9punkt - Die Debattenrundschau

Es ist leise im Tiergarten. So leise

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2019. Unrechtsstaat DDR? Aber ja, meint die SZ, auch an die Adresse von SPD-Populistinnen - höchste Zeit, "dass der Osten einen klaren Blick auf die sozialistische Vergangenheit wirft". Die Marionettisierung des chinesischen Volks schreitet voran. Schüler werden mit EEG-Stirnbändern ausgestattet, um ihre Motivation zu messen, berichtet golem.de. Das Verhältnis der Deutschen zur Digitalisierung ist oft von Angst, Verachtung und Unwissen geprägt, beobachtet die FR. Der biologisierte Antirassismus ist ein Rassismus, warnt Philipp Kröger im Blog geschichtedergegenwart.ch.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.10.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Aus den USA kommt die Mode, die eigenen Gene auf die ethnische Herkunft testen zu lassen. Heraus kommt dann meist, dass man zu so und so viel Prozent dieser oder jener Herkunft sei. Die Firmen, die mit diesen Tests Geld verdienen, verkaufen diese Ergebnisse als "antirassistisch", weil sie meist Mischungen offenbaren. Aber Philipp Kröger, der zum Thema forscht, warnt im Blog geschichtedergegenwart.ch: "Gentests schreiben Vorstellungen, nach denen Ethnizität eine natürliche Qualität des Menschen sei, fest und lösen diese nicht auf." Kröger spricht von "biologisiertem Antirassismus, der Gefahr läuft, ein Begehren nach Abstammung und Differenz eher zu festigen als aus der Welt zu schaffen. Kam Rassismuskritik jahrelang ohne die Annahme tatsächlich existierender Rassen aus, fällt der biologisierte Antirassismus dahinter zurück: Er schreibt das kulturelle Artefakt der Ethnizität als natürliches Programm in die menschliche DNA ein."

"Extinction Rebellion", die Klimaprotestbewegung, die in Berlin und anderswo den Verkehr lahmlegt, wirkt auf den Schriftsteller David Wagner in der FAZ alles andere als rebellisch: "Trotz all der Menschen, 1500, zweitausend werden es wohl sein, zeitweilig mehr, trotz der skandierten Parolen und Durchsagen: Es ist dennoch leise im Tiergarten. So leise. Die Blockierer machen keinen Krach und kaum Lärm, nein, im Gegenteil, sie haben den Tiergarten heute befriedet. Nie war so viel Ruhe um die Wipfel. Kein Hauch Fahrtwind vorbeirasender Autos fährt mir durchs Haar."

Etwas weniger idyllisch betrachtet auf Zeit online Sasan Abdi-Herrle die Bewegung, die er geradezu demokratiefeindlich findet: "Der Klimawandel sei größer als die Demokratie, sagt der Mitbegründer der Bewegung, Roger Hallam. Und spricht von einer Revolution, dem Ziel einer politischen Krise. Diese Verachtung des politischen Systems ist gefährlich. Sie impliziert, dass man die Institutionen überwinden darf, wenn man sich auf der Seite einer größeren Sache und damit im Recht wähnt. Solche Gedankenspiele kennt man auch vom rechten Rand. Einen solch totalitären Zugang zur Klimawende kann niemand wollen."
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Europa

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall behaupten plötzlich Politiker wie Bodo Ramelow (die Linke) und Manuela Schwesig (SPD), die DDR sei gar kein Unrechtsstaat gewesen. Es sei "höchste Zeit", fordert in der SZ dagegen Cerstin Gammelin, "dass der Osten einen klaren Blick auf die sozialistische Vergangenheit wirft. Im Westen haben sich Generationen von Nachkriegskindern mit der Schuld ihrer Eltern befasst, auch dagegen rebelliert. Im Osten hat das nie stattgefunden; dabei ist es dringend nötig, weil das alte Dogma unwidersprochen weiterlebt. Im Staatsbürgerkundeunterricht lernte man, wissenschaftlich herzuleiten, dass man auf der Seite der Sieger stand. Zweifel gab es nie. Es liegt auch an diesem Versäumnis, dass der AfD im Osten das Unfassbare gelungen ist, die friedliche Revolution teilweise für sich zu kapern. Wer nur gelernt hat, in radikalen Strukturen zu denken, der schwenkt eher von ganz links nach ganz rechts als zur demokratischen Mitte."

In der Welt zweifelt Claus Christian Malzahn nicht daran, dass es auch in der DDR "Anstand, Mut, Humanität" gab. "Aber diese Haltungen wurden vom System nicht befördert, sondern von den Menschen trotz und gegen die Diktatur gelebt. Im Herbst 1989 wurde in der DDR eine Parole wirkungsmächtig, die zuvor zum Repertoire westdeutscher Linker gehört hatte: Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. An dieser mutigen Haltung zerbrach die DDR, die so manche West-Linke für den besseren deutschen Staat gehalten haben. An dieser Dialektik knabbern sie noch heute. Und diese historische Verwechslung ist der eigentliche Grund für die aktuelle Begriffsverwirrung."
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Überwachung

Die Marionettisierung des chinesischen Volks schreitet voran. Schüler werden versuchsweise mit elektronischen Stirnbändern ausgestattet, die sie den ganzen Tag tragen müssen und die die Hirnströme messen, berichtet Oliver Nickel bei golem.de unter Bezug auf eine nicht online stehende Recherche des Wall Street Journal: "Die Gehirnwellensensoren werden in China selbst hergestellt und sind mit jeweils drei Elektroden ausgestattet. Kinder tragen die Geräte wie Stirnbänder den ganzen Tag lang. Die Daten sendet das System an den Hostcomputer der Lehrkraft. Diese kann damit etwa herausfinden, welche Schüler sich konzentrieren und welche nicht bei der Sache sind. In einer Zusammenfassung wird die Leistung der gesamten Klasse zusammengefasst, inklusive der Konzentrationslevel einzelner Kinder."

Da klingt Dorian Linkeys Guardian-Bericht über Risiken und Fehler der Alexa-Lautsprecher, mit denen sich Konsumenten freiwillig abhören lassen, fast harmlos.
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Internet

"Europas einstiger Musterschüler ist digitales Entwicklungsland. Im internationalen Vergleich der Verfügbarkeit des Mobilfunk-Standards 4G liegt Deutschland von 88 Ländern auf Platz 70 - zwischen Albanien und Kolumbien." Das Verhältnis der Deutschen zur Digitalisierung ist oft von Angst, Verachtung und Unwissen geprägt. Mit dieser Haltung droht Deutschland jedoch zum Entwicklungsland zu werden, warnt in der FR Imre Grimm. "Im Prinzip geht es um alles. Es geht um die Frage, ob das Land zur verlängerten Werkbank des Silicon Valley verkommt. Zum Befehlsempfänger statt zum Mitgestalter. ... 'Digitale Bildung ist die Grundlage für die wirtschaftliche Zukunft der Bundesrepublik', mahnt der Wissenschaftler Ayad Al-Ani vom Alexander-von-Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft an der Universität Basel. Schon jetzt wanderten deutsche Techniker und Erfinder ab. Deutschland drohe vom Land der Erfinder zum Zulieferer für amerikanische und chinesische Technologieplattformen zu werden."
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Medien

Medien reden gern von ihrer Funktion für die Demokratie, weniger gern von ihren Geschäftsmodellen, etwa davon, dass sie Kontexte schaffen, um darüber reden zu können. Modemagazine sehen exakt aus wie die Anzeigen, die in ihnen geschaltet werden. Und noch deutlicher ist es beim Sport, wie Steffen Grimberg nach der weitgehend unkritischen Fernsehberichterstattung über die Leichtathletikweltmeisterschaft in Doha in in der taz beobachtet: "Es ist die Medienkohle, die den ganzen Betrieb unter Strom hält. Und das klassische Fernsehen braucht die Live-Sportereignisse, weil sie die letzten großen Lagerfeuer sind, um die sich die Menschen scharen." Die Rolle der Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland spricht Grimberg nur en passant an: "So spielen sie als immer noch sehr potente Geldgeber brav mit."
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Ideen

taz-Autorin Charlotte Wiedemann hat ein Buch über den "langen Abschied von der weißen Dominanz" geschrieben. In einem taz-Essay fordert sie: "Wir müssen vom Weißsein sprechen, um es irgendwann überwinden zu können." Wie dieses überwundene Weißsein aussehen soll, bleibt allerdings überraschend vage: "Die globale Macht des westlichen Narrativs ist zwar gebrochen, aber wir wissen noch nicht, wie eine multipolare Welt anders von sich erzählen kann. Wie können polyzentrische Erzählungen einander verstehen? Es wird jetzt wieder vermehrt vom globalen Norden und globalen Süden gesprochen; doch das Künftige liegt, noch nicht sichtbar, hinter diesen Groß-Vokabeln."

Ebenfalls recht vage der taz-Essay von Thomas Salter, der sich mit der Eventualität auseinandersetzt, dass Klimaforscher irren könnten. Man sollte ihren Prognosen und den Anweisungen, unser Leben zu ändern, trotzdem folgen, meint er: "Was könnte Schlimmes passieren, wenn wir uns nicht mehr einem neoliberalen Glauben an die Unendlichkeit des Wachstums hingeben? Klar, wenn wir unsere Wirtschaft auf Nachhaltigkeit umstellen, werden einige Dinge teurer. Und die Politik muss sicherstellen, dass diese Kosten gerecht verteilt werden. Aber was ist besser?"

Auch Andrian Kreye wünscht sich in der SZ angesichts des Klimawandels, dass der Staat den Markt umgestaltet. Er hat auch Ideen, wie man vorgehen könnte: "In einem ersten Schritt wäre schon viel geholfen, wenn der Staat in Bezug auf die Faktoren, die zur Erderwärmung beitragen, überhaupt erst für einen veritablen Markt sorgen, nämlich den Markt auf Preiswahrheit verpflichten würde. Er müsste ihm auferlegen, dass die Kosten aller Treibhauseffekte, die Produzenten und Lieferanten bisher auf die Gemeinschaft auslagern, in die Verkaufspreise der Konsumartikel einzurechnen sind (etwa durch den Aufschlag adäquater Karbonabgaben). Nur so können die Preise informieren und lenken, wie es die Idee des Marktes verlangt. Zweifellos mutet man finanzschwachen Käufern mit erhöhten Preisen soziale Härten zu. Doch die müssen durch Subventionen kompensiert, nicht im Markt geleugnet werden."
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