Efeu - Die Kulturrundschau

Es ist ein Fest. Es ist das Chaos.

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24.01.2022. Mit Jubel quittieren FAZ und Nachtkritik Kirill Serebrennikows Hamburger Tschechow-Inszenierung "Der schwarze Mönch", die alle Fragen nach dem Sinn des Lebens spektakulär unbeantwortet lässt. Die FAS wirft dem Documenta-Vorstand vor, sich nicht explizit hinter Israel zu stellen. Von Tocotronic lässt sie sich zum Weinen bringen. ZeitOnline untersucht, wie sich Unterhaltungsliteratur Tiefgründigkeit erschwindelt. In der SZ pocht Yasmina Reza auf ihr Recht, als Schriftstellerin nicht tugendhaft zu sein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.01.2022 finden Sie hier

Bühne

Kirill Serebrennikows "Schwarzer Mönch" am Thalia Theater Hamburg. Foto: Krafft Angerer

Jubel und stehende Ovationen für Kirill Serebrennikow, der am Hamburger Thalia Theater Tschechows weniger bekannte Novelle "Der Schwarze Mönch" inzenierte. Wie Kerstin Holm in der FAZ erklärt, geht es darin um einen Schriftsteller, der zur Erholung auf die Obstfarm seiner Kindheit zurückkehrt, dort jedoch gegen das "Sklavennaturell" des alten Gartenpflegers rebelliert und darüber verrückt wird: "Serebrennikow, ein bekennender Buddhist, macht daraus eine Rondoform, als dekliniere er eine anthropologische Grundfigur, rückt aber auch nach dem Rashomon-Prinzip die Figuren abwechselnd ins Zentrum. Der Zweidreiviertelstundenabend steigert sich von zunächst großer Bodennähe spiralförmig allmählich zu einem sehr körperlichen, bildmächtigen, parareligiösen Gesangs- und Tanzspektakel." Am Ende sieht Holm ergreifende Szene: "Die Derwische tanzen, während die menschliche Natur zerbricht."

Serebrennikow wirbelt viele Fragen zum Sinn des Lebens auf und lässt alle unbeantwortet, freut sich Georg Kasch in der Nachtkritik: "Stattdessen öffnet Serebrennikow im Mönchs-Teil noch einmal alle Theaterschleusen: Die Tänzer wirbeln, die herrlichen Sängerstimmen leuchten, Traum und Wirklichkeit vermischen sich in einem ununterscheidbaren Taumel, während auf den vier Holzmonden im Bühnenhimmel Projektionen des aufgesplitteten Kowrin leuchten. Es ist ein Fest. Es ist das Chaos. Es ist die Freiheit." Serebrenniko ist übrigens nach der Premiere gemäß seinen Auflagen nach Moskau zurückgekehrt, das er für letzt Proben in Hamburg verlassen durfte.

Weiteres: Astrid Kaminski stellt in der taz die Choreografin Lina Gomez vor,die gerade am Radialsystem ihr Stück "Träumerei des Verschwindens" einstudiert. Im FAZ-Interview mit Jan Brachmann spricht Benedikt Stampa, der Intendant des Festspielhauses Baden-Baden, über eine Öffnung seines Programms für nicht-klassische Formate. Eberhard Spreng berichtet im Tagesspiegel vom Start des Moliere-Jahres in Frankreichs, das die Pariser Comédie-Française mit "Le Tartuffe ou l'Imposteur" in der Urfassung einläutet.

Besprochen werden die Adaption von Juli Zehs Erfolgroman "Über Menschen" am Münchner Volkstheater (der Reinhard Brembeck in der SZ einen leichten Überschuss an gegenseitigem Verständnis produziert), Frank Castorfs Molière-Abend am Kölner Schauspiel (FAZ), James Sutherlands klar und stilvoll inszeniertes Tanzstück "Kassandra" im Pfalztheater Kaiserslautern (FR), Fatima Moumounis und Laurin Busers Stück "Bullenstress" am Zürcher Schiffbau (das Polizeigewalt NZZ-Kritiker Ueli Bernays zufolge recht klischeehaft behandelt).
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Literatur

Beim Lesen von Yasmina Rezas (aktuell auch in der FR besprochenen) Roman "Serge" hatte SZlerin Johanna Adorján offenbar den einen oder anderen mulmigen Moment: Die Geschichte einer jüdischen Familie, die nach Auschwitz reist, ist ihr wohl etwas zu komisch geraten, jedenfalls versucht sie, die Autorin im Gespräch diesbezüglich auf eine Position festzunageln: "Ich schreibe Literatur", antwortet diese. "Ob etwas in gesellschaftlicher Hinsicht in Ordnung ist oder nicht, hat nichts mit Literatur zu tun. Ich schreibe völlig außerhalb dieses Kriteriums. Weder in Abhängigkeit von noch dagegen. Literatur, die für mich zur Kunst gehört und nicht in den Bereich des Intellektuellen wie etwa Philosophie, ist ein Raum vollkommener Freiheit. Soweit es mich betrifft, ist die Ethik, die den Gebrauch von Wörtern leitet, nicht korrekt oder inkorrekt, sondern wahr oder falsch. Die Charaktere, die in ihrem bescheidenen Maße die Menschheit repräsentieren sollen, sind zerrissen und widersprüchlich. In dieser Spannung kämpfen die Menschen - nicht in einer illusionären Tugend."

Johannes Franzen nimmt eine vor kurzem im New Yorker veröffentlichte, ziemlich harsche Kritik an Hanya Yanagiharas Erfolgsroman "Ein wenig Leben" (die Figuren würden für den literarischen Effekt in einen "sentimentalen Folterkeller einer übergriffigen Sympathie" gesteckt) zum Anlass, sich auf ZeitOnline über die Konjunktur des Traumas in populären Erzählformen Gedanken zu machen. Dieser "Fokus auf erfahrenes Leid" wirke mittlerweile "uninspiriert und zynisch" und führe mitunter zu "absurden Ideen." Diese "entstehen im Kontext einer erschöpften Form des populären Erzählens, die die Errungenschaften des psychologischen Realismus nutzt, um für uninspirierte Handlungen die Dignität hochkultureller Tiefe zu erschleichen." Zudem handle es sich oft lediglich um "ein Instrument der Spannungserzeugung". Und "wenn ein Trauma auf diese Art Tiefe für eine nicht sonderlich tiefgründige Erzählung erschwindeln soll, dann ist das nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein moralisches Problem."

Außerdem: Marion Löhndorf spricht für die NZZ mit Edmund de Waal über die Geschichte der im Holocaust nahezu komplett ermordete Familie Camondo, über die er ein Buch geschrieben hat. Paul Jandl liest für die NZZ die Aufzeichnungen seiner Großmutter, die ihre Erfahrungen als vertriebene Sudetendeutsche niedergeschrieben hat. Im Literaturfeature von Dlf Kultur befasst sich Peter B. Schumann mit lateinamerikanischen Kriminalromanen. Malte Osterloh erinnert in der FR daran, dass Goethe - entgegen seinem berühmten Gedicht von 1774, das dazu aufruft, Rezensenten an den Kragen zu gehen - 1772 vor allem als Rezensent tätig war. Christoph Winder vom Standard wünscht sich aussagekräftigere Titel für Buchreihen.

Besprochen werden unter anderem frühe Werke aus der Geschichte der polnischen Holocaustliteratur, darunter Zofia Nałkowskas ursprünglich bereits 1946 erschienener Erzählband "Medaillons" (Standard), Damon Galguts "Das Versprechen" (Tsp), Judy Batalions "Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns" über die Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen (Standard), Georges-Arthur Goldschmidts "Der versperrte Weg" (Standard), neue Familienromane von Constanze Neumann und Jo Lendle (Zeit), Monika Helfers "Löwenherz" (Standard, Welt) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Sarah Weeks' Aurora und die Sache mit dem Glück" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Alexander Košenina über Karl Philipp Moritz' "Die empfindsame Schöne":

"Dort, wo in der Dämmrung heil'gen Schatten,
Sich holde Phantasieen gatten,
..."
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Kunst

In der FAS nimmt Julia Encke den Vorstand des documenta Forum e.V. ins Visier, der sich in einer Stellungnahme zu den Antisemtismusvorwürfen auf den Grundsatz der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit berufen hatte. Sie erkennt darin eine Nähe zur Initiave GG 5.3 Weltoffenheit, die eine Verurteilung der BDS-Kampagne als antisemitisch ablehnt. Zumals sich die Erklärung nicht explizit zu Israel bekenne: "Damit haben die Verfasser der Presseerklärung eine eindeutige Positionierung unternommen: Niemand, auch wenn er BDS unterstützt, darf unter Druck gesetzt oder gar ausgeladen werden. Wenn Claudia Roth hier nicht dagegenhält, bedeutete das, dass der Bundestagsbeschluss faktisch annulliert wird."

Weiteres: In der NZZ spricht der britische Künstler und Schriftsteller Edmund de Waal über das Schicksal der jüdischen Familie Camondo und die Keramiken, die ihr er für einstiges Stadtpalais, das Musée Nissim de Camondo angefertigt hat. Im Standard fordern die Zeithistorikerin Sophie Lillie und der Künstler Arye Wachsmuth eine neue Gedenkkultur auch für das Wiener Künstlerhaus.

Besprochen wird die Schau "The World of Music Video" in der Völklinger Hütte (FAZ).
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Film

David Steinitz berichtet in der SZ von einer Posse aus den USA: Weil die Schauspielerin Ana de Armas aus der Komödie "Yesterday" zwar herausgeschnitten wurde, im Trailer des Films aber weiterhin zu sehen war, verklagen zwei sich hinters Licht gefühlte Fans, die satte vier Dollar Leihgebühr für den Film zahlten, das Studio Universal auf fünf Millionen Dollar Schadensersatz. Isabella Caldart wirft für 54books einen Blick darauf, wie sich die Pandemie in Fernsehserien niederschlägt.

Besprochen werden Guillermo del Toros "Nightmare Alley" (NZZ), Matti Geschonnecks ZDF-Film "Die Wannseekonferenz" (taz), das Krebsdrama "In Liebe lassen" mit Catherine Deneuve (Tsp) und die auf Sky gezeigte Serie "Yellowjackets" (Freitag).
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Musik

"Nie wieder Krieg", das neue Album von Tocotronic, bietet die Essenz der Band in nuce, schreibt Susanne Romanowski in der FAS: Die Band ist sich hier selbst so nahe "wie nie. Sie wollen an keiner progressiven, politisch-musikalischen Speerspitze stehen", sondern machen "das, was sie am besten können: melancholische Rocksongs schreiben, gegen Nazis sein, ebenfalls teilergraute Hipster zum Weinen bringen, und ja, sogar männliche Verletzlichkeit so vielfältig auffächern, dass es wieder modern und anschlussfähig wird. Wer könnte nach zwei Jahren Pandemie nicht den Wunsch nachvollziehen, vom Monster im Schrank einmal kräftig in den Arm genommen zu werden?"



Außerdem: Jan Brachmann spricht in der FAZ mit Benedikt Stampa, Intendant des Festspielhauses Baden-Baden, über kulturpolitische Strukturumschichtungen und die künstlerische Ausrichtung seines Hauses in den nächsten Jahren. In der taz beugt sich Tom Mustroph interessiert über das "Modular Organ System" - ein Instrument, das "wie eine ausgeweidete Orgel" aussieht, welches Philipp Sollmann und Konrad Sprenger beim Berliner Avantgardefestival CTM präsentieren wollen. Andrian Kreye porträtiert für die SZ die Harfenistin Sissi Rada. In einer "Langen Nacht" des Dlf Kultur widmet sich Egbert Hiller Arnold Schönberg. Hans-Jürgen Linke schreibt in der FR zum Tod des Jazzsaxofonisten Emil Mangelsdorff. Robert Mießner gratuliert in der taz der Komponistin Éliane Radigue zum 90. Geburtstag. Hier "Opus 17", das das britische Musikmagazin Wire vor kurzem als ihr wichtigstes Stück angepriesen hat:



Und Karl Fluch staunt im Standard darüber, wie die 17-jährige US-Musikerin Gayle nicht nur der E-Gitarre und dem rotzigen Image des jugendlichen Misfit Revivals beschert, sondern damit sogar ziemlich erfolgreich ist:



Besprochen werden Konzerte von Patricia Kopatchinskaja (Tsp) und Sebastian Krämer (FAZ).
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