Efeu - Die Kulturrundschau

Hadern, scheitern, trotzdem weiter machen

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09.05.2019. Die Welt steht im Deutschen Pavillon der Biennale von Venedig und fragt verzweifelt: Warum können die Deutschen keine Verführung? In der SZ wollen die Designer Stefan Sagmeister und Jessica Walsh die Schönheit vor der Funktionalität retten. Die österreichischen Zeitungen freuen sich über die Auszeichnung von Michel Houellebecq mit dem Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur. Der Tagesspiegel feiert Laurel und Hardy als Vorläufer von Becketts Clowns. Die Jungle World macht sich mit Stereolab eine radikale Idee von Pop.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.05.2019 finden Sie hier

Design

Sagmeister & Walsh, Obsessions make my life worse and my work better, 2016. © Sagmeister & Walsh, New York


Morgen eröffnet das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt die von den Designern Stefan Sagmeister und Jessica Walsh gestaltete Ausstellung zum Thema Schönheit. Im SZ-Gespräch erklärt Sagmeister, warum diese im digitalen Zeitalter verloren zu gehen droht und welche Risiken damit einher gehen: Zu beobachten ist der "komplette Sieg der Funktion über die Schönheit. ... Wir haben die Theorie, dass immer dort, wo die reine Funktion herrscht, sich die Menschen nicht wohlfühlen, zum Beispiel auf amerikanischen Flughäfen. Und sich dort auch schlecht benehmen, wie die erhöhte Kriminalität in Wohnsiedlungen aus den Siebzigerjahren zeigt. Das könnte auch dazu beitragen, dass sich Menschen auf Twitter, das rein funktional gestaltet ist, aggressiver verhalten als auf Instagram, das Funktion und Ästhetik verbindet." Wobei sich mit der fortschreitenden Popularisierung von Instagram in den dortigen Kommentarspalten zuletzt auch ein zunehmend schärferer Ton beobachten lässt.
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Kunst

Die Biennale von Venedig hat begonnen. Im Deutschen Pavillon, der die "Festung Europa" thematisiert, "wird nicht geträumt und verführt wie nebenan bei den Briten und den Franzosen, hier wird aufgeklärt und wachgerüttelt", seufzt Boris Pofalla in der Welt. "Ist das jetzt subversiv? Dafür sind die Botschaften zu eindeutig. Und es gibt ein strukturelles Problem: je mehr man ihn untergräbt, je offensiver politisch eine Künstlerin auf dieser luftigen Weltbühne in den Giardini agiert, desto fester und relevanter steht er am Ende immer da, der Deutsche Pavillon. Die Mission der Sinnstiftung wird von den Deutschen gern mal übererfüllt."

Außerdem von der Biennale: Der Guardian unterhält sich mit der irischen Künstlerin Eva Rothschild über das "schrumpfende Universum" und mit der Künstlerin Cathy Wilkes, die im britischen Pavillon ein häusliches Drama inszeniert. Monopol unterhält sich mit Dane Mitchell, der im Neuseeländischen Pavillon ausstellt, über sein Archiv des Vergessenen und mit dem finnischen Künstlerduo Nabteeri aus dem Nordischen Pavillon über Klimawandel und die Kunst des Kompostierens. Im Standard stellt Nicole Scheyerer die Künstlerin Renate Bertlmann vor, die das erste weibliche Solo im Österreich-Pavillon bestreitet. Brigitte Werneburg schildert in der taz erste Eindrücke, in der Welt berichtet Marcus Woeller, auf Zeit online berichtet Nicola Kuhn, in der Zeit Hanno Rauterberg.

Weiteres: Inga Barthels berichtet im Tagesspiegel, dass jetzt auch Museen die Möglichkeiten der Digitalisierung entdecken. Peter Schneider besucht für die NZZ die Künstlerin Agnes Wyler anlässlich einer Gruppenausstellung im Helmhaus Zürich in ihrem Atelier. Felix Philipp Ingold schreibt in der NZZ zum 500. Todestags von Leonardo da Vinci.

Besprochen werden die Ausstellung "Utrecht, Caravaggio und Europa" in der Alten Pinakothek in München (FR), die Installation "Inside Tumucumaque" im Hamburger Bahnhof (Tagesspiegel), die Ausstellung "Ruhr Ding: Territorien" in Bochum, Dortmund, Essen und Oberhausen (FAZ) und die Ausstellung "All about Tel Aviv-Jaffa - Die Erfindung einer Stadt" im Jüdischen Museum in Hohenems (FAZ).
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Literatur

Der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur geht in diesem Jahr an Michel Houellebecq. Da darf man schon mal schief grinsen, meint Thomas Kramar in der Presse (wo es auch Hintergrundinformationen samt Jurybegründung zu dieser Auszeichnung gibt), schließlich "findet sich in Michel Houellebecqs Werk auch viel Galliges, Geistreiches und Garstiges über Europa und EU." Als politisches Statement sollte man diese Würdigung allerdings nicht verstehen, denn der Preis stellt "eine reine Auszeichnung des literarischen Gesamtwerks eines Autors dar, ohne Rücksicht darauf, ob dieser mehr oder weniger 'glühender' Europäer ist." Ronald Pohl freut sich im Standard über die Nachricht, denn "Houellebecqs Verdienst liegt auch in der Wiedergewinnung eines verlorenen Tons. Nach 'Ausweitung der Kampfzone' dachte man noch an eine Wiederbelebung von Camus. In Wahrheit borgt sich Houllebecq die Narrenkappe bei Louis-Ferdinand Céline, dem anderen skandalösen Einzelgänger der französischen Literatur. Goss dieser Unrat auf die Zivilisation, so zuckt sein jüngerer Bruder im Geiste die Achseln. ... Houellebecqs Literatur bleibt, weil sie jede Systematik entbehrt, widersprüchlich. Das ist, zwei Wochen vor den Wahlen zum EU-Parlament, ein gutes, postideologisches Zeichen. Es wird der Rechten nicht gelingen, ihn für sich zu vereinnahmen."

Die heute beginnende Turiner Buchmesse wird von einer Kontroverse um die Teilnahme des rechten Kleinverlags Altaforte überschattet. Zahlreiche Institutionen wie das Museum des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz, das eine Veranstaltung zum 100. Geburtstag von Primo Levi geplant hatte, und Autoren und Intellektuelle wie Christian Raimo und Carlo Ginzburg protestieren heftig oder sagten ihre Teilnahme ab. Und während hiesige Pendants gerne Kreide fressen und sich den Schafspelz überwerfen, zeigt sich der italienische Verlagschef sehr auskunftsfreudig: "Ich bin Faschist. Der Antifaschismus ist das wahre Übel dieses Landes", zitiert ihn Matthias Rüb in der FAZ. Thomas Steinfeld von der SZ beobachtet, dass dem Verlagshaus wohl eine "Stilidee" zugrunde liege, "die sich an den Ornamenten des frühen italienischen Faschismus und am Futurismus orientiert" und die nahestehende Splitterpartei Casa Pound einen "'Faschismus des 21. Jahrhunderts' propagiert, der viel mit Popkultur zu tun hat - im Unterschied zu einem eher konservativen Faschismus, wie ihn beispielsweise die Partei Fiamma Tricolore repräsentiert."

Weitere Artikel: Gerrit Bartels schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Schriftsteller Ingomar von Kieseritzky. Besprochen werden unter anderem Fernanda Melchors "Saison der Wirbelstürme" (SZ) und Jakuta Alikavazovics "Das Fortschreiten der Nacht" (FAZ).
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Film

jedes Detail ist wichtig: John C. Reilly und Steve Coogan als Laurel & Hardy
Dass ein Biopic über die Komiker Laurel und Hardy (hierzulande vulgo "Dick und Doof") keine Komödie werden muss, liegt schon deshalb nahe, weil die beiden Slapstick-Filmpioniere, deren Wirkmächtigkeit von der frühen Kinozeit bis ins Fernsehprogramm der 80er reichte, jenseits der Kamera miteinander ziemlich fremdelten, erklärt Barbara Schweizerhof in der taz: Für rundum gelungen hält sie Jon S. Bairds "Ŝtan & Ollie" zwar nicht, aber die schauspielerischen Leistungen sind fulminant: "John C. Reilly und Steve Coogan schlüpfen mit einer Empfindsamkeit und zugleich einem Eifer in ihre Rollen als Hardy und Laurel, die eine tiefe Zuneigung für die großen Vorbilder verrät." Etwa "der indignierte Blick, den Ollie wieder und wieder auf Stan warf und in dem sich ein ganzes Lebensgefühl ausdrückte; die überraschende Gewitztheit, mit der Stan, wenn er das von Ollie verschmähte gekochte Ei isst, den Salzstreuer aus dem Jackett zaubert … Jedes Detail ist wichtig, jede Geste muss stimmen und vor allem perfekt im Timing liegen." Tagesspiegel-Kritiker Christian Schröder sieht in Laurel und Hardy nach diesem Film  "Vorläufer von Becketts Clowns, Allerweltsfiguren, die mit den Errungenschaften der Moderne hadern, scheitern, trotzdem weiter machen."

NZZ-Kritikerin Nina Jerzy nimmt den Film zum Anlass, um darüber zu referieren, wie weit die Macht der Studiobosse im klassischen Hollywoodkino reichte und wie sich die Schauspielzunft dagegen schließlich erfolgreich zur Wehr setzte, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass im Disney-, Netflix- und Amazon-Zeitalter die Schauspieler wieder entthront werden: "Werden Schauspieler zu alt (oder zu anspruchsvoll), können sie ersetzt werden, ohne dass die Figur verschwinden muss. Der Star ist wieder austauschbar, das Studio der wahre Herrscher in Hollywood."

Weitere Artikel: Tazlerin Barbara Wurm stößt bei den Oberhausener Filmtagen mitunter auf eine "fröhlich produktive Fehlerkunde als (persönliches) Leitmotiv des Festivals" - und zwar insbesondere in einem Filmprogramm von Rainer Knepperges sowie Eva Stefani und Alexander Sokurov gewidmeten Profilen. Die SZ-Kritiker werfen Blicke ins Programm des heute beginnenden Münchner Dokumentarfilmfestivals. Eine Studie hat festgestellt, dass nach der umstrittenen Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" die Selbstmordrate unter Teenagern gestiegen ist, berichtet Hanna Lohoff in der taz.

Besprochen werden Richard Billinghams in der Thatcher-Zeit angesiedeltes Sozialdrama "Ray & Liz" (Tagesspiegel, NZZ, SZ), Terrence Malicks mit dreijähriger Verspätung immerhin in die österreichischen Kinos kommender Film "Voyage of Time" (Presse) und Philipp Leinemanns Paranoiathriller "Das Ende der Wahrheit", der ZeitOnline-Kritiker Matthias Dell ziemlich unterwältigt zurücklässt.
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Bühne

Die SZ hat Alex Rühles Interview mit der Schriftstellerin Radka Denemarková über die Entlasssung des Direktors der tschechischen Nationalgalerie online nachgereicht, die FAZ hat Simon Strauss' Artikel über den Streit am Schauspiel Frankfurt online gestellt. In der FAZ-Reihe "Spielplan-Änderung" schreibt Deborah Feldman über Salomon Anskys Theaterstück "Der Dibbuk".

Besprochen werden Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Glucks "Iphigénie en Tauride" an der Staatsoper Stuttgart (FR) und Falk Richters "Rausch" im Bockenheimer Depot (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Christian Wildhagen berichtet in der NZZ über Einschnitte beim Luzern-Festival. Das Hauptfestival im Sommer, die Konkurrenz zu Salzburg sozusagen, solle zwar gestärkt werden: "Teil der neuen Strategie ist im Gegenzug aber auch eine einschneidende Kürzung: Demnach werden von 2020 an der im Jahr 1988 etablierte Festspielableger zu den Ostertagen sowie das seit 1998 bestehende, ebenfalls etwa einwöchige Klavierfestival im Spätherbst gestrichen."

Sehr zur Freude von Jungle-World-Popkritiker Dierk Saathoff wird im Laufe dieses Jahres die komplette Diskografie von Stereolab neu aufgelegt. Den Auftakt bildet das Album "Transient Random-Noise Bursts with Announcements" aus dem Jahr 1993, das entscheidende Merkmale des Indie-Pops der 90er aufweist, bzw. diesen damit entscheidend geprägt hat: Typisch für die britische Band war es schließlich, "das Einfache mit dem Komplizierten, das Unaufdringliche mit dem Aufdringlichen zusammenzuzwingen. ... Neben Krautrock taucht da nämlich auch Easy Listening auf, ein Genre, das in den Neunzigern auf viel Interesse bei alternativen Bands stieß. Die Hintergrundmusik in den Vordergrund zu stellen, zeugt von einer radikalen Idee von Pop", bei der es um darum ging "Pop mit seinen eigenen Waffen zu schlagen" und also "nicht auf die simplen Melodien zu verzichten, die das potentielle Publikum umschmeicheln, und diesem zugleich noch andere, neue Klänge unterzujubeln, für die es sonst gar nicht zugänglich wäre." Wir hören in das Album rein:



Weitere Artikel: Jesper Klein berichtet in der FAZ von den Badenweiler Musiktagen, bei denen ihm der Bariton Christian Gerhaher bei einem gemeinsamen Brahms- und Schumann-Konzert mit Gerold Huber den Atem verschlägt. Ken Münster porträtiert im Tagesspiegel die Jazzmusikerin J. Lamotta. Christian Fahrenbach gratuliert im Tagesspiegel Billy Joel zum 70. Geburtstag. Peter Uehling schreibt in der Berliner Zeitung einen Nachruf auf den Komponisten Georg Katzer.

Besprochen werden Schoolboy Qs neues Album "CrasH Talk" (taz), ein Schubert- und Debussy-Abend des Newcomer-Pianisten Seong-Jin Cho, der Tagesspiegel-Kritiker Udo Badelt allerdings sehr verärgert hat, und ein Konzert der Neuen Vocalsolisten Stuttgart in Zürich (NZZ).
Archiv: Musik