9punkt - Die Debattenrundschau

Was im Titel des Papiers hinterlegt ist

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.08.2017. Die Welt hat herausgefunden, was die Briten vom Brexit wirklich wünschen: dass alles beim Alten bleibt. Überall in Europa wachsen Betonklötze aus dem Boden. Auch Metallgitter werden zu Betonklötzen, seufzt Le Monde. In der NZZ verbindet Slavoj Zizek sein Hirn mit einem Supercomputer. Weiter gestritten wird über die Frage, wann und wie sehr und wie automatisch die Öffentlich-Rechtlichen ihre Gebühren erhöhen dürfen. Und ob es überhaupt Gebühren sind.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.08.2017 finden Sie hier

Europa

Eva Lapido hat für die Welt das neueste Positionspapier aus London zum Brexit gelesen und reibt sich verwundert die Augen: "Endlich also erfährt die Welt, wie sich die britische Regierung das Leben nach dem Brexit vorstellt. Und siehe da: Es soll alles beim Alten bleiben. Die Wunschzettel lesen sich wie ein Offenbarungseid - oder, anders ausgedrückt, wie ein einziges atemloses Hoch auf den Status quo. Eng und enger soll das Verhältnis zur EU werden, der Handel soll so frei wie möglich bleiben, die Grenzen unsichtbar. Man könnte meinen, dass es sich eher um ein Beitrittsgesuch handelt als um ein Austrittsgesuch."

Im Evening Standard fragt der frühere Diplomat John Kerr, warum Großbritannien in der internationalen Politk immer weniger zu sagen hat, wo es sich doch von der EU endlich befreit hat.

Überall in Europa wachsen Betonklötze aus dem Boden, schreibt Olivier Razemon im Transports-Blog bei Le Monde: Sie "werden zu einem vertrauten Anblick. So wie jene Metallabsperrungen, die einen Sicherheitsbereich abstecken sollen und deren zuerst befristete Funktion sich verstetigt. So ist das in Frankreich vor Präfekturen oder Schulen oder am Carrousel du Louvre in Paris. Sie erinnern an jene Gitter, die das Parken auf Fußwegen verhindern sollen. Und die demnächst durch Betonklötze ersetzt werden..."
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Stichwörter: Brexit, Louvre, Lapido, Eva

Politik

Es reicht nicht, die Dschihadisten vom IS zu bekämpfen, schreibt Zuhdi Jasser in einem viel retweeteten Artikel in der Asian Times nach Barcelona: "Gewöhnliche Muslime, unsere Nachbarn, werden mit Radikalisierungsbotschaften und subtileren Formen islamistischer Ideologie eingedeckt und sind Opfer der 'Wir-gegen-sie'-Mentalität der muslimischen Gemeinden. Viele wohlmeinende Menschen, die Muslimen durch schwierige Zeiten helfen wollen, unterstützten falsche Gruppen, weil sie glauben, dass die bloße Verurteilung von Gewalt schon ausreicht."
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Stichwörter: Islamismus, Barcelona, Jasss

Gesellschaft

Der Rabbiner Daniel Alter prangert im Interview mit Julia Haak von der Berliner Zeitung Antisemitismus an den Schulen an und wendet sich gegen Relativierungen von links: "Judenhass ist Rassismus. Ungleichwertigkeitsideologien haben keine rationale Grundlage. Wenn man sagt, der Hass auf Juden ist begründet durch den Nah-Ost-Konflikt, hat man sofort für Judenhass eine logische Begründung. Das ist verheerend. Damit wird auch die Idee der Kollektivschuld akzeptiert. Ich dachte, das wäre überwunden."

In der SZ bemerkt Thomas Steinfeld, dass sich die Bedeutung des Wohneigentums geändert hat. Aus dem Eigenheim ist Kapital geworden: "Die Vorstellung, mit einer Investition in eine Immobilie binde man das Geld an etwas Stabiles und Notwendiges, entpuppt sich auf diese Weise als eine Schimäre der finanziellen Spekulation. Man mag zwar darin wohnen können, doch residiert man tatsächlich in einem Derivat der Finanzwirtschaft."
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Wissenschaft

In der Welt meldet Johnny Erling, dass die Cambridge University Press ihre Zeitschrift China Quarterly nun doch nicht für den chinesischen Markt zensieren wird. Nach weltweiten Protesten bekenne sich der Verlag jetzt wieder zur akademischen Freiheit.
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Ideen

Slavoj Zizek überlegt in der NZZ, was auf die Menschheit zukommt, wenn die Supercomputer demnächst unsere Hirne abscannen werden und für uns die Entscheidungen übernehmen. Hilft das gegen enttäuschte Liebe? Schützt es vor Demagogen? Fragen über Fragen: "Könnten Demokratie und freier Markt die Erfindung einer solchen Maschine überleben? Würden dann Demokratie und Markt zu Institutionen, die sich algorithmisch steuern liessen? Zweitens: Wenn sich Menschen mit Maschinen kurzschließen, dann besteht die Gefahr, dass Menschen ihren Wert verlieren. Bewusstsein und Verstand, mithin die Fähigkeit, zu fühlen und mitzufühlen, und die Fähigkeit zu entscheiden, entkoppeln sich. Auch die Menschenrechte stehen also auf dem Spiel. Wenn diese Entwicklung den rein biologischen Homo sapiens obsolet werden lässt, was kommt danach?"

In der FAZ gibt Sibylle Anderl allerdings Entwarnung: Selbstlernende Systeme oder intelligente Algorithmen können Korrelationen erkennen, aber keine Kausalitäten.

Ilija Trojanow wendet sich in seiner taz-Kolumne gegen Identitätspolitik (ob nur von recht oder auch von links lässt er offen): "Gegen solche Deformationen gibt es ein ganz einfaches Heilmittel: die Allgemeinen Menschenrechte. Doch wer diese heutzutage ernst nimmt, wird verunglimpft, als Gutmensch."
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Medien

Über die Frage eine etwaigen automatischen Gebührenerhöhung ist es zu einem Gekabbel zwischen FAZ und und der Medienredaktion des Deutschlandfunk gekommen. Die FAS meldete zunächst, dass die Sender angeblich bis 2029 eine automatische Gebührenerhöhung wollten. Die Sender dementierten. Michael Hanfeld antwortete in der FAZ. Und beim Dlf schrieb Brigitte Baetz patzig, "Natürlich haben wir mehr Geld als ihr", und man sei  von der Verfassung so gewünscht, wolle sich aber nicht als Staatsfunk bezeichnen lassen. In der taz schlägt sich René Martens voll und ganz auf die Seite der Sender: "Es ist allemal verständlich, dass Baetz genug hat von der Frankfurter Plattheit. Denn tatsächlich findet man die von ihr aufgegriffenen propagandistischen Schlagworte immer wieder in den beiden Zeitungen. 'Trotz großer Anstrengungen und jährlich 8 Milliarden (!) Euro wird das Publikum des ersten und des zweiten Staatssenders immer älter', hieß es Anfang Juli... Sogar das Wörtchen 'Zwangsgebühren' mögen sich die Frankfurter nicht verkneifen - obwohl, erstens, Gebühren grundsätzlich nicht freiwillig sind, und, zweitens, der öffentlich-rechtliche Rundfunk seit Anfang 2014 gar nicht mehr über Gebühren finanziert wird, sondern über den Rundfunkbeitrag."

Die Modellrechnung der Sender zur Gebührenerhöhung sei wirklich nur als Modellrechnung gemeint, berichtet Hans Hoff in der SZ, und sie stehe schon seit 2016 bei ARD.de im Netz: "Dort steht ein Papier mit dem sperrigen Namen 'Auftrag und Strukturoptimierung der öffentlich-rechtlichen Anstalten in Zeiten der Digitalisierung der Medien' (hier als pdf-Dokument). Das Papier haben die Anstalten entworfen als Vorlage für jene Arbeitsgemeinschaft, die sich im Auftrag der Bundesländer um all das kümmern soll, was im Titel des Papiers hinterlegt ist."
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