9punkt - Die Debattenrundschau

Wie bei Poes entwendetem Brief

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2023. Nicht nur Alexei Nawalny und Wladimir Kara-Mursa , auch der ehemalige georgische Staatspräsident Michail Saakaschwili wird in Haft gequält, berichtet der Observer. Die New York Times erklärt, warum Google solche Angst vor Künstlicher Intelligenz hat. In der NZZ fragt Ljudmila Ulitzkaja: Brauchen wir Freiheit, und wie viel davon? Die FAS beleuchtet das schwere Leben mit ÖPNV in Deutschland. Im Guardian fragt Tomiwa Owolade: Was ist, wenn sich weiße Iren häufiger als rassistisch verfolgt sehen als Schwarzafrikaner und alle asiatischen ethnischen Gruppen?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.04.2023 finden Sie hier

Europa

Nicht nur Alexej Nawalny und Wladimir Kara-Mursa werden in Gefängnissen gequält. In Georgien wird der ehemalige Staatspräsident Michail Saakaschwili offenbar Putin zu Gefallen in Haft gehalten, obwohl er todkrank zu sein scheint - möglicher Weise eine Folge von Vergiftungen, sagen die Anwälte. "Putin verachtete Saakaschwili und erklärte in einem Gespräch mit dem damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy zur Zeit des Krieges 2008, er wolle ihn 'an den Eiern aufhängen'", schreibt Shaun Walker im Observer. Damals haben viele im Westen Saakaschwilis Warnungen vor Putin als Panikmache abgetan, aber jetzt fragen sich einige, ob er nicht vielleicht doch Recht hatte. 'Saakaschwili erklärte führenden Politikern in Berlin, Paris und anderswo, dass Georgien ein Testfall für Putins Bestreben sei, das Sowjetimperium durch Drohungen, Zwang und Gewalt wiederherzustellen. Diese Warnungen führten meist zu Gelächter und Augenrollen', sagte Daniel Kunin, ein ehemaliger Berater Saakaschwilis."

So richtig kommt Paul Jandl nicht heran an die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, die er für die NZZ interviewt. Ihre Antworten zum Kriegsgeschehen sind meistens eher vage oder ausweichend. Zur Freiheit sagt sie, sie habe "in jeder Hinsicht mit dem Aufklärungsniveau der Gesellschaft zu tun, mit dem Zivilisationsniveau. Zur Freiheit muss man heranwachsen. Überhaupt ist das ein gesondertes und recht komplexes Thema. Brauchen wir Freiheit, wie viel davon, wie ist sie zu dosieren, wo sind die Grenzen dieser Freiheit? Und vor allem: Wer braucht sie? Vielleicht ist für die heutige Menschheit der Zugang zu Nahrungsmitteln wichtiger, vielleicht braucht sie vor allem gute Lebens- und Wohnbedingungen."

Können Rassismus nur Weiße? Und können nur Schwarze davon betroffen sein? Wenn Tomiwa Owolade für den Guardian auf die "Evidence for Equality National Survey" in Britannien blickt, ist ihm das zu einfach: "Die beiden Gruppen, die der Umfrage zufolge am häufigsten angeben, rassistische Übergriffe erlebt zu haben, sind die Gemeinschaften der Sinti, Roma und Traveller sowie die jüdische Bevölkerung. Mehr als 60 Prozent der Sinti und Roma gaben an, in irgendeiner Form rassistisch angegriffen worden zu sein. Mehr als 55 Prozent der jüdischen Bevölkerung berichten dasselbe. Aber auch innerhalb der Gruppen, die wir oft unbewusst zu Gruppen zusammenfassen, gibt es auffällige Unterschiede. Schwarze Menschen aus der Karibik geben beispielsweise häufiger als schwarze Menschen aus Afrika an, Rassismus erlebt zu haben - fast 50 Prozent bei schwarzen Menschen aus der Karibik und mehr als 30 Prozent bei schwarzen Menschen aus Afrika. ... Bemerkenswerterweise ergab die Umfrage, dass 40 Prozent der weißen Iren angaben, in ihrem Leben in irgendeiner Form rassistisch angegriffen worden zu sein. Das bedeutet, dass weiße Iren mit größerer Wahrscheinlichkeit angeben, in Großbritannien Vorurteile erlebt zu haben als Schwarzafrikaner und alle asiatischen ethnischen Gruppen: Inder, Pakistaner, Bangladescher, Chinesen und andere asiatische Gruppen."
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Medien

In akademisch frisierter Diktion sagt der Soziologe Nils C. Kumkar in der FAZ nochmal, was die Döpfner-Enthüllungen enthüllt haben, nämlich eigentlich nichts. "Es ist wie bei Poes entwendetem Brief: Die organisationsintern kommunizierte Position überrascht gerade dadurch, dass sie nicht verborgen ist."
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Stichwörter: Kumkar, Nils C.

Geschichte

Vor achtzig Jahren, am 19. April 1943, begann der Aufstand im Warschauer Ghetto, an den der Historiker Stephan Lehnstaedt auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ erinnert. "Die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation - und letztlich der Situation aller Juden - war der Kampforganisation sehr wohl bewusst. Die deutschen Pläne standen ihnen klar vor Augen, und es war zu befürchten, dass das europäische Judentum ohne irgendwelche Spuren vom Erdboden getilgt würde. Angesichts dessen wollte man in Warschau zumindest ein Zeichen für die jüdische Ehre setzen. In den Worten Marek Edelmans: 'Vielleicht weil die bewusste Wahl zwischen Leben und Tod die letzte Chance zur Wahrung der eigenen Würde ist.'"

Der Streit um das "Judensau"-Relief an der Wittenberger Stadtkirche ist immer noch nicht ausgestanden. Der Kläger Michael Düllmann war mit seinem Ansinnen, das Relief entfernen zu lassen, zwar vorm Bundesgerichtshof gescheitert, zieht aber weiter zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die israelische Kunsthistorikerin Galit Noga-Banai erklärt in der FAZ, warum sie für den Verbleib des Reliefs ist - unter anderem wegen des an der Kirche aufgestellten Gegendenkmals des Bildhauers Wieland Schmiedel und des Dichters Jürgen Rennert, das das Relief in einen spannungsreichen Kontext setze.
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Gesellschaft

Fürs Klima demonstrieren ist einfach. Wie schwer aber ein Leben mit dem ÖPNV ist, wenn man auf ihn angewiesen ist, kann man im Rhein-Main-Teil der FAS nachlesen, wo Constanze Kleis von ausgefallenen Zügen, Bussen oder S-Bahnen erzählt. Und von den irren Versuchen der Bahn, die Kunden immer wieder in die Logik ihrer Institutionen zu ziehen: "Eine Bahnfahrt von Sylt nach Frankfurt. Noch im Regionalzug von Westerland nach Hamburg-Altona entdecken meine Mitreisenden und ich, dass der gebuchte ICE von Altona nach Frankfurt nicht fahren wird. In Altona gehen wir zur Information und wollen wissen, wie es jetzt weitergeht. 'Unser Zug ist ausgefallen!', erkläre ich der Bahn-Mitarbeiterin am Schalter. 'Nein, er ist nicht ausgefallen', belehrt sie mich. 'Er fährt heute nur ab Hannover.' ... Das ist am Ende mein vielleicht größtes Problem mit Bahn und RMV: die Verachtung Menschen gegenüber, die entweder keine Alternative haben oder tun wollen, was alle viel öfter tun sollten, weil es das Vernünftigste ist: das Auto in der Garage lassen. Sie zeigt sich in der Verweigerung jeglicher Kommunikation, mit der auch zum Ausdruck gebracht wird, dass unsere Zeit nicht zählt."
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Stichwörter: Öffentlicher Nahverkehr

Politik

Im Sudan, wo die beiden mächtigsten Generäle des Landes Krieg gegeneinander führen, beobachten wir das deprimierende Ende einer Revolution, schreibt Dominic Johnson in der taz: "Es ist nur vier Jahre her, dass die Menschen in Khartum und anderen Städten todesmutig auf die Straße gingen, um Freiheit einzufordern. Dass sie ihren Diktator stürzen würden, hielt damals kaum jemand für möglich. Sie schafften es. Aber den Systemwechsel schafften sie nicht." Hier der Bericht Saskia Jaschek und Johnsons zum Machtkampf im Sudan.s

Gewiss, der Krieg gegen den Irak, der vor zwanzig Jahren begann, hatte äußerste dubiose Begründungen und schlimme Konsequenzen. Aber in den Artikeln zum zwanzigsten Jahrestag wurde kaum erwähnt, dass er sich gegen ein verbrecherisches Regime richtete, das Zehntausende Tote auf dem Gewissen hatte, schreibt Ronya Othmann in ihrer FAS-Kolumne: "Schon 2003 klafften die Wahrnehmungen des Militäreinsatzes weit auseinander. Während die einen darin den Gipfel imperialistischer Kriegstreiberei sahen, feierten die anderen den Sturz Saddams als Befreiung. In vielen kurdischen Familien (wie auch der meinen) betrachtete man die Millionen Menschen, die in westlichen Metropolen gegen den Irakkrieg demonstrierten, mit Befremden. Wo waren diese Menschen 15 Jahre zuvor, als Saddam die Kurden in Halabja mit Giftgas bombardierte?"
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Internet

Ohje ohje, ist Künstliche Intelligenz in erster Linie die Rache von Microsoft an Google? Microsoft hatte richtig in OpenAI, das Mutterhaus der KI-Software ChatGPT investiert, und nun kommt folgende schlimme Nachricht, über die Nico Grant im Aufmacher der New York Times online berichtet: Samsung überlegt, Bing, also die Suchmaschine von Microsoft, als Standardsuche in seinen Handys voreinzustellen: "Die Reaktion von Google auf diese drohende Samsung-Aktion war 'Panik', wie aus internen Mitteilungen hervorgeht, die von der New York Times eingesehen wurden. Mit dem Samsung-Vertrag stehen schätzungsweise 3 Milliarden Dollar an Jahreseinnahmen auf dem Spiel. Weitere 20 Milliarden Dollar sind an einen ähnlichen Vertrag mit Apple geknüpft, der in diesem Jahr zur Erneuerung ansteht."
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