9punkt - Die Debattenrundschau

Die Zeitlichkeit der Freiheit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2019. Die taz bilanziert, was 20 Jahre Scharia dem Norden Nigerias gebracht haben. Nach einem Besuch bei Julian Assange donnert Slavoj Zizek in der Welt: Nicht mal Hongkong liefert politisch heikle Fälle an China aus. Die SZ staunt über das Personalwunder der Berliner Bauakadmie, das Juristen in Architekten und Politik in wissenschaftliches Renomee verwandelt. Und der Guardian stimmt mit den Sardinen von Bologna ein sanftes Bella Ciao an.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.11.2019 finden Sie hier

Politik

Vor zwanzig Jahre hat der Norden Nigerias die Scharia eingeführt, erinnert Katrin Gänsler in der taz, und zwar begleitet von furchtbaren Massakern, die bis zu 5.000 Menschen das Leben kosteten. Die Muslime applaudierten damals noch: "Sie hofften, dass der Staat seiner Fürsorgepflicht für Arme nachkommt, Korruption eingedämmt, das Bildungs- und Gesundheitssystem verbessert wird. Kurzum: Es sollte wieder mehr Anstand und Moral in die Gesellschaft einziehen. Davon ist 20 Jahre später nichts zu spüren. Der Norden Nigerias, wo die Mehrheit der Bevölkerung dem Islam angehört, ist in vielerlei Hinsicht Nigerias abgehängte Region. Nirgendwo sonst gehen Kinder so kurz zur Schule wie dort; im Schnitt gerade einmal vier Jahre, - drei weniger als im Landesdurchschnitt. Nirgendwo sonst ist die Ungerechtigkeit zwischen Frauen und Männern so groß, nirgendwo die Armutsrate höher. Gouverneur Yerima heiratete indes eine 13-Jährige aus Ägypten und begründete das ebenfalls mit der Scharia."

Für die Welt berichtet Slavoj Zizek von seinem Besuch im Juli bei Julian Assange im Gefängnis, bei dem die beiden offenbar kein Wort miteinander wechselten, zumindest verrät Zizek nichts darüber. Stattdessen warnt er eindringlich und über Umwege davor, den Wikileaks-Gründer an die USA auszuliefern. Aber: "Allem Anschein nach ist Großbritannien den USA gegenüber unterwürfiger als Hongkong China gegenüber: Die Regierung Großbritanniens sieht kein Problem darin, jemanden, dem eine politische Straftat vorgeworfen wird, an die USA auszuliefern. Dabei ist Chinas Forderung sogar berechtigter, weil Hongkong letztlich ein Teil von China ist - die Formel lautet hier 'ein Land, zwei Systeme'. Offenbar ist die Beziehung zwischen Großbritannien und den USA jedoch 'zwei Länder, ein System' (das amerikanische natürlich). Der Brexit wird als Mittel zur Bewahrung britischer Souveränität beworben, und jetzt können wir, apropos Assange, schon sehen, worauf diese Souveränität hinausläuft - eine Unterwerfung unter die launischen Forderungen der USA."

Eine bizarre Geschichte schickt de Detroit Free Press durch den Äther: Demnach hat die amerikanische Einwanderungsbehörde ICE eine Fake-Universität geschaffen, mehreren hundert ausländischen Studenten 12.000 Dollar Gebühren im Jahr abgeknüpft und sie dann auch noch verhaftet und abgeschoben: Sie hätten wissen müssen, dass dies ein unsauberes Geschäft sei! Und für Wallungen sorgt auch ein Bericht von Pro Publica, demzufolge Gordon Sondland, dem amerikanischen EU-Botschafter und Zeugen im Impeachment-Vorverfahren gegen Trump, von mehreren Frauen sexuelle Belästigung vorgeworfen wird.
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Europa

In Bologna trat Beppe Grillo einst mit seinem verheerenden Verpisst-Euch-Tag gegen das politische Establishment die populistische Welle in Italien los, jetzt, glaubt der Guardian, könnte die Hauptstadt der einst roten Emilia-Romagna mit ihrer Sardinen-Bewegung Trendsetterin in anderer Hinsicht werden (über die Sardinen berichtete gestern auch die taz, unser Resümee): "Ist das vielleicht der erste populäre Aufstand gegen den rechten Populismus? Bewegungen kommen und gehen, gerade in Zeiten der Sozialen Medien. Einzigartig an dieser Bewegung ist jedoch das Register, in dem sie ihre Botschaft verbreitet. Transparente und andere Zeichen politischer Zugehörigkeit sind von den Demonstrationen verbannt, um möglichst viele Menschen einzubinden. Das Hauptziel der Kundgebungen ist, Werte wie Toleranz und Mäßigung in der Öffentlichkeit hochzuhalten. Teilnehmer sind aufgefordert, wüste Attacken eher zu ignorieren als mit gleicher Münze heimzuzahlen, in den Sozialen Medien oder in persona. Eine Facebook-Seite der Sardinen erklärt in Richtung Matteo Salvini: 'Jahrelang haben Sie Lügen und Hass über uns ausgeschüttet.' Auf den Plätzen wird dagegen wieder gesungen, oft die alte Partisanenhymne Bella Ciao."
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Kulturpolitik

Vor zwei Wochen wurde der Passauer SPD-Bundestagsabgeordnete und Jurist Florian Pronold zum Gründungsdirektor für den Wiederaufbau der Schinkel'schen Bauakademie ernannt. Ausgeschrieben war eine Stelle für eine "international bekannte, wissenschaftlich renommierte" Person, ein(e) MuseumsdirektorIn oder ein(e) ArchitektIn, schreibt Jörg Häntzschel in der SZ. Protest kommt nicht nur vom Bund Deutscher Architekten, sondern auch in Form eines offenen Briefes, den unter anderem Architekten, Museumsleiter und Wissenschaftler wie Philipp Oswalt, HG Merz oder Martino Stierli unterschrieben haben, so Häntzschel weiter. Und: "Fragen nach Pronolds Qualifikation konnte in den letzten Tagen keiner der Verantwortlichen plausibel beantworten. In der Pressemeldung zur Entscheidung hatte Baustaatssekretärin Anne Katrin Bohle erklärt, für Pronold sei die Bauakademie eben eine 'Herzensangelegenheit'. Für weitere Auskünfte stand sie nicht zur Verfügung."

Im SZ-Gespräch von Häntzschel mit der pikanten Tatsache konfrontiert, dass Pronold zuvor Juryvorsitzender des Programmwettbewerbs war und sich bei seiner Bewerbung aus dem Ideenfundus der Architekten bedienen konnte, winkt Barbara Ettinger-Brinckmann, die einzige Architektin, die mit über die Besetzung der Stelle entschied, ab: "Das ist für mich kein Ausschlusskriterium. Die Ergebnisse des Wettbewerbs waren öffentlich. Dass er sich mit dieser Thematik schon intensiv auseinandergesetzt hat, qualifiziert ihn in meinen Augen eher."

Weiters: Die NZZ druckt einen Artikel von Elisabeth Langgässer, erstmals 1949 in der "Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung" erschienen, in dem die Schriftstellerin für eine Neuordnung  des Kulturlebens ohne jede staatliche Einmischung plädierte: "Je offizieller das Gremium ist, das von ihm eingesetzt wurde, um die Werke des Geistes zu prüfen oder zu prämieren, desto gewisser wird auch der Geist nach dem Bild und Gleichnis des Staates geformt werden und endlich sein Abklatsch werden." Ebenfalls in der NZZ kommentiert der Philosoph Gernot Böhme den Text.
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Geschichte

Vor fünfzig Jahren erschoss das FBI in Chicago den Black Panther Fred Hampton unter etwas ungeklärten Umständen, zur Beerdigung kamen 5.000 Menschen und prangerten die Gewaltexzesse der Polizei an. Es mag sein, dass Hampton nicht im Schusswechsel getötet wurde, sondern regelrecht hingerichtet wurde, meint der Historiker Manfred Berg in der Zeit, warnt aber dennoch vor einer Heroisierung der Black Panthers: "Panther wurden Opfer illegaler Polizeiaktionen, so wie Fred Hampton, aber sie suchten auch die Konfrontation mit den pigs und attackierten Polizisten aus dem Hinterhalt. Mutmaßliche Spitzel und Verräter wurden kaltblütig liquidiert, persönliche und ideologische Fehden mit der Waffe ausgetragen. Auch wohlwollende Historiker haben den abgehobenen ideologischen Dogmatismus und diktatorischen Führungsstil der Panther kritisiert. Säuberungen und Spaltungen trugen ebenso sehr zum Niedergang der Partei bei wie das FBI. Völlig gescheitert sind die Black Panthers dennoch nicht. Einige Veteranen fanden den Weg in die etablierte Politik. Bobby Rush, ein Mitstreiter Fred Hamptons, vertritt seit 1993 einen Chicagoer Wahlbezirk im US-Repräsentantenhaus und brachte dem jungen Barack Obama 2000 eine krachende Niederlage bei, als dieser ihm sein Mandat streitig machen wollte."

In der Zeit der Völkerwanderung wanderten überhaupt keine Völker, lernt FR-Kritiker Arno Widmann im neu gestalteten Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle: Meist zogen einzelne Kriegerverbände durch das Römische Reich, auf der Suche nach Leuten, die sie finanzierten. Überhaupt findet er einen Besuch dort sehr lohnenswert: "Die für die heutige Debatte interessanteste Information der Ausstellung ist, dass nicht die Völkerwanderungen die Ursache für den Zusammenbruch des Römischen Reiches waren, sondern dass der ihnen voranging. Der Staat als Beute war spätestens seit den Bürgerkriegstagen der späten Republik ein innerrömisches Konzept. Das Kaisertum, das davor schützen sollte, vergrößerte eher noch den Hunger auf den Besitz des Imperium Romanum. In diesen Kämpfen wurde das Römische Reich so weit zerrissen, dass die 'Barbaren', die zunächst sich hatten integrieren wollen in die römische Welt, dazu übergingen, auch nach Teilen von ihr zu schnappen. Der Untergang des Römischen Reiches war von den römischen Bürgern selbst betrieben worden, lange bevor es von außen 'erobert' werden konnte."
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Gesellschaft

Die Zahl der Verkehrtoten in Deutschland ist drastisch gesunken, von 21.000 im Jahr 1970 etwa auf heute 3.300. Das ist nicht unbedingt nur das Verdienst der Autoindustrie, stellt Edo Reents in der FAZ klar, sondern auch schärferer Gesetze. Jetzt kann Raserei im Stadtverkehr als Mord gewertet werden, wenn dabei Menschen ums Leben kommen: "Was bedeutete das, sollte sich eine solche Einschätzung häufen, für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellenwert des Autos - der Deutschen liebstes Kind ein Mörder beziehungsweise eine Mordwaffe? Wird es hier, analog zu Amerika, das sich über den Schusswaffengebrauch regelmäßig die Haare rauft, ohne dass sich etwas änderte, dann bald Diskussionen geben: Autofahren als deutscher Freiheitsmythos? Warum lässt man es immer noch zu, dass jeder Bürger so leicht an ein Auto kommt?"

Der Mietendeckel wird nicht die Lösung gegen knappen Wohnraum und explodierende Mieten bringen, glaubt der Zukunftsforscher Daniel Dettling in der Welt. Immer mehr Singles und Senioren leben in den Städten, junge Familien verlassen die Stadt in Richtung Umland. Dettling plädiert für "vernetztes Wohnen": "'Tiny Living' setzt auf nachhaltiges, flexibles Wohnen in kleineren Räumen. In Großstädten wie Hannover entstehen bereits Ökodörfer von mehreren Hundert Einheiten, und man setzt dabei auf drei Zielgruppen: 'Junge Radikale', die reduziert leben wollen. Senioren, die Einsamkeit oder Altersarmut vermeiden wollen, und die mittlere Generation, die auf der Suche nach einer neuen Balance von Selbstbestimmung und Gemeinschaft ist."
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Medien

In der SZ berichtet Wolfgang Janisch, dass das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe grundsätzlich zum Recht auf Vergessen geurteilt hat. Demnach gilt dies im Prinzip auch für Menschen, die Kapitalverbrechen begangen haben, aber nicht vollständig und lückenlos: "Wenn ein Betroffener einen berechtigten Anspruch auf Schutz seiner Persönlichkeitsrechte geltend macht - und nur dann müssen die Medien überhaupt tätig werden -, muss man die Suche nach solchen Artikeln einfach ein wenig komplizierter machen. Und zwar, indem man den Namen im Artikel belässt, aber für die Suchmaschine nicht auffindbar macht." Janisch kommentiert den Urteilsspruch in einem weiteren Text als klugen Kompromiss, besonders gut gefällt ihm dabei ein poetischer Satz der Richter: "Die Möglichkeit des Vergessens gehört zur Zeitlichkeit der Freiheit." In der taz findet Carolina Schwarz das Urteil in Bezug auf die Resozialisierung von Straftätern, auf die Menschenwürde und die Fehlbarkeit des Menschen richtig. Eine Gefahr sieht sie in der Entscheidung aber auch: "Sie darf nicht als Vorbild für alle Fälle verwendet werden. Gerade in einem Land wie Deutschland, in dem gut und gerne vergessen und verdrängt wird, ist es wichtig, zu erinnern."
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