9punkt - Die Debattenrundschau

Kugeln für die Freiheit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2014. Nach den Enthüllungen über die Kooperation zwischen BND und NSA stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung überhaupt über das Thema aufklären kann: Denn sie ist Teil des Problems, fürchtet Lawblogger Thomas Stadler. Zeit online fragt, ob Frank-Walter Steinmeier in dieser Sache die Wahrheit sagte. Der Zürcher Germanist Wolfgang Groddeck erklärt in der NZZ, warum er gegen Open Access ist. Und wie sinnvoll ist ein Verbot von "Mein Kampf" nach Auslaufen der Urheberrechte im nächsten Jahr? Die SZ analysiert die Bildsprache der Terrortruppe Isis.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.06.2014 finden Sie hier

Überwachung

Lawblogger Thomas Stadler benennt ein ungemütliches Problem, das sich aus den jüngsten SZ-Enthüllungen über die Auslieferung von Telekommunikationsdaten durch den BND an die NSA ergibt. Sie ist nämlich gesetzlich ausdrücklich untersagt: "Es zeigt sich also, dass die Bundesregierung nicht zur Aufklärung der mit großer Sicherheit rechtswidrigen Aktivitäten des BND im Bereich der TK-Überwachung beitragen wird, weil der BND ja gerade mit Wissen und Zustimmung der Bundesregierung gehandelt hat. Die Bundesregierung ist mithin Teil des Problems."

Die SZ meldet, dass CDU und SPD jetzt gemeinsam beschlossen haben, dass der Untersuchungssausschuss Edward Snowden nicht in Deutschland befragt, sondern in Moskau. Snowden hatte dies schon abgelehnt, was im Klartext bedeutet: Snowden wird überhaupt nicht befragt.

Patrick Beuth prüft für Zeit online nach den Enthüllungen über die Kooperation zwischen BND und NSA in den Jahren 2004 und 2007 die Aussagen der damaligen rot-grünen Regierungspolitiker, und vor allem des damaligen Kanzleramtsministers Frank-Walter Steinmeier. Gelogen habe er nicht, stellt Beuth fest: "Aber er hat auch nicht alles gesagt, was er wusste, um zur selbst geforderten Aufklärung beizutragen. Ein solcher Vorwurf trifft natürlich auf alle ehemaligen und aktuellen Regierungsmitglieder zu." Und dann stellt sich noch die Frage des Ringtauschs: Selbst wenn der BND deutsche Daten herausgefiltert hätte, hätte er dann nicht die Daten von Amerikanern an die NSA weitegereicht? Und verfährt diese ebenso mit deutschen Daten?

Lisa Caspari berichtet unterdessen ebenfalls für Zeit online über die Aussage von IT-Experten vor dem NSA-Ausschuss, die eine stärkere Verschlüsselung der Kommunikation und eine Abkoppelung der Netze fordern.

Die Stadt Chicago wird an Straßenlaternen Sensoren installieren, die nicht nur Wind und Wetter, sondern auch Bewegungsprofile von Handynutzern aufzeichnen werden - angeblich anonymisiert, berichtet Jacob Kastrenakes in The Verge, aber im Prinzip sei es möglich, "dass polizeilich die Verfolgung des Wegs einer einzelnen Person durch die Stadt möglich wird, eine höchst effiziente Fähigkeit, wenn sie außerdem mit den Überwachungskameras von Chicago verbunden wird. Eine Londoner Firma hat dies letztes Jahr mit Sensoren in Mülleimern versucht, wurde aber nach einigen Tagen gestoppt. Es heißt, die Sensoren in Chicago erlaubten solche Identifizierungen von Einzelpersonen nicht, was Bedenken beruhigen mag."
Archiv: Überwachung

Geschichte

Serbien begeht den Jahrestag des Ersten Weltkriegs mit einer Performance von Emir Kusturica, der in Gegenwart der serbischen Staats- und Regierungsspitze die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand rekonstruiert, berichtet in der SZ Florian Hassel. Es wundert ihn nicht: "Historische Ereignisse und ihre Erinnerung dienen beim EU-Kandidaten Serbien immer noch nationaler Sinnstiftung, nicht dem - oft schmerzhaftem - Erkenntnisgewinn. Das gilt für die jüngste Vergangenheit der jugoslawischen Nachfolgekriege, es gilt aber auch für den immerhin schon ein Jahrhundert zurückliegenden Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Princip und seine Mitverschwörer am 28. Juni 1914 gelten als Helden, die auf den Erzherzog abgefeuerten Schüsse waren "Kugeln für die Freiheit", so der für das serbische Gedenken am 28. Juni zuständige Filmregisseur Emir Kusturica. Sich der historischen Realität des damaligen serbischen Expansionsprogramms oder des Princip-Attentats zu stellen, würde Serbiens Gründungsmythos widerlegen, allzeit Opfer der Geschichte gewesen zu sein."

Hannes Stein erklärt in der Welt, was Europa vom "ständigem Kompromisslertum" des Habsburger Reichs lernen könnte: "Das Habsburgerreich basierte auf ein paar simplen und einleuchtenden Prinzipien. Diese waren: Kompromiss mit den historischen Nationen und ihren Adelsgeschlechtern, um dem Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung weitestmöglich entgegenzukommen; Unterstützung der Bauern in den jeweiligen Nationen, um ebenjene Adelsherrschaft auszutarieren; und unaufhörliche Verhandlungen mit den Tschechen. Anders gesagt, das Habsburgerreich garantierte sein Weiterbestehen dadurch, dass fundamentale Fragen nicht entschieden, sondern in der Schwebe gelassen wurden."

Außerdem: Eckhard Fuhr erinnert in der Welt an die erste Jugendherberge, die vor 100 Jahren im Sauerland eröffnet wurde.
Archiv: Geschichte

Medien

Isis? Das sind diese Leute, die maskiert, mit geballter Faust und Maschinenpistole vor prachtvoll explodierenden Autos stehen. So hollywoodmäßig sehen sie jedenfalls auf allen Bildern in den Medien aus. Das sind die Bilder, die sie selbst verbreiten, andere gibt es nicht, schreibt Tomas Avenarius in der SZ: "Neu, aufregend sind Anmutung und Ästhetik der Isis-Propaganda. Teile von "Klirren der Schwerter" sind aufgebaut wie ein Computerspiel. Andere sprechen den Kinoreflex des inszenierten Pathos an, wieder andere setzen auf brutale Action. Ein deutscher Konvertit, der sich seit Jahren mit der Dschihad-Propaganda beschäftigt, sagt: "Hier wird die klassische Jugendkultur bedient, mit Elementen von Kino, Comic, Ballerspielen. Das funktioniert." Bei Isis, so der Fachmann, führt ein Mausklick in die Welt der Spiele, die Grenze zum wahren Leben verschwimmt."
Archiv: Medien

Gesellschaft

Japan verzweifelt an der Alterung seiner Bevölkerung, im Parlament wurde gar schon eine Gebärverpflichtung für Frauen diskutiert, die natürlich auch in Japan nicht mehrheitsfähig wäre, schreibt Daniela Tan in der NZZ. "Angesichts der Tatsache, dass solch eine Gesetzgebung in massivem Widerspruch zur persönlichen Freiheit stünde, sind solche Vorstöße chancenlos. Doch dass solch ein Szenario überhaupt in Betracht gezogen wurde, ist erschreckend. Es muss über andere Anreize für junge Leute nachgedacht werden, die eine Familie gründen wollen."

Oh je, so sieht Deutschland in den Augen des kanadischen Autors Doug Saunders aus, den Katja Kullmann für den Freitag interviewt: "Den Deutschen geht es gut - und sie lieben ihre Festanstellungen. Schauen Sie sich um: Es gibt kaum ein anderes Land mit so viel Wohlstand. Da ist also diese Sicherheit im Rücken, aber sie wird nicht genutzt für Wagnisse oder Ideen. Erstaunlich, ein globaler Spezialfall."

Außerdem: In der Welt staunt Alan Posener über die Vehemenz, mit der die Linke das amerikanische Chlorhuhn bekämpft: "Für sie sind das Chlorhuhn und Google das, was der Rock "n" Roll und die Pille für ihre Großeltern war: ein amerikanischer Import, der die Grundfesten unserer Kultur erschüttert." Das FAZ-Feuilleton ist heute ganz dem Thema Schmerz gewidmet: Was sind chronische Schmerzen, wer hat sie und warum und was kann man dagegen tun bzw. warum wird so wenig dagegen getan. Der Rechtswissenschaftler James Q. Whitman erklärt in der SZ den Unterschied zwischen europäischer und amerikanischer Auffassung von Privatsphäre: "Im Kern zielt unser Persönlichkeitsrecht darauf, den Staat aus unserem Alltag herauszuhalten. Im amerikanischen Persönlichkeitsrecht geht es um Freiheit. Kontinentaleuropa ist anders."
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Europa

In der Welt fordert Richard Herzinger Europa auf, die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU vor dem russischen Autoritarismus zu schützen. Paul Flückiger berichtet zum gleichen Thema für die NZZ aus Chisinau: "Die Moldau erhofft sich von der EU Schutz vor Russland."
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Urheberrecht

Die deutschen Justizminister wollen Hitlers "Mein Kampf" auch nach Auslaufen der Urheberrechte im nächsten Jahr verbieten, berichtet Spiegel Online mit dpa. Anders äußert sich dazu nur Niedersachsens grüne Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz: Sie "sagte, sie könne gut verstehen, dass es etwa für jüdische Verbände "eine fast unerträgliche Vorstellung" sei, dass das Buch wieder in Deutschland zu kaufen wäre. "Ich glaube aber nicht, dass man ein Sondergesetz machen kann, das nur auf das Verbot eines Buches ausgerichtet ist." Zudem sei eine solche Maßnahme wenig erfolgversprechend, da das Buch bereits jetzt im Ausland und im Internet erhältlich sei." Niewisch-Lennartz tritt darum für eine kommentierte Ausgabe ein. Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, hat sich laut Neuer Osnabrücker Zeitung für eine kommentierte Ausgabe ausgesprochen.

Der Zürcher Germanist Wolfgang Groddeck macht sich in der NZZ stark für das Buch in gedruckter Form, zumindest was wissenschaftliche Arbeiten und Editionen angeht. Diese, so argumentiert er, seien viel zu bedeutsam um sie einem "jungen" und noch nicht gänzlich einzuschätzenden Medium (dem Internet) zu überlassen. Die "Euphorie des Alles-umsonst-haben-Wollens" müsse ausgebremst werden. Er möchte keine Verpflichtung der Forscher, open access zu publizieren. "Das Studium des literarischen Textes wird indes durch das Buch besser gewährleistet, in einem tieferen Sinne sogar erst ermöglicht. Die digitale bzw. nur digitale Textaufbereitung dekonzentriert hingegen das reflektierende und meditierende Lesen. Das haben Studien zum Leseverhalten gezeigt, das zeigt die alltägliche Erfahrung in Forschung und Lehre - und das sagt einem auch der gesunde Menschenverstand."
Archiv: Urheberrecht