9punkt - Die Debattenrundschau

Das Monster zieht an dieser Nabelschnur

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2014. Patrick Cockburn steht in der LRB kurz davor, alle Hoffnung für Syrien und Irak aufzugeben - den Gotteskriegern des IS stehen keine Gegenkräfte gegenüber. BHL hält dagegen an der Richtigkeit des westlichen Engagements für Libyen fest. In Frankreich versuchen Angestellte zum ersten Mal, ihre Zeitung - den Nice-Matin - per Crowdfunding zu retten. Gibt es einen zweiten Snowden, fragen sich Medien nach neuen Enthüllungen von The Intercept. In der SZ erklärt die ukrainische Autorin Larisa Denisenko, warum es so schwer ist, die Sowjetunion los zu werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.08.2014 finden Sie hier

Politik

Patrick Cockburn neuester Bericht über den IS (vormals ISIS) in der LRB liest sich beängstigend. Sowohl in der Weltöffentlichkeit als auch in Bagdad stellt er eine seltsame Sorglosigkeit fest, als wäre man sicher, dass das Phänomen vorübergeht. Cockburn sieht aber gar keine wirklichen Gegenkräfte: "Gerade die Geschwindigkeit und Unvorhersehbarkeit ihres Aufstiegs verführt westliche und lokale Führer zur Hoffnung, dass der Fall des IS und die Implosion des Kalifats genauso schnell vonstatten gehen werden. Aber alle Fakten zeigen, dass dies Wunschdenken ist. Der Trend geht in die andere Richtung, denn die Gegenkräfte werden schwächer: Im Irak zeigt die Armee keine Anzeichen der Erholung von ihren ihren früheren Niederlagen. Sie hat keinen einzigen erfolgreichen Gegenangriff geschafft. Und in Syrien zeigen sich die anderen Oppositionsgruppen, inklusive der schlachterprobten Kämpfer von al-Nusra und Ahrar al-Sha, demoralisiert. Sie werden zwischen IS und der Assad-Regierung aufgerieben."

Er bedaure selbstverständlich nichts, schreibt Bernard-Henri Lévy in seiner Kolumne mit Bezug auf sein Engagement für Libyen und die Intervention westlicher Länder, um den Umsturz im Land zu unterstützen. Dem Land hätte allerdings dauerhafter geholfen werden müssen. Trotzdem sieht er immer noch Chancen für die Demokratie: "Die Realität ist, dass Tausende Bürger der Menschenrechtsaktivistin Salwa Bugaighis ein großartiges Begräbnis bereiteten, nachdem sie von Gotteswütigen ermordet worden war. Die Realität ist, dass ganz Benghazi auf die Straße ging, nachdem der amerikanische Botschafter Christopher Stevens ermordet worden war. Und Realität ist, dass eine UNO-Truppe mit offenen Armen empfangen und die Todesschwadrone, die das heutige Libyen keineswegs repräsentieren, hinwegfegen würde."

In der FAZ fragt der libysche Autor Hisham Matar zum gleichen Thema: "Wie legt man nach mehr als vierzig Jahren Despotie das Fundament für einen demokratischen Staat?"

Warum protestieren Muslime empört gegen Amerika, Dänemark oder Israel, nicht aber - zum Beispiel - um der 180.000 Toten von Syrien willen? Der österreichisch-ägyptische Autor Oliver Jeges findet in der Welt zwar auch keine Antwort, aber er macht einen Punkt: "Wovor die islamische Welt die Augen verschließt, das hilft der Westen noch weiter zu relativieren. Die gängige Meinung in Europa besagt heute, Terror im Namen des Islams hänge nicht mit dem Islam zusammen. Das ist so absurd wie die Behauptung, dass Religionskriege nichts mit Religionen zu tun haben."
Archiv: Politik

Gesellschaft


(Wenn Graffiti offiziell zur Kunst werden, ist es aus mit einer Stadt. Bild: Roman Kruglov aus New York unter CC-Lizenz bei Flickr)

New York
ist wie Paris geworden, ein mehr oder weniger glamouröses Abbild seiner selbst, schreibt Jordan Mejias in der FAZ, der sich mit Wehmut an Zeiten erinnert, als seine Wohnung in Greenwich Village 94 Dollar im Monat kostete: "Als Labor der Künste hat die Stadt längst ausgedient. Sie begnügt sich damit, wie ein Magnet zu wirken, ein höchst selektiver Magnet allerdings, der statt der Experimentatoren die weltweit arrivierten Stars anzieht."

Im Standard beschreibt Bert Rebhandl, wie die sprudelnden Steuereinnahmen in Deutschland auch der Kultur zugute kommen.
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Graffiti, New York, Wehmut

Internet

In der taz kritisiert Christian Rath, dass beim Recht auf Vergessen journalistische Kriterien keine Rolle spielen und Medien von Google auch nicht in die Entscheidungen einbezogen werden: "Das Ungleichgewicht ist schon im EuGH-Urteil angelegt: Bürger, die ihre personalisierte Suchliste bereinigen wollen, können sich bei einer Ablehnung von Google an den Hamburger Datenschutzbeauftragten oder ein Gericht wenden. Im Gegensatz dazu ließ der EuGH die Verfahrensposition der betroffenen Medien völlig offen."
Archiv: Internet

Medien

Der Nice-Matin, eine der größten Zeitungen Frankreichs, steht vor der Pleite. Nun versuchen die Angestellten des Blatts ein in der Weltpresse bisher einmaliges Experiement: Sie wollen es per Crowdfunding retten, schreibt Alexis Delcambre in Le Monde. Zunächst einmal sollen 300.000 Euro, dann 3 Millionen Euro zusammenkommen. Allein 400 Angestellte spenden auf der Plattform Ulule je 3.500 Euro. "Die Zeit drängt allerdings. Bis zum 20. September müssen sie um 10 Millionen Euro gesammelt haben, um ihr Übernahmeangebot vor dem Handelsgericht glaubhaft zu machen..." Es gibt zwar andere Angebote zur Übernahme: "Aber ihnen ist gemeinsamen, dass sie mindestens 300, ja bis zu 800 Entlassungen vorsehen - bei insgesamt 1.180 Angestellten."
Archiv: Medien

Überwachung

Neue Enthüllungen auf Glenn Greenwalds Seite The Intercept gefallen den amerikanischen Behörden offenbar gar nicht. Sie fürchten schon einen zweiten Edward Snowden, meldet Spiegel Online. Jeremy Scahill und Ryan Devereaux berichten auf The Intercept von völlig undurchschaubaren Kriterien, nach denen man auf die amerikanische Terrorliste kommt: "Von den 680.000 Menschen, die in der Datenbank zur Überwachung von Terroristen - einer Liste von bekannten oder mutmaßlichen Terroristen, die mit den örtlichen Ermittlungsbehörden, privaten Sicherheitsfirmen und ausländischen Regierungen geteilt wird - werden 40 Prozent von der Regierung als ohne Beziehungen zu bekannten Terrorgruppen beschrieben. Diese Kategorie - 280.000 Menschen - ist größer als die Anzahl der geführten Personen mit mutmaßlichen Verbindungnen zu al-Qaida, Hamas und Hisbollah zusammen." Jeden Tag kommen 900 neue Einträge hinzu. (Aber Isis kann problemlos den Irak überrennen!)
Archiv: Überwachung

Geschichte

Riga ist Kulturhauptstadt Europas 2014, Judith Leister führt an den historischen Erinnerungsorten der lettischen Hauptstadt entlang auch zum Okkupationsmuseum: "Bis heute tue sich die lettische Gesellschaft mit der Gleichzeitigkeit von Täter- und Opferdiskurs schwer, meint Ivars Ijabs, ein Politikwissenschafter an der Rigaer Universität. "Die Letten wollen ihre Mittäterschaft nicht in ihr historisches Bewusstsein integrieren. Die Viktimisierung dominiert: Wir haben so viel gelitten. Gerade bei älteren Menschen ist die Schuldfrage ein Tabu. Jüngere Historiker sehen das schon anders.""

Weiteres: In der FAZ berichtet Gina Thomas, dass Großbritanniens "hurrapatriotisches Narrativ" zum Ersten Weltkrieg mittlerweile nicht mehr nur von Christopher Clark, sondern auch von linken Historikern wie Douglas Newton in Frage gestellt wird. Hannes Stein stellt in der Welt ein neues Buch über die Watergate-Affäre und Richard Nixons Anteil daran vor.
Archiv: Geschichte

Europa

In der SZ erkennt die ukrainische Schriftstellerin Larisa Denisenko, dass nicht die korrupte Machtelite das Hauptproblem der Ukraine war, sondern das sowjetische Denken: "Die Sowjetunion ist ein weibliches Monster. In den Köpfen existiert eine Nabelschnur in die Vergangenheit, das Monster zieht an dieser Nabelschnur, als wäre sie eine Leine, es gängelt jene, die es für seine Kinder hält. Es sieht nicht ein, dass Kinder, die groß werden, ihr eigenes Leben führen wollen. Die UdSSR in den Köpfen missbraucht die menschliche Nostalgie nach der eigenen Jugend, sie zwingt Menschen, sich nur an das Schöne zu erinnern, und kehrt alles Unsägliche unter den Teppich. Das Prinzip ist einfach: Früher war alles besser, die Zukunft dagegen ist unsicher."

Außerdem: Tim Neshitov lässt sich für die SZ am Telefon von einem Donezker Lehrer die ostukrainische Sicht darstellen.
Archiv: Europa