9punkt - Die Debattenrundschau

Die Tugend ist nur ein Teilaspekt des Lebens

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2019. Ha'aretz porträtiert die uigurische Lehrerin Sayragul Sauytbay, die es schaffte, dem chinesischen Zwangsregime zu entrinnen und den Horror in den Umerziehungslagern für Uiguren schildert. Das westliche Bild des Jahres 1989  ist immer noch viel zu optimistisch, schreibt Thomas Kleine-Brockhoff im Tagesspiegel: Nicht der Mauerfall, sondern das Tienanmen-Massaker gab die Richtung vor.  Im Guardian hofft Timothy Garton Ash nun endgültig auf ein zweites Referendum zum Brexit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.10.2019 finden Sie hier

Politik

David Stavrou porträtiert in Ha'aretz die uigurische Lehrerin Sayragul Sauytbay, die es schaffte, dem chinesischen Zwangsregime zu entrinnen und das Leben in den Umerziehungslagern für Uiguren schildert: Sämtliche Lager sind mit vielen Kameras überwacht, die Bedingungen sind menschunwürdig: Die Insassen werden etwa gezwungen, ausschließlich auf der rechten Seite zu schlafen, sie sind den ganzen Tag in Handschellen, es gibt nur einen Eimer als Toilette für zwanzig Insassen einer Zelle - und so weiter. Auch Folter, sexuelle Gewalt und Manipulation der Gefangenen durch Medikamente seien an der Tagesordnung: "Zeugenaussagen anderer ehemaliger Laginsassen bestätigen Sauytbays Bericht: die Festnahme mit einem schwarzen Sack über dem Kopf, das Leben in Handschellen, Medikamente, die zu geistigem Verfall und Sterilität führen. Sauytbays Bericht über sexuelle Gewalt ist durch Aussagen anderer früherer Insassen, die in der Washington Post und im Independent veröffentlicht Wurden, bestätigt."

Das westliche Bild des Jahres 1989  ist immer noch viel zu optimistisch, schreibt Thomas Kleine-Brockhoff, ehemals Redenschreiber Joachim Gaucks: "Dem westlichen Narrativ zufolge wurde Geschichte in Berlin geschrieben, wo die Mauer fiel, nicht in Peking, wo die Panzer rollten. Die gewaltsame Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung 1989 schien eine Verirrung zu sein, ein hilfloser Aufstand gegen die Kräfte der Weltgeschichte, die das Ende von Planwirtschaft und Autokratie vorsahen... Die Mehrheit der westlichen Interpreten wollte bloß lange Zeit den Gedanken nicht zulassen, die chinesische Führung habe 1989 keineswegs einen Fehltritt begangen, sondern klaren Sinnes beschlossen, die Herrschaft nicht zu teilen und schon gar nicht abzugeben."
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Ideen

CDU- und CSU-Politiker, aber auch Grüne wie Winfried Kretschmann und Intellektuelle wie Andreas Rödder reklamieren den Konservatismusbegrif für sich. Die Debatte um den Begriff ist in Deutschland aber keineswegs so neu, wie ihre Protagonisten glauben, schreibt die Zeithistorikerin Martina Steber auf der Gegenwartsseite der FAZ: "im Gegensatz zu Großbritannien, wo 'conservative' eine politische Strömung mit langer Geschichte bezeichnet, ist 'konservativ' in der politischen Sprache der Bundesrepublik ein höchst umstrittener Begriff mit einem breiten Bedeutungsspektrum. Es fehlt ein konsensualer Kern, der festschreibt, was 'konservativ' bedeuten möge. Verstehen die einen darunter eine Haltung, die das Überlieferte schätzt, aber nicht absolut setzt, und danach strebt, das Gute zu bewahren, ist für andere der Konservatismus eine Weltanschauung mit ewig gültigen Inhalten."

In der NZZ skizziert Christoph Schulte-Richtering die Figur des "empfindsamen Mädchens", erstmals verkörpert von Pamela Andrews in Samuel Richardsons Briefroman "Pamela oder die belohnte Tugend", heute von Greta Thunberg, die ihre eigenen dunklen Seiten verdrängt: "Das empfindsame Fräulein ignoriert die Nacht- und Schattenseiten in sich. Indem es ganz auf Tugend und Vernunft setzt, blendet es Irrationales aus. Und hier setzt der Romantiker die Schubumkehr ein - er will das Gegenteil: Vergangenheit! Ursprung! Geheimnis! Poesie! Nacht! Ruinen! Alkohol! Klaviersonaten! Denn die Tugend ist nur ein Teilaspekt des Lebens - wer sie überschätzt und wissenschaftlich zu rationalisieren versucht, blendet elementare Bedürfnisse und Gefühle des Menschen aus, die zwar nicht moralisch 'gut', aber Realitäten des Lebens sind: Nostalgie, Begierden, Faulheit, Hass, Allmachtsphantasien, Frappuccino aus dem Plastikbecher und SUV-Fahren."
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Gesellschaft

Dass die Leute Rassismus nicht erkennen, wo er ist, liegt auch an falschem Geschichtsunterricht, meint Tobias Ginsburg in der taz, der bei diesem Thema Bildungsarbeit macht und bei einer Veranstaltung Björn Höckes just am Tag des Halle-Anschlags lauter Leuten begegnete, die den Raissmusverdacht weit von sich wiesen: "In der Schule liest man 'Die Welle', schaut einen kitschig-schaurigen KZ-Film, lernt Jahreszahlen - und beschwert sich hinterher, dass dieses doofe Dritte Reich und die lästige Ermordung der europäischen Juden viel zu viel durchgekaut wurde. Aber wie ein Rassist seinen Rassismus begründet, wie der Antisemit seinen Judenhass legitimiert, wo die Attraktivität solcher Vorstellungen liegt, damit beschäftigt man sich nicht."

Sie Ostdeutschen sind nicht abgehängt, schreibt der Religionssoziologe Detlef Pollack im Tagesspiegel, auch unter Bezug auf Umfragen. Viele äußerten sich annähernd so zufrieden mit der Demokratie wie die Westdeutschen. Allerdings verdanke sich der in den letzten dreißig Jahren errungene Wohlstand oft nicht eigener Leistung, sondern Transfers aus dem Westen: "Die Ostdeutschen wissen, dass sie ihn nur zu einem Teil den eigenen Anstrengungen verdanken. Wenn man die ostdeutschen Regionen außerhalb der Großstädte besucht, sieht man auf den ersten Blick, dass sich viele von ihnen in den durchsanierten Städten und Gemeinden wie Fremdkörper bewegen, die das, was sie an glänzenden Stahl-, Glas- und Betonkonstruktionen umgibt, nicht als ihr Eigenes erkennen - sofern sie denn überhaupt außer Haus gehen und nicht im Privaten bleiben."
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Europa

Timothy Garton Ash rät den Europäern im Guardian trotz ihrer Enerviertheit (für die er ihnen eine Flasche Wishky spendieren will), den Briten eine Verlängerung zu gewähren. Es gebe keinen guten Brexit, aber der bestmögliche Ausgang wäre ein neues Referendum: "Und der beste Weg, dies zu erreichen, ist für das Parlament, Johnsons Deal zuzustimmen, aber mit der Maßgabe eines Referendums zur Bestätigung, in dem das britische Volk gebeten würde, abschließend über eine einzige klare Frage abzustimmen: Soll Britannnien unter den von der Regierung ausgehandelten Bedingungen aus der EU austreten, oder wollen sie, dass es in der EU bleibt? Sein oder nicht sein."

Cigdem Toprak hatte kürzlich in der Welt jeden antikurdischen Rassismus der Türkei bestritten und für den türkischen Einmarsch in Nordsyrien den Kampf gegen die PKK verantwortlich gemacht. Dem widerspricht Ali Ertan Toprak heute in der Welt: Der Krieg der Türkei sei von Rassismus und Vertreibung geprägt: "Es ist perfide, wie Erdogan zu behaupten, dass keine ethnische Säuberung stattfinde, sondern es lediglich um die Bekämpfung eines terroristischen PKK-Ablegers gehe. Was wenn nicht eine ethnische Säuberung ist es, wenn Kurden und andere religiöse Minderheiten aus ihrer angestammten Heimat vertrieben werden, damit arabisch-sunnitische Flüchtlinge aus der Türkei dort angesiedelt werden können?"

Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie in Münster, kann den Opferdiskurs der Ostdeutschen nicht mehr hören. Zumal er an der Realität der Mehrheit der Ostdeutschen völlig vorbei gehe, schreibt er im Tagesspiegel: "Der gemeine Ossi ist wendig, und er ist dreist. Er hat es geschafft, der westlichen Elite ein schlechtes Gewissen zu verschaffen. Sein Verhalten, auch sein Wahlverhalten ist taktisch und instrumentell, und es ist durchschaubar. Mit seinem Protest will er sich zu unserem Problem machen. Wir müssen diesen Protest ernstnehmen, aber uns von ihm nicht instrumentalisieren lassen. Wir sollten nicht den Klagegesang einer Minderheit bedienen und uns als ihr verlängertes Sprachrohr missbrauchen lassen, indem wir den Ossi als ein benachteiligtes und entmündigtes Wesen porträtieren, dem die Anerkennung verweigert wird. Wir sollten den Blick frei bekommen und wahrnehmen, dass die Mehrheit der Ossis - unter teilweise erheblichen Anstrengungen und Entbehrungen, das muss man auch sehen - sich in das westliche System eingefädelt hat und in Deutschland angekommen ist."
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Geschichte

In der NZZ erinnert Kersten Knipp an den Auftritt des italienischen Dichters Gabriele D'Annunzio in Fiume vor genau hundert Jahren. D'Annunzio forderte damals, dass die heute zu Kroatien gehörende Stadt Italien als Kriegsbeute zugeschlagen werden sollte: Dass er dies über Monate fordern und Massen damit begeistern konnte, "war vor allem dank des Dichters Begabung für politische Inszenierungen möglich. Ihretwegen wird der knapp anderthalb Jahre dauernde Ausnahmezustand in der Adriastadt von den meisten Historikern - zu Recht - als ästhetische Vorwegnahme des Faschismus gedeutet. Dort fanden sich nahezu alle Elemente, die später auch in den großen faschistischen Massenzeremonien verwendet wurden: die Reden des charismatischen Führers vom Balkon; die Aufmärsche und Paraden; die schwungvollen Märsche und Hymnen, die pathetischen Chorgesänge; dazu eine eigens geschaffene Symbolwelt: Flaggen, Uniformen, Abzeichen; Münzen und Briefmarken; eigene Parolen und Losungen, in Fiume etwa die Formel 'eia eia alalà', intoniert nach Art des amerikanischen 'yippie, yippie yeah'."
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