick auf die Tschechoslowakei reklamiert hatte."

Auch Nils Minkmar skizziert in der SZ das historische Verhältnis von deutschen Sozialdemokraten und russischen Kommunisten, um am Ende ein entschiedeneres Auftreten Putin gegenüber zu fordern - gerade, wenn man keinen Krieg wolle: "Eine sozialdemokratisch regierte Bundesrepublik kann in ihm, seinem Regime, keinen Partner sehen. Sie muss ihm mit allem drohen - schon heute und deutlich - was jenseits militärischer Auseinandersetzung möglich ist. Noch der heftigste ökonomische Kontaktabbruch ist erträglicher als ein Krieg in Europa."

Nachdem ein Admiral in Indien "als radikaler Katholik" von seiner Russlandliebe schwadronierte und die Verteidigungsministerin in der Folge seien Rücktritt annahm, fragt Dominic Johnson in der taz: "Ganz unabhängig davon, was man von Schönbachs Weltsicht halten mag: Wieso hält eigentlich ein deutscher General in Indien eine strategische Grundsatzrede über den Indopazifik? Hat Deutschland gerade keine Politiker übrig, die schon mal auf einen Globus geschaut haben?"

An seiner wechselhaften Geschichte hat Novi Sad, eine der drei europäischen Kulturhauptstädte 2022, schon mal kein Interesse, moniert Marko Martin in der Welt. Nichts erinnert an die multiethnische Stadt vor den Jugoslawienkriegen oder an die Autoren - Alexander Tisma, Ivan Ivanji, Laszlo Vegel oder Danilo Kis - die sie beschrieben haben: "Was aber taugt ein von Gremien proporzmäßig verliehener 'Kulturhaupt-stadt'-Status, wenn er nicht genutzt wird, um entlang von Bruchlinien europäische Verknüpfungsgeschichten zu erzählen, sondern im Neusprech-globish nur visuell und 'multimedial' aufgehübschte 'Bridges and Visions' verkauft?"
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Medien

In der NZZ stellt Daniel Imwinkelried den österreichischen Satiriker Fritz Jergitsch vor. Als Gründer eines Online-Mediums, das, wie er sagt, im wesentlichen von Abogebühren lebt, kritisiert er die massive staatliche Unterstützung der Printpresse in Österreich. Nicht nur durch offizielle Presseförderung, die 2020 33,5 Millionen Euro betrug: "Fast gleich hoch war andererseits der Betrag, für den die Bundesregierung in Print- und Online-Publikationen Inserate schaltete. In den vergangenen Jahren ist diese Art der Mediensubvention völlig aus dem Ruder gelaufen." Dabei "handelte es sich oft "um Imagekampagnen, von denen die drei regierungsfreundlichen Boulevardblätter Krone, Österreich und Heute überproportional profitierten."
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Stichwörter: Presseförderung

Geschichte

Klaus Hillenbrand hat für die taz in der Wannsee-Villa eine Tagung zum achtzigsten Jahrestag der Wannseekonferenz verfolgt. Auch über die postkoloniale Infragestellung der Einzigartigkeit des Holocaust und seine Herleitung aus dem Kolonialismus wurde diskutiert. "Gegen solche Vergleiche sei an sich nichts einzuwenden, meinte Dan Diner, solange die richtigen Vergleiche gezogen und nicht Unvergleichliches verglichen würde. Deutlicher wurde Sybille Steinbacher vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt, die die These von der kolonialen Gewalt als Vorgeschichte des Holocaust vehement zurückwies. Diese 'monokausalen Deutungen' ohne Berücksichtigung anderer Faktoren, in der die Holocaustforscher provinzialisiert werden, gingen fehl. Denn weder fänden sich unter den NS-Massenmördern bis auf wenige Ausnahmen solche mit Kolonialerfahrung noch spielte der Kolonialismus im NS-Machtapparat mehr als eine randständige Bedeutung. Im Gegenteil habe der Nationalsozialismus mit Traditionen, darunter kolonialen Vorstellungen, gebrochen."

Schon im 17. Jahrhundert ging es Russland um Rohstoffe und um Befreiung aus einer "Umzingelung", ruft der Historiker Martin Schulze Wessel in der FAZ in Erinnerung: "Verbündet mit Dänemark und Sachsen-Polen, brach Peter I. im Jahr 1700 einen Krieg vom Zaun, der nach mehr als zwanzig Jahren durch den vertraglichen Verzicht Schwedens auf seine Provinzen Estland und Livland beendet wurde. Die Gründung von Sankt Petersburg als Hafenstadt und neuer Kapitale des Zarenreichs symbolisierte den russischen Triumph und die neuen Machtverhältnisse an der Ostsee."
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Ideen

Weiteres: In der SZ schreibt Thomas Meyer den Nachruf auf den Philosophen Gernot Böhme. In der FAZ schreibt Thomas Thiel.
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Stichwörter: Böhme, Gernot, Meyer, Thomas

Religion

Willy Winkler wundert sich in der SZ überhaupt nicht über das Missbrauchsgutachten zum Bistum München. Sexuellen Missbrauch hat er zwar nicht erlebt, prügelnde Priester dafür reichlich: "Die Kirche, die Una sancta, die katholische, die einzig wahre, hat seit je dies innige Verhältnis zur Macht, und was wäre Macht, ohne die Möglichkeit, sie auch auszuüben, vorzugsweise gegen Schwächere, also gegen Frauen und Kinder. ... Am allerersten Abend im Internat im Herbst 1967 wurden wir Neuen im Speisesaal als die 'Kaffern' vorgestellt. Das war kein Rassismus, sondern Gewalt- und Machtverteilung. Der bis dahin jüngste Jahrgang rückte in der Hackordnung auf und hatte damit das Recht erworben - was für ein Jubel, als Pater M. das verkündete! -, die Jüngsten zu verdreschen. Das war das herrschende Prinzip: Wer schwach war, wurde verprügelt, und die Patres machten es vor."

"Wenn Papst Benedikt auf 82 Seiten ausgeführt, es sei kein sexueller Missbrauch im engeren Sinne, wenn sich ein Täter vor einem Minderjährigen entblößt, onaniert oder pornografische Inhalte zeigt, dann hat er es immer noch nicht verstanden", sagt der Betroffenenvertreter Johannes Norpoth im Gespräch mit Sven Christian Schulz vom Redaktionsnetzwerk Deutschland. Aber der Ärger wird weitergehen: "In den kommenden Wochen werden noch weitere Gutachten aus den Bistümern Münster, Paderborn und Essen veröffentlicht werden. Da geht es zum Beispiel darum, welche Rolle die Gemeinden spielen. Denn in vielen Gemeinden wurde aktiv weggesehen, wie das Münchner Gutachten einmal mehr belegt. Da werden selbst heute noch Täter nahezu glorifiziert."
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