9punkt - Die Debattenrundschau

Per se nicht unbedingt ein Vergehen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.07.2017. In der NZZ beklagt Kulturtheoretiker Jan Söffner die Verflachung der Theorie in der Kultur der Universität. Bei Vice erzählt die afghanische Rapperin Sonita Alizadeh, wie ihre Kunst das Leben verändert. In politico.eu hofft ein Brexit-Gegner auf eine späte und zerknirschte Einsicht der Brexit-Anhänger. In Zeit online protestiert Jan Philipp Albrecht  gegen die anlasslose und zeitlich kaum befristete Dokumentation unserer Reisedaten. Und alle Medien staunen über die Trumps und Russland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.07.2017 finden Sie hier

Europa

Matt Kelly hofft in politico.eu, dass sich die Brexit-Gegner am Ende doch noch durchsetzen und den Brexit rückgängig machen. Bei der Gegenseite erkennt er Zeichen der Zermürbung. Der Grund: "Die Mahnungen all dieser Wirtschaftsexperten, die wissen, worüber sie reden und ihre verdammten Fakten in die Debatte werfen, diese frechen EU-Repräsentanten, denen die Perspektive eines die EU verlassenden Britannien komplett am Arsch vorbeigehen zu scheint, die Inkompetenz der von uns gewählten Repräsentanten. Realität setzt sich endlich, fast zu spät, noch durch. Nie zuvor in meiner dreißigjährigen journalistischen Karriere hat sich eine politische Idee derart mit den Fakten verkracht, aber die Leser sind nicht so dumm, wie einige Redakteure es gern hätten."
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Stichwörter: Brexit, Brexit-Gegner

Überwachung

Warum will die EU Überwachungsmaßnahmen einführen, die jene der - viel kritisierten - Amerikaner noch toppen, fragt der Grünen-Europaabgeordneter Jan Philipp Albrecht auf Zeit online und erklärt, was uns am heutigen Mittwoch bevorsteht: "Eine Mehrheit aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen wird im Innen- und Justizausschuss eine Einigung mit dem Ministerrat über eine neue Regelung durchwinken, die alle bisherigen in den Schatten stellt: In einem milliardenteuren Reisedatensystem sollen zukünftig bei jeder Ein- und Ausreise in die EU die Daten von allen Nicht-EU-Bürgern festgehalten und für vier Jahre gespeichert werden, darunter sogar Daten über Ausbildung und Beruf. Der Mehrwert des Systems aber bleibt völlig unklar."

Dass Daten, die einmal gesammelt sind, in der Regel nicht wieder gelöscht werden - Löschungspflicht hin oder her -  lernt man aus einer Überprüfung der Funkzellenabfrage (Handyortung), mit der in den vergangenen Jahren "Millionen unbeteiligter Bürgern erfasst und deren Daten in den Datenbanken von Polizei und Staatsanwaltschaft gespeichert" wurden, berichtet Christiane Schulzki-Haddouti auf Golem. "Zwar verpflichtet das Gesetz die Staatsanwaltschaften dazu, die Betroffenen über die Erfassung ihrer Mobilfunkanschlüsse im Umfeld der Tatzeit in der Funkzelle zu benachrichtigen. In der Realität zeigt sich aber, dass das wohl eher selten passiert."
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Ideen

Die Leute lesen keine Theoriebücher mehr. Aber das liegt weder an den potentiellen Lesern noch am Internet, meint in der NZZ Jan Söffner, Professor für Kulturtheorie und -analyse in Friedrichshafen, sondern an den Autoren, die nur noch für den akademischen Betrieb schreiben wollen. Söffner regt an, diese Haltung zu überdenken: "In der Zeit der Bücher war noch ein Schreiben der Ankündigung eines neuen Denkens, war ein Denken des Kommenden möglich - ein Schreiben des beinahe Unverständlichen, das den wenigen Verstehenden die Gelegenheit zu dem Bewusstsein gab, zu einer Avantgarde des Denkens zu gehören. Bücher, die ihre wahre Leserschaft erst in der Zukunft finden sollten, waren damals verlockend - heute sind sie unmöglich. Sie müssen stattdessen im Speed-Dating des intellektuellen Netzes, zu dessen Teil sie geworden sind, schon an der Oberfläche zugänglich sein, müssen zum Denken verführen können. So zu schreiben, ist nicht leicht, wenn man gleichzeitig forschen und seriös sein will. Aber was ist die Alternative?"

Multikulturalismus, Integration, Assimilation - all diese Begriffe verdecken einen eklatanten Widerspruch, meint in der NZZ der Luzerner Philosoph Martin Hartmann (wohl in Antwort auf Ruud Koopmans): Ohne Multikulturalismus gibt es keine Integration. "Die Forderung nach Integration ist halbierter Multikulturalismus. Gefordert wird die Integration in eine kulturelle Gemeinschaft, von deren Wert die Integrationisten überzeugt sind. 'Gekürzt' ist diese Idee aber eben um das Faktum des kulturellen Pluralismus, der die Gegenwart westlicher Einwanderungsgesellschaften prägt. In der Forderung nach Anerkennung dieses Pluralismus liegt der bis heute anstößige Kern des Multikulturalismus, jedenfalls für Gesellschaften, die noch immer mit diesem Faktum hadern. Dabei ist diese Forderung nie mit der weiteren Forderung einhergegangen, auch solche kulturellen Praktiken zu akzeptieren, die mit rechtsstaatlichen Prinzipien brechen."
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Politik

Trump und Russland: Die New York Times zitiert aus E-Mails an Trump-Sohn Donald Junior, die deutlicher nicht sein könnten. Ein russischer Geschäftsfreund des Seniors bietet im Juni 2016 angeblich schmutzige Informationen über Hillary Clinton. Und Donald junior antwortet: "I love it, besonders etwas später im Sommer." Johannes Kuhn rät in der SZ zu politischer Vorsicht in der Interpretation dieser neuen Fakten: "Nixons Watergate begann mit einem Einbruch; das Kern-Verbrechen im Trump-Russland-Komplex ist noch nicht identifiziert, vielleicht existiert es im strafrechtlichen Sinne gar nicht. Selbst eine 'Geheimabsprache' wäre zwar eine politische Ungeheuerlichkeit, aber per se nicht unbedingt ein Vergehen." Ryan Lizza meint im New Yorker dennoch, dass diese Mails "die Russland-Geschichte von Grund auf verändert" haben.

Nachrichten aus dem Umfeld der Republikaner sollten einen nicht mehr überraschen, aber das ist doch stark: Laut einer Umfrage des Pew Centers glauben 58 Prozent der konservativen Amerikaner, Colleges und Universitäten hätten einen schlechten Einfluss auf das Land. Nur 36 Prozent der Wähler der Republikaner unterstützten eine höhere Bildung, meldet Cory Doctorow auf BoingBoing.

Alexis Chemblette unterhält sich für Vice mit der Rapperin Sonita Alizadeh und erzählt, wie sie in die USA kam: Ursprünglich hatten ihre Eltern - in den Iran geflüchtete Afghanen - sie an einen Ehemann verkaufen wollen: "Angesichts einer Entscheidung, die Alizadeh zu einem Leben in Unterdrückung verdammt und ihre künstlerischen Ambitionen zunichte gemacht hätte, schrieb sie den Rap-Song 'Daughters for Sale', in dem sie die archaische Tradition der Zwangsheirat anprangert. Die iranische Dokumentarfilmerin Rokhsareh Ghaem Maghami zahlte ihrer Familie Geld, um die Hochzeit hinauszuzögern, und drehte ein Musikvideo mit ihr. Daraufhin wurde die Non-Profit-Organisation The Strongheart Group auf sie aufmerksam und bot ihr ein Stipendium für eine Internatsschule in Utah an." Alizadeh ist heute überzeugt: "Meine Musik und meine Geschichte haben Freundinnen zu Hause ermutigt, ihren Familien die Stirn zu bieten und der Zwangsehe zu entkommen."


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Internet

"In den letzten zehn Jahren hat Google (äh, Alphabet) Tausende Dollar an Universitätsleute bezahlt, die an Themen mit direktem Bezug zu den Geschäften der Firma forschten", berichtet Madison Malone Kircher mit Bezug auf nicht online stehende Wall-Street-Journal-Artikel (hier) im NYMag. "Die Beträge lagen zwischen 5.000 und 40.000 Dollar. Die Finanhzilfen des Konzerns wurden in den Texten oft nicht erwähnt, berichtet das Journals ebenfalls." Google hat in einem Blogpost auf die Vorwürfe geantwortet.
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Religion

Sabine am Orde unterhält sich für die taz mit dem Islamwissenschaftler Michael Kiefer, der die Whatsapp-Chats von radikalisierten Muslimen untersucht hat und herausfand, dass sie "nichts mit dem Islam" zu tun haben: "Man denkt ja, wenn eine Jugendgruppe sich selbst als dschihadistisch versteht, dass sie ideologisch gerüstet ist. Aber bei einigen Gruppenmitgliedern waren so gut wie gar keine religiösen Kenntnisse vorhanden. Einer hatte gar keinen Koran, ein anderer wusste nicht so recht, wie man betet oder welche Kleidung man dazu anziehen muss. Ein Dschihadist ohne Koran, eigentlich irre. Eine andere Überraschung war, wie ungemein zielstrebig diese Gruppe ihre Pläne verfolgt hat."

Oliver Jungen verfolgte für die FAZ in Münster einen Vortrag des Ethnologen Thomas Hauschild über die Persistenz des Religiösen: "Auf wenig Verständnis traf es bei den anwesenden Geisteswissenschaftlern jedoch, das Religiöse als Geisterseherei zu definieren und durch die Hirnstruktur zu erklären".
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Medien

Auf einen gewissen Widerspruch im Leben der Malu Dreyer weist Michael Hanfeld in der FAZ hin: "Als Ministerpräsidentin (von Rheinland-Pfalz, d.Red.) sollte ihr daran gelegen sein, dass die Arbeitsgruppe der Bundesländer, die ARD und ZDF eine schlankere Struktur verpassen soll, damit die Sender mit acht Milliarden Euro Beitragsgeld pro Jahr auskommen, Erfolg hat. Als Verwaltungsratschefin des ZDF hingegen hat Malu Dreyer im Sinn, dass das für 'ihren' Sender so glimpflich wie möglich abgeht." Außerdem will Dreyer, dass die Sender ins Internet expandieren und mit ihren zwangsfinanzierten Kulturprogrammen dem Perlentaucher Konkurrenz machen, und ein bisschen auch der FAZ.
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