9punkt - Die Debattenrundschau

Alles von der Robbe

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.12.2015. Verschiedene Medien würdigen den syrischen Journalisten Naji Jerf, der in der Türkei erschossen wurde. Im Guardian prangert Can Dündar, Chefredakteur von Cumhuriyet, das türkische Regime an, das ihn ins Gefängnis steckte. In der taz ist die Journalistin Zaina Erhaim empört, dass Assad nun als das kleinere Übel gelten soll. In der NZZ ficht der Fotograf Markus Bühler-Rasom für die Inuit. Die taz verteidigt unangepasste Künstler gegen Förderung. Die FAZ sieht das spanische Wahlergebnis als Quittung für die Korruption im Land.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.12.2015 finden Sie hier

Medien

Megan Specia kommt in Mashable noch einmal auf den Mord an Naji Jerf zurück, der in der Türkei auf offener Straße erschossen wurde - wahrscheinlich wegen seiner Berichte über die Untaten von Daesh. Sie verweist auf eine Dokumentation Jerfs über die IS-Milizen, die auf Youtube leider nur auf arabisch zu sehen ist: "Jerf war Vater zweier kleiner Töchter und hat laut der BBC gerade Asyl in Frankreich bekommen, wohin er diese Woche reisen sollte- Er kam ursprünglich aus der Stadt Salamiyah in Westsyrien, sagt seine Facebook-Seite. Er wurde am Montag beerdigt." Jean-Louis Le Touzet erzählt in Libération einiges über die Umstände der Ermordung, die an Mafia-Szenarien erinnern. Bei den syrischen Oppositionellen in der Türkei herrscht nun schiere Angst.

Can Dündar, Chefredakteur von Cumhuriyet, sitzt im Gefängnis und ist von lebenslanger Haft wegen angeblicher Spionage bedroht, weil seine Zeitung Waffenlieferungen der Türkei nach Syrien offenbarte. Im Guardian stellt Dündar ein paar einfache Fragen: "Kann eine angebliche Bedrohung für die Sicherheit eines Staates Entschuldigung dafür sein, dass Medien einen Maulkorb bekommen? Wenn der Stempel 'Staatsgeheimnis' zu einem Schleier wird, um die schmutzigen Machenschaften der Regierung zu verbergen, ist es dann nicht die Pficht von Journalisten, ihn fortzureißen? Wer bestimmt, was im besten Interesse einer Gesellschaft liegt?"

Die Journalistin Zaina Erhaim koordiniert für das Institute of War and Peace Reporting Bürgerjournalisten in Syrien. Im taz-Interview mit Jan-Niclas Kniewel beklagt sie eine verzerrte Berichterstattung durch westliche Journalisten: "Man hat sich völlig auf den IS fokussiert und ignoriert gänzlich das Hauptproblem und den Hauptgrund für das Leid der Zivilisten: Assad und nun auch Russland. Das Regime ist für die große Mehrheit der zivilen Toten verantwortlich. Das Syrian Network for Human Rights geht von 96 Prozent aus. Und dieser Assad wird nun im Westen als das kleinere Übel, als die bessere Lösung gesehen."
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Ideen

Im FR-Interview mit Martin Hesse sieht der Erkenntnisphilosoph Thomas Grundmann Anzeichen, dass die analytische Philosophie auch in Deutschland Ansehen gewinnt, wo sie lange als gehobene Logelei geschmäht war: "Das alte Dogma, dass Philosophie ausschließlich in einer Analyse der Sprache und logischen Formalisierungen besteht, ist praktisch verschwunden. Und fast kein analytischer Philosoph glaubt heute noch, dass Wittgenstein Recht hatte, als er sagte, dass alle philosophischen Probleme auf sprachlichen Missverständnissen beruhen. Für das Selbstverständnis der analytischen Philosophie heute sind vor allem zwei Dinge wichtig: erstens die Orientierung an Sachfragen und zweitens ihre Wissenschaftlichkeit. Dazu gehört eine gewisse Arbeitsteilung, ein zum Teil hohes Maß an Spezialisierung und die Idee wissenschaftlichen Fortschritts."
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Gesellschaft








Vanishing Thule. Ausstellung im Nordamerika Native Museum in Zürich. Foto: Markus Bühler-Rasom, 2015

Den echten Thule-Spirit erlebt Suzanne Kappeler in der Ausstellung des Fotografen Markus Bühler-Rasom im Zürcher Nonam, der das Leben der Inuit auf Grönland dokumentiert: das tagelange Warten auf einen Eisbären oder einen Narwal. "Die Lebensbedingungen der Inuit werden immer schwieriger, vor allem auch, weil das Eis aufgrund des Klimawandels immer dünner wird. Überdies verfügte die Regierung auf Druck der Europäischen Union ein Exportverbot für Robbenprodukte. Darauf aufmerksam zu machen, ist dem Fotografen ein großes Anliegen; er redet sich richtig ins Feuer, als er die Jagd auf eine grönländische Robbe, die bis zu ihrem Tod in Freiheit gelebt hat, mit den massenweise geschlachteten, wenige Monate alten Kälbchen in europäischen Mastbetrieben in Beziehung setzt. Alles von der Robbe werde verwertet und gerecht verteilt, erzählt er."

Apropos Essen: Superfoods sind gerade sehr angesagt, in der SZ hält Franz Kotteder sie vor allem für Glücksmacher der Nahrungsmittelindustrie: "Chia-Samen aus Mexiko soll die Verdauung fördern, Goji-Beeren aus China stärken das Immunsystem, heißt es. Und seit die amerikanische Talkmasterin Oprah Winfrey in ihrer Show die Acai-Beere als Schlankmacherin über den grünen Klee lobte, mischen Models sie gerne unters morgendliche Müsli. Die führende Website in den USA für Superfood hat sogar Tabletten aus getrockneten Ameisen oder Reh-Plazenta im Angebot."
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Urheberrecht

Nicht Schmusebedürfnis, sondern reinen Realismus erkennt Joachim Güntner in der NZZ in den Solidaritätsbekundungen der Autoren für die Verlage, wenn es um das neue Urheberrecht geht: "Eine Klausel zum frühen Ausstieg aus dem Vertrag würde die Risikobereitschaft der Verlage schmälern. Was bliebe von der Hoffnung, dass sich die Produktionskosten eines Titels langfristig einspielen? Warum noch viel Geld in Lektorat, Herstellung und Marketing eines Werkes stecken, wenn das Verlagsrecht daran schon nach fünf Jahren flöten gehen kann? Auch werden sich Übersetzungsrechte, die unter einer solchen Befristung stehen, weit schwerer ins Ausland verkaufen lassen. Den Autoren mangelt es durchaus nicht an Geschäftssinn. Sie sehen schlicht, wo sich ihre Interessen mit denen der Verleger decken."

Der Turmsegler sieht das in seinem Blog etwas anders: "Bislang ist lediglich vorgesehen, dass man seine Rechte zurück verlangen kann, wenn der Verwerter diese nicht angemessen verwertet, wenn also ein Buch bspw. seit über einem Jahr nicht mehr lieferbar ist, der Verlag eine Neuauflage aber ablehnt. Die Initiatoren des offenen Briefes und auch der Beck-Cheflektor Detlef Felken [mehr hier] sehen in dieser Klausel eine Bedrohung für die kleinen und mittelständischen Verlage und beschwören wahre Untergangsszenarien herauf. Ich meine, die Argumentation ist überzogen. Unterzeichnet habe ich den Brief dennoch, denn als Liberaler - ja speit nur auf mich! - bin ich der Meinung, dass solche Fragen in die Vertragshoheit zwischen Urheber und Verwerter gehören und den Staat gar nichts angehen. Ich bin kein schutzbedürftiger Minderjähriger."
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Kulturmarkt

In der taz kann Brigitte Werneburg die Klagen über den hypertrophen Kunstmarkt nicht mehr hören. Wie wäre es mal wieder mit ein bisschen Institutionenkritik? "Just von diesen Kunst- und Kulturstiftungen, Forschungseinrichtungen, Thinktanks, Kunst- und Kulturgremien mit ihren Stipendien und vielfältigen Projektförderungen und nicht vom Kunstmarkt, am allerwenigsten von der Milliardärskunst, aber droht der widerständigen Kunst und der unangepassten Künstlerin Gefahr. Denn mit ihren ­Förderungs-, Beratungs- und Professionalisierungsmaßnamen regulieren, steuern und greifen diese Einrichtungen, wie etwa die Bundeskulturstiftung oder das Goethe-Institut, um nur zwei wichtige Institutionen zu nennen, weit mehr in die künstlerische Autonomie der Akteure ein, als der internationale Kunstmarkt..."
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Geschichte

In der taz hält Klaus Hillenbrand Befürchtungen, die bevorstehende kritische Edition von Hitlers "Mein Kampf" könnte toxische Wirkung entfalten, für abwegig: "In diese Richtung will auch Christian Hartmann sein Projekt verstanden wissen: 'Wir sind eine Art Kampfmittelräumdienst, der Relikte aus der Nazi-Zeit unschädlich macht', sagte er."
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Stichwörter: Hitler, Adolf, Mein Kampf

Europa

Die EU sollte das spanische Wahlergebnis nicht voreilig kritisieren, auch wenn Spanien zur Zeit blockiert erscheint, meint Paul Ingendaay in der FAZ, der die Wahl auch als Folge der Korruption im Land sieht: "Die Versäumnisse des Ancien Régime haben den Gegner nicht nur stark gemacht, sondern erst erschaffen. So gesehen, erscheint die Auflösung des alten Zweiparteiensystems wie eine zwangsläufige Entwicklung. Beide, PP und PSOE, haben schon seit langem Erstarrung mit Stabilität verwechselt." Ingendaay verweist auch auf einen Artikel Mario Vargas Llosas in El Pais, der eine große Koalition der demokratischen Kräfte fordert.

Eindringlich empfiehlt Lena Bopp in der FAZ die Ausstellung "Frontières" im Pariser Museum für die Geschichte der Einwanderung: "Gleichsam unsichtbar, zumindest für weite Teile der europäischen Öffentlichkeit, sind .. all jene, denen es nicht einmal gelingt, die juristischen Grenzen zu überwinden und die folglich in der Illegalität verharren. Vor allem mit Fotos, aber auch mit der aufwendigen Videoinstallation von Martine Derain und Dalila Mahjoub zeigt die Schau, welche Zwischenreiche sich in solchen Fällen bilden."

In der SZ erzählt der Bürgermeister von Hainichen, Dieter Greysinger, dass sein sächsisches Städtchen eigentlich ganz gut mit Flüchtlingen klarkommt. Den Erfolg von Pegida erklärt er sich so: "Wenn der Sachse sieht, dass etwas halbwegs läuft, dann bleibt er am liebsten dabei. Wann wird hier denn mal ein Bürgermeister abgewählt?"
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