9punkt - Die Debattenrundschau

Der Plan für die Expressscheidung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.09.2015. Poltico.eu spürt mit Blick auf das Wahlergebnis in Katalonien "das Rumoren einer tektonischen Veränderung". Schon eilen Schweizer Parlamentarier zur Vermittlung herbei. Wladimir Putin bekennt bei CBS seine rückhaltlose Unterstützung für Baschar al-Assad. Die SZ begeht den neutralisierten Tahrir-Platz. Im Guardian erklärt Nick Cohen, warum Britannien eine Women's Equality Party braucht. Heinrich August Winkler sehnt sich in der FAZ nicht nach Harald Welzers "Sehnsuchtsland" Deutschland. Christiane Peitz verteidigt im Tagesspiegel die Kritik als Königsdisziplin des Feuilletons.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.09.2015 finden Sie hier

Europa

Jan Marot fühlt in Politico.eu das "Rumoren einer tektonischen Veränderung", wenn er auf das Wahlergebnis in Katalonien blickt, das eindeutig in Richtung Abspaltung weist. Es ist ein Sieg des Bündnisses Junts Pel Si um Artur Mas, das zusammen mit linken Unabhängigkeitsbefürwortern die absolute Mehrheit im Regionalparlament hat: "Der Plan für die Express-Scheidung lautet: (höchstens) "18 Monate, dann sind wir durch". Sie werden unmittelbar anfangen, eine katalanische Verfassung zu schreiben - "die glorreichsten Seiten der katalanischen Geschichte", versprechen Junts Pel Si-Kandidaten nach dem Sieg." Zwischen Spanien und Katalonien muss vermittelt werden - Schweizer Parlamentarier haben sich schon angeboten, schreibt Marot.

In der FAZ wendet sich Heinrich August Winkler in einem ganzseitigen Artikel unter anderem gegen einen Spiegel-Essay, in dem Harald Welzer (den Winkler vornehmerweise nicht namhaft macht) Deutschland als "Sehnsuchtsland" feiert: "Soll Deutschland sich fortan als moralische Leitnation Europas fühlen und als Großmacht der Werte präsentieren, die den anderen Völkern sagt, was sie tun müssten, um ebenfalls den "Guten" zugerechnet werden zu können? Soll am geläuterten deutschen Wesen nunmehr, wenn schon nicht die Welt, so doch Europa genesen?" Winkler plädiert in seinem Artikel im übrigen für eine Kooperation mit Russland in Syrien.

Für den britischen Historiker Harold James unterminieren die Flüchtlingsströme die "Legitimität der EU", und so schreibt er in der NZZ über die Rolle Deutschlands in Europa, was er auch schon über die Wiedervereinigung, Währungsunion und Finanzkrise geschrieben hat: "Das neue Deutschland wird genauso hochgejubelt - und dämonisiert - wie einst das alte. Seit 1989 sieht sich Deutschland selbst als weltoffener und flexibler, aber auch vermehrt als moralische Instanz. Doch dieser Moralismus, diese deutsche Überheblichkeit, macht es nicht einfacher, Antworten auf globale Probleme zu finden."

Leidenschaftlich setzt sich Nick Cohen in seiner Guardian-Kolumne für die entstehende Women"s Equality Party ein - besonders auch, nachdem er gesehen hat, dass Labour unter Jeremy Corbyn keinen wichtigen Posten für eine Frau hatte, und er zitiert eine der Gründerinnen der Partei, die Reporterin Catherine Mayer: "Britische Frauen brauchen eine eigene Partei, sagte sie. Nur wenn sie ihnen Stimmen wegnimmt, zwingt sie traditionelle Politiker zum Handeln. Wenn Ukip es geschafft hat, die Immigrationspolitik der großen Parteien zu verändern, dann kann eine Gleichheitspartei sie zwingen, Frauenrechte ernstzunehmen."
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Medien

Im Tagesspiegel verteidigt Christiane Peitz die Feuilletonkritik gegen Forderungen nach mehr Debatten oder Gebrauchswerten im Kulturteil. Die Kritik als Kunst der Vermittlung: "Warum? Weil die Künste Komplizen brauchen und Vermittlung. Das setzt Werkkenntnis voraus, den Respekt vor der Arbeit des Künstlers und geht mit der Verpflichtung einher, als Augenzeuge so ehrlich und präzise wie möglich zu berichten, zu argumentieren statt zu agitieren. Daumen rauf, Daumen runter? Meinetwegen, aber der Leser muss begreifen können, warum. "Nein, ein ordentlicher Beruf ist das wirklich nicht, eher eine Art von Leidenschaft", hat der frühere Filmkritiker und heutige Filmemacher Hans Christoph Blumenberg einmal gesagt. Über Filme zu schreiben, heiße, "über eine Liebe zu schreiben, manchmal auch: eine unglückliche Liebe"."

Weiteres: Eva Munz porträtiert in der Welt den Stand-Up-Comedian Trevor Noah, der ab heute Jon Stewarts "Daily Show" moderiert. Korbinian Eisenberger wendet sich in sueddeutsche.de gegen den neuen Dienstleister recherchescout.de, der Journalisten mit "Experten" aus der Wirtschaft zusammenbringen will.

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Kulturpolitik

Laut einem neuen Kommuniqué der Kommunistischen Partei Chinas sind Kunst und Literatur künftig "zur Stärkung chinesischer Werte" verpflichtet, berichtet Thomas Eller in der FAZ. "Chinesischen Geist weiterzutragen, chinesische Werte zu verbreiten und chinesische Kräfte zu vereinigen seien die heiligen Pflichten der Kulturarbeiter, so das Statement."
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Internet

Der Aufstieg des Adblocking, der in den angelsächsischen Ländern heftig diskutiert wird, könnte laut Medienforscher John Naughton im Guardian kleinen Internetmedien die Luft zum Atmen nehmen: "Ein allgegenwärtiges Adblocking könnte das nach wie vor dominierende Geschäftsmodell des "freien" Netzes unterminieren, das den Preis der Freiheit in der Konfrontation des Nutzers mit Anzeigen bestehen lässt. Ohne diese Anzeigen müssen Online-Publisher ein neues Geschäftsmodell finden, oder sie gehen unter. Und so viele Alternativen gibt es bisher nicht." Naughton verweist auch auf einen Artikel Jean-Louis Gassées (unser Resümee), der sich ausführlich mit der Thematik auseinandersetzt.
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Stichwörter: Adblocker, Internetmedien

Gesellschaft

Der Psychologe Ahmad Mansour, der in Berlin mit Jugendlichen arbeitet, warnt in der FAZ vor einer "Generation Allah", die zumindest in Bruchstücken islamistische Ideologien gutheißt: "Mit all jenen, die Geschlechtertrennung befürworten, die Gleichberechtigung ablehnen, die an Verschwörungstheorien glauben, die antisemitische Einstellungen haben, die jeden Zweifel und jedes Hinterfragen des Glaubens ablehnen, mit all jenen, die Andersdenkende abwerten, müssen wir uns auseinandersetzen, auch wenn sie sich nicht explizit zum Islamismus bekennen. Gefährlich sind auch jene schleichenden Prozesse der Radikalisierung, die unsere Gesellschaft unterwandern."
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Politik

Nicht sehr mild kommentiert Richard Herzinger in der Welt die neuste Sympathie Sigmar Gabriels und Angela Merkels für den blutigen Baschar al-Assad: "Die gebetsmühlenartig vorgetragene Forderung, wir müssten "mit Assad reden", dient als Chiffre für die selbstzerstörerische Sehnsucht des Westens, von der Geschichte längst abgeurteilte Tyrannengestalten möchten an unserer Stelle die Welt wieder ins Lot bringen."

Putin hat unterdessen seine Positionen in einem sechzigminütigen CBS-Interview eindeutig klargestellt, schreibt Julian Borger im Guardian: "In dem Interview hat Putin Berichte über Kriegsverbrechen des Assad-Regimes brüsk zurückgewiesen. Der ehemalige KGB-Offizier sagte: "In der professionellen Sprache der Geheimdienste kann ich Ihnen sagen, dass diese Behauptungen eine "aktive Maßnahme" der Assad-Feinde sind. Sie sind antisyrische Propaganda. Wir unterstützen die legitime Regierung Syriens", sagte Putin, "und es gibt keine andere Lösung der syrischen Krise als eine Stärkung der bestehenden Regierungsstrukturen und ihre Unterstützung im Kampf gegen den Terror.""

Paul-Anton Krüger traut in der SZ seinen Augen nicht beim Anblick des neuen Tahrir-Platzes: Wo eben noch Kairos wildes Herz schlug, herrscht jetzt Ordnung. Die Fassaden sind gestrichen, Händler wurden vertrieben und ein Parkleitsystem eingeführt: "Längst hat die Polizei - in Uniform oder mithilfe ziviler Spitzel - Ägyptens Schicksalsort wieder fest im Griff. In Nebenstraßen parken Panzer, am Tahrir liegen die Stacheldrahtsperren parat. Es dauert nur ein paar Minuten, den Platz abzusperren, sobald ein Hauch von Protest in der Luft liegt."

Andreas Zielcke findet in der SZ zwar zu drakonisch und mitunter auch unverhältnismäßig, wie die amerikanische Justiz gegen Banken, die Fifa oder jetzt VW vorgeht, verteidigt sie aber gegen den Vorwurf des Rechtsimperialismus: "Die USA füllen die Lücke, die das unterentwickelte Weltstrafrecht bisher hinterlässt." Ganz abgesehen vom Versagen hiesiger Kontrollorgane.
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