9punkt - Die Debattenrundschau

Prägnanzqualität

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2014. Die Presse aus Wien findet Thilo Sarrazins Tugendterror-Buch duchaus diskutabel, der Freitag durchaus nicht. In der Welt meditiert der Soziologe Wolfgang Sofsky anlässlich des Falls Edathy über die Dramaturgie des Verdachts. In der Zeit erzählt Peter Sloterdijk, wie er sich nach oben philosphierte. Aktuell: Tim Renner wird Kulturstaatssekretär in Berlin. Gigaom meldet: Amazon produziert eine Serie, die die BBC absetzen wollte, zusammen mit der BBC weiter, um auch was zum Senden zu haben. Im Freitag geht die Debatte um die eventuelle Relevanz von Blogs weiter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.02.2014 finden Sie hier

Internet

Die Blogs haben den Kampf um Relevanz gegen die Printmedien verloren, hatte Wolfgang Michal vergangene Woche in Carta verkündet: "Die alten Strukturen haben fleißig gelernt und den Sieg davon getragen." Im Freitag hält Jan Jasper Kosok dagegen, dass Blogs als unabhängige Stimmen mitnichten verzichtbar sind: "Verlage sind Tendenzbetriebe mit Blattlinien, die dem Streben nach Wahrheit nicht selten im Weg stehen. Das sah man anschaulich an der Debatte um das Leistungsschutzrecht. Nicht im Leben hätte man im Gros der Redaktionen daran gedacht, gegen etwas anzuschreiben, dessen gesamtgesellschaftlicher Nutzen - vornehm ausgedrückt - zweifelhaft, das dem eigenen Überleben aber durchaus dienlich ist. Pluralismus ist seit jeher ein hohes Gut. Solange genug für alle da ist und man selbst am sattesten wird."

Obwohl diesmal - aus Gewöhnung? - nicht viel davon die Rede war: Mathew Ingram besteht in Gigaom darauf, dass Twitter und Facebook in den Revolten in der Ukraine und Venezuela eine wichtige Rolle spielen - unter anderem wegen der sofort zirkulierenden Fotos von staatlicher Gewalt und wegen Verweisen auf nicht offizielle Medien: "Das gleiche Phänomen sahen wir kürzlich in der Türkei, wo Unruhen gegen die Regierung ausbrachen, die schnell zu staatlicher Gewalt gegen die Aktivisten führten. In diesem Fall wurden Twitter und andere soziale Medien zu einer entscheidenen Informationsquelle für türkische Bürger und Auslandstürken, zum Teil weil staatliche und andere regierungsfreundliche Medien die Berichterstattung vermieden."
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Kulturpolitik

Tim Renner wird neuer Kulturstaatsekretär in Berlin und somit den zurückgetretenen André Schmitz ablösen, melden die Welt (hier) und der Tagesspiegel (hier).
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Stichwörter: Berlin, Renner, Tim

Gesellschaft

Der Soziologe Wolfgang Sofsky meditiert in der Welt anlässlich des Falls Edathy über die Dramaturgie des Verdachts: "Manchmal fehlt jegliches materielle Belegstück, und dennoch ist dem Verdacht nicht zu entkommen. Was immer der Beschuldigte tut, es wird ihm zum Nachteil ausgelegt. Schweigt er, so gilt er als schuldig. Verteidigt er sich, steigert er seine Schuld durch Starrsinn und Unverfrorenheit. Findet sich nichts, so hat er Beweise frühzeitig vernichtet. Entdeckt man nur harmlose Anzeichen, muss es irgendwo ein Versteck geben."

Eigentlich ist an Thilo Sarrazins Buch über den "neuen Tugendterror" durchaus was dran, findet Anne-Catherin Simom in der Presse aus dem fernen Wien, vor allem die von ihm aufgestellten "14 Axiome des Tugendwahns", worunter man unhintergehbare Grundannahmen der politischen Korrektheit verstehen mag, leuchten ihr ein: "Zu diesen 'Axiomen' gehören etwa: 'Ungleichheit ist schlecht', 'Die menschlichen Fähigkeiten hängen fast ausschließlich von Bildung und Erziehung ab', 'Wer reich ist, sollte sich schuldig fühlen', 'Der Islam ist eine Kultur des Friedens' oder 'Das klassische Familienbild hat sich überlebt'."

Ganz anders Georg Seeßlen im Freitag, dem es vor der Kälte, aber auch Weinerlichkeit des Buchs graust. Ihm fehlt bei Sarrazin die Herzenswärme der Linken: "Der Tugendterror, von dem Sarrazin spricht, dieses 'Gleichmachen', dieses hartnäckige Absehen von den naturgegebenen Unterschieden der Klassen, Rassen und Geschlechter, diese 'linksliberale Medienklasse', die er überall am Werk sieht - das ist eigentlich nichts anderes als das, was Sarrazins 'linkstheologische' Feinde 'Liebe', 'Solidarität' oder 'Mitmenschlichkeit' nennen würden."
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Medien

Eine ziemlich überraschende Meldung bringt Gigaom. Die BBC hatte sich eigentlich entschlossen, die Serie "Ripper Street" (die zur Zeit auch im ZDF läuft) nach der zweiten Staffel abzusetzen. Nun "wird Amazon 'Ripper Street' wiederbeleben... Der Deal gibt Amazon laut BBC News ein Vorververöffentlichungsrecht auf Amazons Prime Streaming-Dienst. Einige Monate später wird die BBC die Serie ausstrahlen. Sowohl Amazon als auch die BBC beteiligen sich an den Produktionskosten."
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Ideen

In einem ausführlichen autobiografischen Gespräch erzählt Peter Sloterdijk Adam Soboczynski in der Zeit davon, wie er von einem Kind aus ärmlichen Verhältnissen zum prominenten Philosophen wurde. Es hätte jedoch auch ganz anders kommen können: "Ich hatte auf dem Gymnasium einen sehr guten Bariton kennengelernt, der uns im Fach Musik unterrichtete. Der hat mich als junges Musiktalent entdeckt. Wäre meine natürliche Stimmlage um anderthalb Ganztöne höher gewesen, wäre meine Lebensgeschichte anders verlaufen. Eigentlich bin ich ja ein in die Literatur verschlagener Musiker. Ich nehme alles, was unter dem sprachlichen Aspekt erscheint, daraufhin wahr, ob es Prägnanzqualität besitzt."
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Stichwörter: Sloterdijk, Peter

Europa

Die Anwältin und Autorin Larisa Denisenko aus Kiew beschreibt in der SZ die Stimmung nach dem Sturm: "Es gibt keinen Krieg der Denkmäler, keinen Krieg der Sprachen. Es gibt eine Angst vor dem Ukrainersein, denn auch viele Ukrainer haben Angst, sich zum Ukrainertum zu bekennen. Angst als Selbstschutz von Bürgern eines Landes, in dem über Jahrhunderte hinweg Ausländer herrschten. Angst von Menschen, die ihre Identität selbst verwässert haben."

Nach der Erstürmung von Viktor Janukowitschs Villa denkt Adam Soboczynski in der Zeit über die Prachtresidenzen von Despoten nach, deren Bilder im Moment der Eroberung durch das Volk um die Welt gehen: "Was die Despotenpaläste in ästhetischer Hinsicht zweifelhaft macht, ist, recht besehen, nicht so sehr der Hang zu Größe und herausgestelltem Reichtum, sondern das Ungebildete, Kindische, Vergnügungsparkhafte... Janukowitschs Villa ist eine Mischung aus Datscha, Schweizer Chalet und italienischem Palazzo und damit in etwa so zerrissen wie das ganze Land."

"Europa befindet sich in einem moment of decision", schreibt der Soziologe Ulrich Beck in einem in der Zeit veröffentlichten Aufruf, in dem er die Europäer dazu ermutigt, die anstehende Europawahl wahrzunehmen. Dass erstmals verschiedene Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten antreten, bezeichnet Beck als "politischen Quantensprung", da sich die Wähler so zwischen verschiedenen Modellen für Europa entscheiden können: "Wollen wir das 'Weniger-Europa' eines David Cameron, das vom Marktimperativ bestimmt wird, oder ein 'anderes Europa', das den Markt demokratischen Regeln unterwirft, wie es dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, vorschwebt?" Zu den Mitunterzeichnern gehören zahlreiche prominente Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle, darunter Jürgen Habermas, Péter Esterházy und Sibylle Lewitscharoff.
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Überwachung

In Amerika gibt es das, ein durch Mäzene finanziertes Medium, Propublica, das es einer Reporterin erlaubt, ein Jahr lang zu recherchieren, was Firmen und der Staat über sie wissen und die das Buch dann im Verlag der New York Times publiziert. Patrick Bahners (FAZ) lernt aus Julia Angwins "Dragnet Nation" (Auszug), "dass Behörden und Unternehmen gemeinsame Interessen im Datenbankgeschäft" haben, und das Übliche - nämlich, dass man sich auf die gefährliche Inkompetenz solcher Dienste in der Regel verlassen kann: "Eine Firma führte sie als alleinerziehende arbeitslose Mutter ohne Collegeabschluss - wohl wegen ihrer Adresse in Harlem. Solche Angaben werden an Krankenhäuser verkauft, die wissen wollen, ob ein neuer Patient sich seine Behandlung leisten kann."
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