9punkt - Die Debattenrundschau

Die Erziehung des unbewussten Genießens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2023. Karl Schlögel wirft im Tagesspiegel Reinhard Merkel Täter-Opfer-Umkehr vor, wenn dieser die Ukraine zu Konzessionen verpflichten will. Der Guardian porträtiert drei schwarze Tory-Mitglieder, die darauf verweisen, dass die Tories in ihren oberen Rängen um einiges diverser sind als Labor. In der Welt beklagt die Philosophin Tove Soiland, wie unglaublich rigide der queere Diskurs Sexualität heute verregelt. In der FAZ warnt der Jurist Peter Oestmann vor einer Personalisierung des Rechts im Gefolge der Diversitätsdebatten. Die Berliner Zeitung prophezeit einen neuen Historikerstreit - diesmal um afrikanische Geschichte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.01.2023 finden Sie hier

Politik

Archiv: Politik

Europa

Die Gruppe Wagner unter Putins Terror-Warlord Jewgeni Prigoschin hat offenbar die Kleinstadt Soledar eingenommen und droht nun mit der Umzingelung der strategisch wichtigen Stadt Bachmut, berichtet unter anderem Andreas Rüesch in der NZZ. Für Putins Truppen handelt es sich um einen unter ungeheuren Opfern errungenen symbolischen Sieg, so scheint es: "Tatsächlich gibt es zahlreiche Hinweise auf unverhältnismäßige Verluste auf russischer Seite. Im Internet kursieren grausige Bilder von winterlichen Feldern bei Bachmut, die mit Leichen russischer Soldaten übersät sind. Westliche Beobachter erkennen eine deutliche Abnahme der Intensität von Russlands Artillerieangriffen; offenkundig harzt der Nachschub, so dass die Angreifer die Munition sparsamer einsetzen."

Die Stadt Bachmut zeigt jetzt schon ein Bild totaler Zerstörung:


Karl Schlögel antwortet im Gespräch mit Claudia von Salzen vom Tagesspiegel (hinter Paywall) unter anderem auf den Rechtsprofessor Reinhard Merkel, der in einem sehr umstrittenen FAZ-Text behauptete, die Ukraine habe eine moralische Pflicht, dem Angreifer Konzessionen zu machen (unsere Resümees): "Merkel weiß offensichtlich nichts über die Ukraine. Er behauptet, die Lage auf der Krim sei befriedet. Dieser Mann hat keine Ahnung davon, was auf der Krim passiert ist - es hat einen Bevölkerungsaustausch gegeben, die dort noch lebenden Ukrainer werden unterdrückt. Wer behauptet, dass die Krim jetzt russisches Territorium sei, legitimiert noch einmal den Völkerrechtsbruch. Reinhard Merkel landet bei der ungeheuerlichen These, dass die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine einem Angriff auf Russland gleichkomme. Das ist eine Umkehr der Opfer-Täter-Beziehung."

Mit Hilfe des PEN-Berlin, mit vielen Spendenaufrufen, auch im Perlentaucher, und mit viel Arbeit und Mobilisierung hat Ralf Bönt auf eine Anregung von Serhij Zhadan geantwortet und einen Feuerwehrwagen mit Generator und vielen anderen wichtigen Gerätschaften mobilisiert, um ihn in die Ukraine zu bringen. Heute erzählt er in der SZ davon: "Bald beschäftigten mich Zugmäuler von Anhängern, Normen von Zurrösen für Spanngurte, Abdeckplanen in seltenen Maßen, Sonderfahrerlaubnisse für Sonderfahrzeuge mit Signalanlage. Alle paar Tage bestellten wir einige der reservierten Generatoren, der Anhänger war vorsorglich groß genug. Dann Ausfuhrzollerklärungen, Einfuhrzollerklärungen, Versicherungen der Empfänger für rein zivile Nutzung, Anerkenntnis der ukrainischen Botschaft einer humanitären Hilfe, damit die Wartezeit an der Grenze keine zwei Tage beträgt."

Annalena Baerbock will das Bismarck-Zimmer in dem an fatalen Traditionen reichen Auswärtigen Amt umbenennen? Recht so, findet SZ-Redakteur Joachim Käppner: "Gerade Bismarcks Erfolge zeigen den historischen Mann als jenen, der er wirklich war: einen der klügsten, machiavellistischsten Köpfe unter den Reaktionären und Feinden der Demokratie, der Sozialisten und Katholiken brutal verfolgen ließ; den Schöpfer eines Obrigkeitsstaates, der sich von den Demokratien des Westens immer rascher entfernen sollte; als den Außenpolitiker, der - wenn auch etwas widerwillig ('Ich will auch gar keine Kolonien') - das Reich auf der Berliner Konferenz von 1884 mit in das Verbrechen des europäischen Kolonialismus stieß."

Der ist zwar schon vier Tage alt aber immer noch interessante Lektüre: Emine Sinmaz porträtiert im Guardian in einem longread mehrere schwarze Tory-Abgeordnete: Wilfred Emmanuel-Jones, Samuel Kasumu und Festus Akinbusoye, Gründer der 2022 Group, die sicherstellen will, dass Kwasi Kwarteng nicht der letzte schwarze Schatzkanzler in Britannien gewesen sein wird. Auch wenn er nur kurz im Amt war: "Die Symbolkraft des kurzen Moments im letzten Herbst, in dem keines der vier großen Staatsämter mit einem Weißen besetzt war, ist unbestreitbar. Kwarteng, der als Sohn ghanaischer Eltern im Osten Londons geboren wurde, war der vierte Farbige in Folge, der das Amt des Schatzkanzlers bekleidete. James Cleverly, dessen Mutter aus Sierra Leone stammt, wurde der erste schwarze Außenminister des Landes. Suella Braverman, die Tochter eines Kenianers mit christlicher Goan-Herkunft und einer Mauritierin indischer Herkunft, war die dritte farbige Innenministerin in Folge, während Kemi Badenoch, die als Tochter nigerianischer Eltern im Südwesten Londons geboren wurde, Handelsministerin wurde. Am bemerkenswertesten ist vielleicht, dass diese neue Ära der Vielfalt an der Spitze der Regierung nicht von Labour, der Partei, die traditionell als natürliche Heimat für Minderheitenwähler gilt, sondern von den Konservativen eingeleitet wurde. Nach dem Eklat um sein Mini-Budget spottete Kwarteng über die Leistungen der Opposition in Sachen Vielfalt. "Wenn man sich die letzten zehn Jahre ansieht, ist die konservative Partei ethnisch viel vielfältiger als die Labour-Partei, und sie halten uns Vorträge über Vielfalt. Sie belehren uns über die Geschlechtervielfalt, obwohl sie noch nie eine Frau an der Spitze hatten; wir hatten drei weibliche Premierminister", sagte er der Mail on Sunday. "In Bezug auf Geschlecht, Rasse und all diese Dinge, von denen sie glauben, dass sie ihnen gehören, versagen sie und sind rückständig, und die Konservative Partei ist viel fortschrittlicher." Was die Mitgliederzahlen der Parteien insgesamt angeht, ist es allerdings umgekehrt.
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Ideen

Jakob Hayner unterhält sich für die Welt mit der Philosophin Tove Soiland. Sie sieht den heute regierenden queeren Diskurs der sexuellen Identitäten als eine Radikalisierung des 68er-Diskurses über "befreite Sexualität", der in sein Gegenteil umgeschlagen sei: "Frappant ist, wie unglaublich rigide die sexuelle Befreiung geworden ist. Und auch das Sprachverhalten ist unglaublich rigide geworden, wie es in der ödipalen Gesellschaft unvorstellbar gewesen wäre. Die jungen Menschen heute machen sich Regeln, die hätten sie bei keinem ödipalen Vater geduldet, der wäre gelyncht worden. Der Versuch, das unbewusste Genießen zu erziehen, führt zu einer Polarisierung in der Gesellschaft. Die fortschrittlichen Kräfte werden immer strenger, bis zu der Vorstellung, alles müsse per Vertrag geregelt werden...  Die Rechte verteidigt nun die freie Sexualität, während sich die Linke für deren Verregelung einsetzt, das hat sich umgekehrt. Das sind aber zwei Seiten desselben Missverständnisses."
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Gesellschaft

"Hijacking Memory": Der Schriftsteller Behzad Karim Khani scheut sich in der Berliner Zeitung nicht, den Holocaust zu bemühen, um die Silvesterrandalierer zu rechtfertigen, deren Migrationshintergrund auf einmal nicht mehr in Frage zu stehen scheint: "Sie ahnen es vielleicht, es geht hier um die Silvesternacht. Genauer gesagt um Neukölln, um die Sonnenallee. Also um jene Straße, die wir hier in Kreuzberg und Neukölln den Gazastreifen nennen und über die einer meiner israelischen Freunde, scherzhaft und nicht ganz ohne Schadenfreude, mal gesagt hat: 'Die Araber sind die Rache der Juden an den Deutschen.'" Auch Israel scheint nach Ansicht dieses Nachwuchsschriftstellers indirekt an der Randale schuld zu sein: "Die deutsche Begeisterung und Unterstützung für jenen Staat, der von Amnesty International und Human Rights Watch als Staat bezeichnet wird, der in den von ihm besetzten Gebieten Apartheid ausübt, nimmt auch in deutschen Redaktionen immer ideologischere Züge an. Offenbar proportional dazu, je rechtsradikaler und extremistischer jener Staat wird, vor dem zahlreiche Menschen geflohen sind, die heute in der Sonnenallee leben."

In der FAZ warnt der Jurist Peter Oestmann vor einer Personalisierung des Rechts im Gefolge der Diversitätsdebatten. Das hatten wir schon mal, erklärt er. In vormodernen Zeiten wurden Menschen klassifiziert nach Einkommen, Stand, Beruf, Geschlecht etc. und ihre Sitze im Parlament waren nach Quoten aufgeteilt: "Der Wechsel zwischen den einzelnen Statusgruppen war schwer, wenn nicht unmöglich. Diese rechtliche Diversität sollte auch äußerlich sichtbar sein. Policeyordnungen schrieben vor, wie sich einzelne Berufsgruppen und Stände zu kleiden hatten. Kleider mache Leute war damals weit mehr als ein Sprichwort, sondern verpflichtendes Recht. Die moderne Diversitätsdebatte ähnelt in mehrfacher Hinsicht solch vormodernen Erfahrungen. ... Wenn der Normgeber solche Identitäten rechtlich verfestigt, legt letztlich der Staat fest, welche von vielen Eigenschaften und Interessen einer Person rechtlich bedeutsam sind und welche nicht."

Ebenfalls in der FAZ warnen vier CDU-Mitglieder, darunter der Historiker Andreas Rödder und die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder davor, identitätspolitische Kulturkämpfe als "Geisterdebatten" zu ignorieren. Die müsse man schon ernst nehmen, denn sie veränderten "die Fundamente der Demokratie", argumentieren sie: Erstens indem legitime Positionen als rassistisch verunglimpft werden und zweitens durch die Behauptung, nur Benachteiligte dürften sich zu bestimmten Dingen äußern: "So stritt eine grüne Abgeordnete dem Oppositionsführer der Union in den Debatten um das 'Bürgergeld' das Recht ab, sich zu äußern, weil Friedrich Merz materiell privilegiert sei. Abgesehen von dem Irrsinn, dass dieser Logik zufolge nur noch Betroffene über ihnen zustehende Leistungen entscheiden dürfen (mit dem die Demokratie am Ende wäre), zeigt dieses Schlaglicht: Identitätspolitik von heute ist die Wirtschafts-, Innen- und Sozialpolitik von morgen."
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Kulturpolitik

Harry Nutt resümiert in der Berliner Zeitung jüngste Debatten um koloniale Raubkunst. Selbst im British Museum, das diesen Debatten bisher mit stiff upperlipp begegnete, kann man sich der Forderungen nicht mehr ganz erwehren. In Deutschland kommt inzwischen dagegen die Meldung an, dass Geschichte komplexer ist als es sich postkoloniale Szenarien ausmalen. Nutt verweist auf auf die "Restitution Study Group", die die Rückgabe der Benin-Bronzen im Namen der vom Königreich Benin Versklavten kritisieren, und auf die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin (unser Resümee): "Wenn die New Yorker Restitution Study Group und Wissenschaftlerinnen wie Hauser-Schäublin richtig liegen, dann sind Annalena Baerbock und Claudia Roth in ein kulturpolitisches Dilemma hineingetappt, weil sie den Verlockungen nicht widerstehen konnten, auf der richtigen Seite stehen zu wollen. Gegen die geschichtspolitisch aufgeladene Gefahr, verschiedene Opfergruppen gegeneinander auszuspielen, käme es nun aber darauf an, das historische Wissen über koloniale Regime ebenso zu erweitern wie die Zeit, die ihnen vorausging. Noch ein Historikerstreit also?"
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