9punkt - Die Debattenrundschau

Was wollen die also? Diese Dutschkes?!

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2018. Le Monde befürchtet, dass Emmanuel Macron dem Laizismus in Frankreich den Rücken zudreht. In Ungarn wird mit Opfermythen, in der Türkei mit Osmanenschinken der Nationalismus geschürt, berichten SZ und FAZ. Die Ukraine setzt indes auf sprachliche Vereinheitlichung in Schulen, meldet die taz. In der NZZ erklärt der Philosoph Reinhard K. Sprenger, wie mit Moral Interessenpolitik gemacht wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.04.2018 finden Sie hier

Europa

Frankreich ist eines der letzten Länder, in denen es noch so etwas wie eine "säkulare Linke" gibt. Der Laizismus, die rigorose Trennung von Staat und Religion, wird zumindest gegenüber der katholischen Kirche als Grundpfeiler der Republik verteidigt. Beim Islam ist die Linke zumindest gespalten. Auch in Frankreich gilt es vielfach als "links", das Kopftuch zu verteidigen und ein konservatives Patriarchat als kulturelle Differenz zu verteidigen. Nun versprach Emmanuel Macron in einer Rede vor katholischen Bischöfen, "das Band zwischen Kirche und Staat" zu reparieren, ein Satz, der vielen Linken in Frankreich sauer aufstößt, berichtet Cécile Chambraud in Le Monde: "Der Präsident der Republik hat seine bereits vor Repräsentanten anderer Kulte vorgebrachte Vision der Laizität bekräftigt. Entschlossen dreht sie jenen, die meinen, dass der Laizismus die Religion so weit als möglich von der Politik entfernt halten muss, den Rücken zu. 'Sinn des Laizismus ist es nach meiner Auffassung gewiss nicht, das Geistliche im Namen des Zeitlichen zu verleugnen, noch den Bereich des Heiligen, der so viele unsere Mitbürger nährt, zu entwurzeln', sagte er. 'Ich bin weder Erfinder noch Verfechter einer Staatsreligion, die die Transzendenz durch ein republikanische Credo ersetzt.'"

Der große Wahlerfolg von Viktor Orban ist vor allem in dessen Taktik begründet, auch rhetorisch immer wieder einen tief sitzenden ungarischen Opfermythos und antisemitische Stereotype zu bedienen, sagt die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky im SZ-Gespräch mit Alex Rühle. Orban berufe sich auf die "mythologische Konstruktion einer reinen, überlegenen Rasse", setze dem europäischen Individualitätskonzept die "ethnisch homogene Gemeinschaft der Magyaren" entgegen und instrumentalisiere auch Sowjetzeit und EU-Jahre für sein Opfernarrativ: "Vor allem aber werden die beiden Epochen sprachlich parallelisiert. Die unterdrückerische Sowjetmacht wird rhetorisch in eins gesetzt mit der EU. Auf die 'Sowjetische Union' folgte die 'Europäische Union', auf die 'Moskowiten' die 'Brüsseliten', die einen wie die anderen tun den Magyaren unrecht."

Absurd liest sich auch, was Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne über die gleichgeschalteten Medien in der Türkei schreibt. Erdogan-Auftritte in Fernsehserien, Helden-Tiraden und "historische Osmanenschinken" werden gesendet, um den Nationalismus zu stärken - mit Erfolg, so Mumay: "An den Sendetagen werden begeistert Bilder in den Netzwerken geteilt, auf denen Fans mit Schild und Schwert gerüstet beim Serienschauen zu sehen sind. Bei den Kampfszenen türkischer Soldaten ertönen nicht nur auf dem Schlachtfeld 'Allah Allah'-Rufe, sondern auch in den Wohnzimmern. Wird gegen ein christliches Heer gekämpft (was meist der Fall ist), brüllen die Zuschauer: 'Schlagt den Ungläubigen den Kopf ab!'"

Ziemlich ungehalten reagiert ebenfalls in der SZ der katalanische Schriftsteller Javier Cercas auf Deutsche, die Carles Puigdemont verteidigen, dem er einen "unverfrorenen" Angriff auf den Rechtsstaat vorwirft: "Es sollte genügen, auf eine Studie im Auftrag des Economist zu verweisen, wonach es auf der Welt nur 19 vollwertige Demokratien gibt. Zu diesen gehört Spanien. Sollte man jemanden etwa nicht verurteilen, der sich nach Ansicht eines Obersten Richters systematisch und sehenden Auges über den Rechtsstaat hinweggesetzt hat?"

Im Interview mit Jutta Sommerbauer (Tagesspiegel) erklärt der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan, der mit "Internat" gerade einen Roman zum Krieg im Donbass veröffentlicht hat, weshalb er nicht von einem Bürgerkrieg in der Ukraine sprechen möchte: "Es ist ein Krieg Russlands gegen die Ukraine: Russland hat teils anti-ukrainische Einstellungen in der Bevölkerung benutzt, um den Krieg zu entfachen. Die Menschen auf der anderen Seite sind zu Geiseln geworden. Die Separatisten sind Terroristen, denn sie halten eine ganze Region in Geiselhaft."

Die Ukraine betreibt eine Politik der sprachlichen Vereinheitlichung. An Schulen soll möglichst nur noch auf Ukrainisch gelehrt werden. Der Schlag gegen das Russische trifft auch die ungarische Minderheit in Transkarpatien, die wohl bald nicht mehr auf Ungarisch unterrichten darf, berichtet Bernhard Clasen in der taz: "Zwar soll es Ausnahmen geben, aber an der ungarischen Schule glaubt niemand daran, dass der Unterricht wie bisher weitergeht."
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Ideen

Echte Moral entwickelt sich mit der Zeit von selbst, schreibt Philosoph Reinhard K. Sprenger in der NZZ. Die derzeit allgegenwärtige Moralisierung, die zum Beispiel im Namen der Diversity, Nachhaltigkeit und Solidarität um sich greife, sei dagegen nur ein Mittel, den Moralisierenden gesellschaftlichen Einfluss zu verschaffen: "Sie gießen ihre Interessen einfach in 'Werte' um. Dadurch verschleiern sie persönliche Vorteile und veredeln ihre Sozial-Imperative mit dem Glanz allgemeiner Zustimmung. Das immunisiert. Interessenkonflikte ließen sich ja aufklären und ausgleichen; Wertekonflikte kann man nur konstatieren. Will man sie lösen, muss man den anderen eliminieren. Das erklärt die Aggressivität der Moralisierer."
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Gesellschaft

Gaby Mayr führt in der taz ein Interview mit einem militanten Abtreibungsgegner, der Ärztinnen wegen des in Paragraf 219a formulierten Informationsverbots verklagt: "Wenn ich Zeit habe, am Wochenende meistens, suche ich in meinem Arbeitszimmer am Computer über Google nach Schwangerschaftsabbrüchen und danach, wo man die vornehmen könnte. Ich überlege mir: Wo würden schwangere Frauen im Internet suchen? Also auf Seiten von Arztpraxen. Ich gucke dann, ob ich auf Seiten stoße, auf denen angegeben ist, dass Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden. Wenn das der Fall ist, dann erstatte ich online Strafanzeige."

Weiteres: Nur zwei schlichte Sätze umfasst die Erklärung 2018 - aber Lit-Verleger Wilhelm Hopf, der nach viel Kritik seiner Autoren seine Unterschrift zurückzog, will sie nicht gelesen haben, meldet Gerrit Bartels im Tagesspiegel und zitiert: "Ich hatte ohne Prüfung der Initiatorin (...) Vera Lengsfeld vertraut und nicht genügend wahrgenommen, dass die Erklärung zu vereinfachenden populistischen Folgerungen verleitet. Das hätte nicht passieren dürfen."
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Internet

Gestern hat sich Mark Zuckerberg vom amerikanischen Kongress befragen lassen. David Smith resümiert den vielbeachteten Auftritt im Guardian. Der entscheidende kleine Satz kommt am Ende des Artikels. Er bezieht sich auf eine Frage des republikanischen Senators Lindsey Graham: "Gefragt, ob Facebook Regulierung akzeptieren würde, antwortete der CEO mit 'Wenn es die richtige Regulierung ist, dann ja.' Graham: 'Arbeiten Sie mit uns zusammen?' Zuckerberg: 'Absolut.'" In der Zeit schreibt Julian Heißler über die Befragung, die Bloomberg in voller Länge auf Youtube eingestellt hat:



Facebook ist natürlich auch jetzt nicht am Ende, winkt im Welt-Interview mit Wieland Freund der Internet-Kritiker Jarett Kobek ab, denn Menschen vergessen und "Menschen machen verrückte Sachen. Das eigentlich Teuflische an Unternehmen wie Facebook ist, dass sie sich rund um sehr primitive Aspekte der menschlichen Natur organisiert haben und einen Weg gefunden haben, sie zu monetarisieren. Nehmen Sie Instagram, eine Facebook-Tochter. Instagrams Algorithmus erkennt unsichere Personen. Wenn eine unsichere Person ein Selfie postet, werden die Likes nicht auf einmal ausgespielt. Man sieht nicht alle sofort, sondern erst nach und nach über einen gewissen Zeitraum - damit man wiederkommt."

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Geschichte

Fünfzig Jahre nach den Schüssen auf Rudi Dutschke erinnert sich Ilja Richter in der taz an den berühmten 68er, der zufällig im gleichen Haus wohnte wie seine Familie: "Dieser Dutschke war meinem Vater gewiss verhasst - als Utopist. Denn die hätten ja schon als Partisanen im Spanienkrieg 1936 gegen Franco versagt, sagte Papa immer. Und überhaupt: Jetzt sei Friede! Die Arbeiter seien heutzutage satt und hätten ihr gutes Auskommen. 'Was wollen die also? Diese Dutschkes?!' Als marxistisch geschulter Proletarier und Untergrundkämpfer, der fast zehn Jahre im Zuchthaus und KZ gesessen hatte, waren ihm diese akademisch geprägten Reden Dutschkes ein Gräuel."
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