9punkt - Die Debattenrundschau

Gefangene ihrer eigenen Logik

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2018. In der SZ beschreibt Karl-Markus Gauß, wie die FPÖ in Österreich die Posten kapert und warum es der Partei so leicht gemacht wird. In der Welt erinnert Wolf Lepenies an den Reaktionär Charles Maurras. In der NZZ erklärt René Scheu, dass der Reaktionär heute der Revolutionär ist. Und im New York Magazine fragt Andrew Sullivan: ist die liberale Demokratie der Endpunkt der menschlichen Geschichte? Die Antwort ist nein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.06.2018 finden Sie hier

Europa

Die FPÖ erhält an immer mehr Stellen im Staat Posten, unter anderem beim Österreichischen Rundfunk. Erleichtert wird das durch ein System der Postenvergabe, das in Österreich (und wieviel anders ist Deutschland da?) schon ewig existiert, schreibt Karl-Markus Gauß in der SZ: "Die 'Proporz' genannte Aufteilung des Staates war ein zentrales Element der sogenannten Realverfassung Österreichs; denn natürlich stand in keinem amtlichen Dokument, dass es das Recht der beiden Großparteien wäre, sich das Land in einträchtiger Feindschaft aufzuteilen. Dass nun auch die FPÖ ihren Beuteanteil an der teuren Heimat haben möchte, braucht weder zu verwundern noch jene zu empören, die es bisher für ein Erbrecht ihrer Partei hielten, die eigenen Leute zu Direktoren, Präsidenten, Managern der staatlichen und staatsnahen Unternehmen zu machen."

Karen Krüger befragt den Schriftsteller und Historiker Sergio Romano zur neuen italienischen Koalition. Auf die Frage, warum die Chefs der Fünf Sterne und der Lega Nord Forderungen an die EU stellen, von denen klar ist, dass sie nicht erfüllt werden können, antwortet er: "Salvini und Di Maio haben keinerlei Regierungserfahrung. Sie sind trunken von den Stimmen, die das Volk ihnen gegeben hat und von der neuen Macht. Sie fürchten sicherlich den Vorwurf, Wahlversprechen zu brechen, sollten sie kooperativer werden oder ihren Stil ändern. Sie sind Gefangene ihrer eigenen Logik."
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Internet

Der Publizist Enno Park hatte neulich in seinem Blog Websites aufgelistet, die aus Angst vor der DSGVO abgeschaltet wurden (unser Resümee). Das Problem mit dem Gesetz ist noch längst nicht ausgestanden, schreibt er heute in der taz: "Selbst Juristen debattieren weiterhin über die Details der neuen Verordnung. Die Rechtsunsicherheit dürfte erst in mehreren Jahren durch Gerichtsurteile einigermaßen behoben sein, wie die Bundesdatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff selbst anmerkte. Die 99 Artikel der DSGVO kommen mit einem Apparat von 173 sogenannten Erwägungsgründen, die versuchen zu erklären, wie das Gesetz gemeint ist. Hinzu kommt das reformierte Bundesdatenschutzgesetz, 16 unterschiedliche Landesdatenschutzgesetze und in ein bis zwei Jahren wohl noch die E-Privacy-Verordnung. Dabei ist auch das Wechselspiel mit anderen Gesetzen zu beachten, zwischen denen abgewogen werden muss, wenn sie der DSGVO widersprechen."

Warum verhindert die Bundesregierung eine Evaluierung des gefloppten Leistungsschutzrechts für Presseverleger? Ganz einfach, weil sie es trotz seines Misserfolgs europaweit durchsetzen will, meint Patrick Beuth bei Spiegel online: "In drei Wochen soll der Rechtsausschuss des EU-Parlaments über seine Position zur Urheberrechtsreform der Kommission abstimmen... Nach dem Ausschuss stimmt das Plenum ab, danach beginnt der sogenannte Trilog, in dem Parlament, Ministerrat und Kommission eine finale Einigung finden wollen. Der Bundesregierung ist es sicherlich ganz recht, dass die Abgeordneten bis dahin keine offizielle Bilanz mehr zu sehen bekommen."
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Gesellschaft

Katharina Meyer zu Eppendorf unterhält sich in der taz mit der Anwältin Vladislava Zdesenko, die einst selbst als jüdischer Kontingentflüchtling nach Berlin kam und heute Eltern vertritt, deren Kinder an den Schulen antisemitisch gemobbt wurden. Leider sind diese Fälle nicht so selten, sagt sie, und natürlich gibt es bei weitem nicht nur muslimischen Antisemitismus. Aber "wenn ich mich in die Lage eines Lehrers oder Schuldirektors versetze, der mit 80 Prozent muslimischen Schülern und ihren antisemitischen Einstellungen umgehen muss, wäre ich auch überfordert. Natürlich sind nicht alle muslimischen Schüler antisemitisch. Aber ich habe das Gefühl, dass sich die, die es sind, sehr gut als Kollektiv aktivieren lassen. Der Zusammenhalt durch die gemeinsame Religionszugehörigkeit ist sehr stark. Ich glaube, vor allem das überfordert die Lehrer."

Ebenfalls in der taz: Martin Reichert hält über drei Seiten Rückschau auf die Geschichte der Krankheit Aids in Deutschland.
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Geschichte

Charles Maurras, der französische Antisemit und Wortführer der extremen Rechten, wäre in diesem Jahr 150 Jahre alt geworden. Wolf Lepenies porträtiert den Autor für die Welt und zeigt, wie sich bei ihm Nationalismus und Regionalismus (er kam aus Marseille) kombinierten: "Mit dem während der Dreyfus-Affäre publizierten Essay 'L'Idée de la décentralisation' (1898) begann der lebenslange Kampf von Maurras gegen den Zentralismus der 'Pariser Republik'. 'Künstliche' politische Einheiten wie die von der Revolution gebildeten Départements sollten abgeschafft, die 'Pays' genannten Regionen des Ancien Régime wiederbelebt werden. Energisch engagierte sich der Mann des Midi für die Stärkung der lokalen Freiheiten; die Action française war auch eine 'Action provençale'. Maurras setzte dem jakobinischen Zentralstaat ein föderales Frankreich entgegen, in dem die Kommunen demokratisch, die Provinzen aristokratisch und die Nation monarchisch organisiert waren."
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Medien

Wie erstaunlich dieser Frank Schirrmacher war, kommt vielen Lesern von Michael Angeles Portrait-Buch offenbar erst jetzt so recht zu Bewussstein. In der taz bespricht Danilo Scholz das Buch: "Was im Rückblick frappiert, ist, wie aktiv Schirrmacher, dem, wie Urs Widmer 1988 im Merkur lakonisch bemerkte, 'die Gnade der späten Geburt sogar die Schreckensjahre von 1968 erspart hat', Geschichtspolitik betrieben hat. Schirrmacher wollte die deutsche Vergangenheit des 20. Jahrhunderts filmreif schreiben. Alles, was in Kino und Fernsehen Uniform trug, wurde inspiziert. Als Fetisch sicher bedenkenswert, als Kriterium der Vergangenheitsbewältigung ziemlich lächerlich. Wie viel Zeit und Platz für filmische Nazi- und Widerstandsmemorabilia bei der FAZ aufgewendet wurde!"

In der Welt hält Dirk Schümer eine Laudatio auf Henryk M. Broder, der heute beinahe im niedersächsischen Otterndorf den Voss-Preis erhalten hätte. Verhindert hat das eine "elbländische Initiative, vorzugsweise aus örtlichen Funktionären von Grünen und SPD", schreibt Schümer: "So geht Meinungsvielfalt heute; Otterndorf ist überall."
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Ideen

Könnte es sein, dass die liberale Demokratie gar nicht der Endpunkt der menschlichen Entwicklung ist, fragt Essayist Andrew Sullivan im New York Magazine, und antwortet mit einem klaren Ja. Italiens neue Koalition der doppelten Populisten ist für ihn ein Beispiel, aber Deutschland auch: "Auch das deutsche Zentrum hält nicht mehr. Die aktuelle Koalition ist eine, die keiner will, ein Replay der ausgepowerten Allianz von SPD und CDU, mit der Alternative für Deutschland, so gespalten sie sein mag, als drittstärkster Partei. Auch die AfD will mehr direkte Demokratie, weniger EU, ist getrieben von der Ablehnung von Immigranten und will sozialen Konservatismus. Und Polen und Ungarn sind inzwischen für alles, was man als liberal beschreiben könnte, verloren."

Der Reaktionär ist heute der Revolutionär. Überhaupt sind die beiden Figuren des Denkens und der Politik so stark aufeinander bezogen wie zwei Seiten einer Medaille, meint René Scheu in der NZZ. Aber die Reaktionäre seien es, die heute die Revolution machen: "Die Reaktionäre sind weder rechts noch links, sondern tragen ganz unterschiedlich gefärbte Gewänder, grüne, schwarze, braune, rote. Nationalisten, Populisten und Islamisten zählen ebenso dazu wie Tiefenökologen, Anti-Globalisierer und Anti-Wachstums-Aktivisten. Was sie eint, ist die Systemkritik."
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Religion

Nicht nur, dass unsere Theologieprofessoren an Unis lehren (die einzige Nicht-Wissenschaft, die dort Status hat) und außerdem vom Staat bezahlt werden. Nun lassen einige von ihnen auch noch eine ökumenische Erklärung zirkulieren, in der sie das Kreuz in öffentlichen Gebäuden verteidigen: "Ganz in der Tradition unserer Verfassung ist der Blick auf das Kreuz zweifellos der Blick auf ein Wertefundament unserer pluralistischen Gesellschaft, da es für den menschlichen Zusammenhalt aus einem Geist des Miteinanders auch gegenüber dem vermeintlich Fremden steht. Dieses Fundament freiheitlicher Toleranz ist sowohl im Grundgesetz als auch in der Bayerischen Verfassung gerade nicht auf einen gottlosen Humanismus reduziert. Es gründet im Heilswerk und in der Botschaft Jesu Christi."

Michael Schmidt-Salomon antwortet den Theologen im Humanistischen Pressedienst: "Offenkundig lähmt sie die Furcht vor einem 'gottlosen Humanismus' so sehr, dass sie verkennen, dass niemand je einen 'gottlosen Humanismus' als Staatsideologie gefordert hat. In der Verfassung verankert ist allerdings - und nur das fordern säkular denkende Menschen aller Konfessionen - das Gebot eines 'weltanschaulich neutralen Humanismus', den jede Bürgerin und jeder Bürger nach eigenem Gutdünken religiös oder nichtreligiös deuten kann."
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