9punkt - Die Debattenrundschau

Diese europäische Spezialität

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2019. FR, taz und Zeit befassen sich mit den Rechtspopulisten vor den Europa-Wahlen. Es ist ja schon vieles vergesellschaftet, und zwar zu Recht, schreibt Gerd Koenen in der Zeit mit Blick auf Kevin Kühnerts Forderungen. Die Uebermedien staunen unterdessen über die Welt, die sich von VW sozusagen freiwillig vergesellschaften lässt. Libération berichtet über die immer drastischere Politik gegen Abtreibung in amerikanischen Bundesstaaten. In der NZZ erzählt die Osteuropa-Historikerin Ekaterina Makhotina, wie die Sowjetunion den Krieg verdrängte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.05.2019 finden Sie hier

Europa

Bei den von Dänemarks Regierungschef Lars Løkke Rasmussen ausgerufenen Neuwahlen im Juni darf zum ersten Mal die Partei "Strammer Kurs", die "ethnische Säuberung" und "Blut" von Muslimen fordert, auf Einzug ins Parlament und mögliche Regierungsbeteiligung hoffen, meldet Thomas Borchert in der FR. Deren Chef Rasmus Paludan "konnte in Nachrichtensendungen im Fernsehen bereits detailliert darlegen, wie er sich die Deportation von 'so um die 300.000', also praktisch allen in Dänemark lebenden Muslimen, vorstellt. Die konservative Wochenzeitung Weekendavisen stuft den 'Strammen Kurs' als erste Nazipartei seit 1939 bei einer Wahl in Dänemark ein. Ihr Chef sei 'eindeutig vertraut mit den Nürnberger Gesetzen und der Rassenlehre der Nazis'. Trotz diverser juristischer Expertisen über die Verfassungswidrigkeit von Paludans ungeheuerlichen Aussagen gibt es in Kopenhagen aber keine nennenswerten Verbotsforderungen. Spätestens seit den Mohammed-Karikaturen in der Zeitung Jyllands-Posten, die 2006 zu gewalttätigen Protesten in der islamischen Welt führten, gilt die bedingungslose Meinungsfreiheit gegenüber dieser Religion und Kultur für dänische Politiker als unantastbar." (Hilft es der Debatte wirklich weiter, wenn man Nazis und Karikaturisten in einen Topf wirft?)

So geht "Framing": "Rechte dominieren den politischen Diskurs im Netz", titelt die taz in der Rubrik "Die Nachricht" unter Bezug auf eine Studie der spanischen Social-Media-Analysefirma Alto, die auch schon in der Tagesschau präsentiert wurde. Womit wir es bei dieser Hegemonie zu tun haben, erläutert erst der Text: "Den Ergebnissen der Studie zufolge haben mit 47 Prozent fast die Hälfte aller untersuchten Beiträge eine thematische Verbindung zur AfD oder anderen rechten Inhalten - ob nun unterstützend oder kritisierend."  Und weiter: "Die eigentliche Netzcommunity der 'AfD-Unterstützer' ist mit knapp elf Prozent vergleichsweise klein." Mit anderen Worten: die Linke verbucht sogar noch ihr unablässiges Plappern über die Rechten als Symptom von deren Hegemonie!

Der österreichische Verkehrsminister hat Fahrprüfungen auf Türkisch verboten. "Es geht um Antiislam. Fremdenfeindlichkeit. Antisemitismus", schreibt Marlene Streeruwitz dazu in der Zeit und attackiert die ÖVP, die ihren Koalitionspartner gewähren lässt: Von der FPÖ werde "sadistische Politik gemacht, und die ÖVP sitzt daneben und genießt die Gewalt gegenüber den Ausgesonderten. Den Kronen-Zeitungs-Lesern wird das jeden Tag geliefert. In der identitären Blogosphäre gilt die Spaßfrage 'Ist das lustig, oder tut das weh?', und die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 finden wieder Anwendung."

Weitere Artikel: Die Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul ist ein "Symbol des beginnenden Zerfalls", schreibt Özlem Topçu in der Zeit.
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Internet

Für den Tagesspiegel fassen Maria Fiedler und Sebastian Christ die wichtigsten bei der diesjährigen re:publica vorgestellten Lehren zur Kommunikation im Netz zusammen: "Großen Konsens bei der re:publica gibt es bei der Frage, wie die digitale Gesellschaft in Zukunft mit Plattformanbietern wie Facebook und Google umgehen sollte: Mit strengeren Gesetzen müsse in sozialen Netzwerken gegen Microtargeting, Wahlmanipulationen und Meinungsmache vorgegangen werden."

Weitere Artikel: Von einer hitzigen Diskussion bei der re:publica über die Urheberrechtsreform zwischen Alex Voss und Markus Beckedahl von netzpolitik.org berichtet Stefan Krempl bei heise.de.
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Ideen

Elisabeth von Thadden hat für die Zeit die große Philosophin Agnes Heller getroffen, die 90 wird. "Europa: In ihren Augen ist das der Kontinent, auf dem Europäer allein im 20. Jahrhundert hundert Millionen andere Europäer getötet haben. Wenn heute im Westen bei Festakten das Hohelied auf die europäischen Werte angestimmt wird, dann ergreift sie das Wort, man möge bei der Aufzählung den Terror nicht vergessen, diese europäische Spezialität. Die liberale Demokratie sei doch immer nur die Ausnahme gewesen, für kurze Zeit, und in Europas Geschichte sei sie kaum verwurzelt."
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Gesellschaft

Geradezu überfällig war die Kopftuchkonferenz Susanne Schröters an der Uni Frankfurt, meint Nils Minkmar auf Spiegel online: "Unruhig wurde es nach den Vorträgen immer wieder, auch sehr emotional, denn die Zeit für Diskussion war jedes Mal zu knapp, das Thema ist einfach zu gewaltig. Es blieben zu viele Fragen, zu viele Geschichten übrig. Im Saal waren viele interessante Frauen mit einer wechselvollen Biografie, deren Statements und Fragen noch weitere Tage gut gefüllt hätten." Für die FR berichtet Hanning Voigts von der Konferenz mit 700 Teilnehmern, bei der Schröter auf den "Rollback" in vielen islamischen Ländern hinwies und Alice Schwarzer sich über "falsche Toleranz" und "Sprechverbote" beklagte und ein Kopftuch-Verbot für Kinder, in Schulen und im öffentlichen Dienst forderte. Weitere Artikel: Welt, FAZ.

Die Wirtschaftspolitik der SED war katastrophal, erinnert der ostdeutsche Philosoph und evangelische Theologe Richard Schröder in der Welt: Im Oktober 1989 kam der oberste SED-Planungschef Gerhard Schürer zu dem Schluss, Arbeitsplätze müssten reduziert und Westkredite erhöht werden, sonst drohe eine Reduktion des Lebensstandards um 30 Prozent. Das vergessen viele Ostdeutsche heute aber lieber und geben stattdessen der Währungsunion, der Treuhand und schließlich "dem Westen" die Schuld, so Schröder verärgert: "Die Währungsunion hat die Krise der DDR-Wirtschaft nicht verursacht, sondern nur ausgelöst, indem sie ihre Schwäche unter Weltmarktbedingungen schlagartig offengelegt hat. Aber mit der Währungsunion wurde auch die erste Tatsache auf dem Weg zur deutschen Einheit geschaffen - und damit dieser Weg nach menschlichem Ermessen unumkehrbar gemacht, was zumal dem ostdeutschen Wählerwillen entsprach und sie, obwohl ökonomisch hochproblematisch, politisch rechtfertigen konnte. Die meisten Ostdeutschen wollen bis heute nicht wahrhaben, dass ihr sehnlicher Wunsch: die D-Mark sofort und 1:1, unvermeidlich viele Arbeitsplätze kosten musste."

Die aktuelle Entscheidung des BGH, eine Leihmutter und nicht die Eizellenspenderin in die Geburtsurkunde des Kindes einzutragen, ist absolut richtig, findet Marlen Hobrack ebenfalls in der Welt. Denn: "Einer Leihmutter wenigstens zeitlich begrenzt ein Recht auf körperliche Selbstbestimmung und am ausgetragenen Kind zuzugestehen, sichert ihr den Status als Subjekt, statt sie zum Mittel zum Zweck für andere zu degradieren. Diese Gefahr droht tatsächlich, und vor allem da, wo das Geschäft mit der Leihmutterschaft die Armut und Zwangslage von Frauen weltweit ausnutzt."

Es ist ja schon vieles vergesellschaftet, und zwar zu Recht, schreibt Gerd Koenen in der Zeit mit Blick auf Kevin Kühnerts Forderungen und den in Deutschland riesigen öffentlichen Dienst und viele öffentliche Betriebe, die in privatisierter Form nicht unbedingt besser laufen würden. Dabei müssen sich aber "Betriebe, die teilweise oder ausschließlich in Staatsbesitz sind, keineswegs per se sozial verantwortlicher und innovativer verhalten als sogenannte Privatbetriebe. Auch in öffentlicher Hand befindliche Betriebe (wie Kühnerts hypothetische BMW-Genossenschaft) können zu Interessenkartellen degenerieren, vom Management über die Aufsichtsräte bis zu den Betriebsräten. VW ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel."
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Medien

15 Millionen Euro hat Gabor Steingart von Springer für sein Morning Briefing abgezockt, dessen Geschäftsmodell unklar ist, berichtet zu Recht bewundernd Caspar Busse in der SZ, 1,6 Millionen Euro hat Steingart überdies aus eigenem Vermögen in sein Startup gesteckt: "Auch äußerlich will man sich von anderen Medienunternehmen deutlich unterscheiden. Herzstück soll ein Schiff werden, 40 Meter lang und sieben Meter breit, das bereits geplant ist und nun gebaut werden soll. Mit Elektroantrieb soll es von 2020 an auf der Spree unterwegs sein und eine Plattform für Gespräche mit Lesern und Nutzern sein, ausgestattet mit Newsroom, Tonstudio und Veranstaltungsbereich."

So kann man auch Zeitung machen, staunt Stefan Niggemeier bei den Uebermedien: "Die Welt ist gestern als Volkswagen-Welt erschienen. Sie ist nicht in irgendeiner Weise als Anzeige gekennzeichnet, aber sie besteht im Wesentlichen aus VW-PR, unterbrochen von VW-Werbung, Porsche-Werbung, Audi-Werbung, Seat-Werbung und Skoda-Werbung. Für einen Tag hat das Blatt den VW-Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess zum Co-Chefredakteur gemacht, sogar richtig mit Eintrag im Impressum."

Außerdem: Lorenz Matzat fragt sich in seinem Medium-Blog, was es mit dem "Journalismus der Dinge" auf sich haben soll, der auf der re:publica von einigen Autoren gefordert wurde.
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Politik

Die Hamas hat den Raketenbeschuss auf Israel vorerst eingestellt. Er "fand keineswegs zufällig kurz vor dem in Tel Aviv anstehenden Eurovision Song Contest (ESC) statt", meint Frederik Schindler in der taz, der es nicht fassen kann, dass den Israelis, die Homosexuelle friedlich feiern lassen, vorgeworfen wird, mit ihrer Toleranz "pink washing" zu betreiben: "In den palästinensischen Gebieten müssen Homosexuelle Gewalt von Familienmitgliedern, militanten Gruppen und Sicherheitskräften befürchten, im Gazastreifen ist gleichgeschlechtlicher Sex illegal und wird mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft. Auch in den Nachbarländern Israels werden LGBT-Personen massiv verfolgt. ... Solange nicht überall sexuelle und geschlechtliche Vielfalt so gefeiert werden kann wie während der Tel Aviv Pride, ist es deshalb ausgesprochen lächerlich, hier ausgerechnet Israel zurechtzuweisen und gleichzeitig über die drakonischen Anti-Homosexuellen-Gesetze in den Nachbarländern zu schweigen." Die Hamas ist sich hingegen mit der Israel-Boykott-Kampagne einig, die ihren Widerstand gegen die bei Homosexuellen beliebte Schlagerveranstaltung  mit einem in Form von SS-Runen gebrochenen Herzen kundgibt.

Der amerikanische Bundesstaat Georgia hat gerade ein Gesetz erlassen, das Abtreibung so gut wie unmöglich macht, schreibt Isabelle Hanne in Libération. Georgia reiht sich damit nur in einen Trend amerikanischer Politik ein: "Seit Anfang des Jahres haben die Konservativen des Landes ihre Bemühungen in ihrem Anti-Abtreibungs-Kreuzzug intensiviert. Das Guttmacher Institute of Statistics, das sich für reproduktive Rechte einsetzt, hat mehr als 300 Maßnahmen zur Einschränkung der Abtreibung identifiziert, die 2019 in 28 amerikanischen Staaten beschlossen wurden. In Alabama wollen die Gesetzgeber Ärzten unter Androhung von Haftstrafen verbieten, Abtreibungen durchzuführen, nur wenige Ausnahmen sind zugelassen. Tennessee, Missouri, South Carolina und Louisiana arbeiten an ähnlichen Gesetzen wie Georgia."

Am heutigen 09. Mai wird in Russland wieder der Sieg über Nazideutschland mit nationalistischem und militärischem "Pomp" gefeiert, schreibt die Osteuropa-Historikerin Ekaterina Makhotina in der NZZ und erinnert mit Blick auf ihren Großonkel, der als jüdischer Widerstandskämpfer den Massenmord an sowjetischen Juden überlebte und nach dem Krieg vom NKDW als Kollaborateur zu acht Jahren Gulag-Haft verurteilt wurde, wie jene, meist jüdische Schicksale zu Gunsten eines "Heldennarrativs" in Russland verschwiegen werden:  "Es geht darum, wie der 'Krieg' von der Gesellschaft an diesem Tag 'inszeniert' und mit welchen Projektionen und Wünschen er gefüllt wird. In der Schule lernt die junge Generation den Krieg nicht als Schmerz, sondern als Grund, stolz zu sein, kennen. Dieser Stolz soll verinnerlicht und für zukünftige Generationen tradiert werden. Der Krieg der Lebenden verdrängt den Krieg der Toten."

Außerdem: Entgegen der Propaganda des Kreml und des syrischen Regimes, der Syrien-Krieg sei beendet, werden die Regionen Idlib und Hama unter dem Vorwand, islamistische Terroristen zu bekämpfen, seit knapp zwei Wochen von der russischen und der syrischen Luftwaffe bombardiert, schreibt Richard Herzinger in der Welt und befürchtet eine Großoffensive der Regimekräfte, wenn der Westen nicht mit Sanktionen eingreift.
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