9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2020. In der Zeit antwortet Achille Mbembe auf seine Kritiker und bleibt bei seiner Position zu Israel. Er will auch kein "Nachbeten von Katechismusartikeln ohne Überzeugung". Ebenfalls in der heute so reichhaltigen Zeit konstatiert der Psychiater Hans-Ludwig Kröber, dass das Attentat von Hanau eher als  "finaler psychotischer Amoklauf denn als ein ideologisch motivierter Terroranschlag" zu sehen sei. Und nochmals die Zeit bringt erste neue Archivfunde über Papst Pius XII. und den Holocaust. Laut Meedia wird inzwischen intensiv Über Pressesubventionen nachgedacht. Die Verleger sind dafür, fragt sich nur wie. Die FAZ betrachtet schon mal das österreichische Modell.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.04.2020 finden Sie hier

Ideen

Die Ruhrtriennale ist inzwischen wegen Corona abgesagt, aber die Diskussion über Achille Mbembe, der die Eröffnungsrede halten sollte, geht weiter (unsere Resümees).Die Zeit bringt eine Erwiderung Mbembes auf seine Kritiker, namentlich den FDP-Politiker Lorenz Deutsch und den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein. Mbembe legt ausführlich dar, dass er den Holocaust als eine Art Verlängerung zuvor verübter kolonialer Verbrechen sieht. In Bezug auf Israel und die Palästinenser beschreibt er Israel wieder als einzigen Akteur: "In Hinblick auf den Kolonialismus im Allgemeinen ist meine politische und philosophische Position einfach. Ich bin gegen jede Form von Kolonialismus. Die israelische Politik in den besetzten Gebieten unterstütze ich daher nicht und möchte in keiner Form mit ihr in Verbindung gebracht werden. Wenn aber die Tatsache, dass man den Kolonialismus nicht unterstützt, ein Verbrechen oder ein Beweis für Antisemitismus wäre, dann würden zweifellos viele Israelis selbst diesen Test nicht bestehen." Am Ende seines Textes geht er zum Gegenangriff über: "Wenn Denken oder Glauben nicht mehr frei ausgeführte Handlungen des Subjekts sind, sondern ein Nachbeten von Katechismusartikeln ohne Überzeugung, und wenn Dissens ein Vorwand für Repression sein kann, dann gibt es keine Gewissensfreiheit mehr."

Der Aufsichtsrat der Ruhrtriennale, dem auch Norbert Lammert angehört, muss sich dringend positionieren, fordert Alan Posener gemeinsam mit Christiane Hoffmanns in der Welt: "Es ist bereits das dritte Mal, dass Carp radikale 'Israelkritiker' eingeladen hat." Stefanie Carp sei als Chefin der Ruhrtriennale untragbar.

Weitere Artikel: Angeregt blättert Arno Widmann in der FR im Katalog zur derzeit noch geschlossenen Berliner Ausstellung "Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert". Mit Blick auf die zunehmenden Entgleisungen im Netz sorgt sich der Philosoph Gernot Böhme in der NZZ um den gesellschaftlichen Zustand der Zivilisiertheit: "Was anderes als Disziplinierung wird uns übrig bleiben, wenn der progressive Verfall unserer Zivilisiertheit sich fortsetzt?" Ebenfalls in der NZZ geht die Ethnologin Brigitta Häuser-Schäublin dem Verhältnis von Klopapierkäufen und Kontrollverlust nach.
Archiv: Ideen

Europa

Die Schweden mögen noch so diszipliniert sein, das "Schwedische Modell" war dennoch falsch, schreibt der schwedische Politologe und Publizist Hans Bergström im Tagesspiegel: "Nach Jahren extrem hoher Einwanderung aus Afrika und dem Nahen Osten sind 25 Prozent der schwedischen Bevölkerung - 2,6 Millionen aus einer Gesamtbevölkerung von 10,2 Millionen - von nicht schwedischer Herkunft. In der Stockholmer Region ist dieser Anteil sogar noch höher. Unter den Covid-19-Toten sind Einwanderer aus Somalia, Irak, Syrien und Afghanistan stark überrepräsentiert. Dies wurde teilweise einem Mangel an Informationen in den Sprachen der Einwanderer zugeschrieben. Aber ein wichtigerer Faktor scheint die Wohndichte in einigen Immigrantenvorstädten zu sein, die durch die engere körperliche Nähe zwischen den Generationen noch verstärkt wird."

Jetzt geht das große Hauen und Stechen los, wer nach den Lockerungen was wann darf, stellt Constanze von Bullion in der SZ kopfschüttelnd fest: "Deutschlands versammelte Wutbürger (kämpfen) inzwischen recht unverfroren ihre Partikularinteressen durch. Die nordrhein-westfälische Möbelindustrie etwa hat so erfolgreich gejammert, dass Ministerpräsident Armin Laschet die Einrichtungshäuser öffnen ließ. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat das Oktoberfest verboten, dafür aber für den 9. Mai wieder Bundesligaspiele in Aussicht gestellt. Jedes Spiel ein Risiko für Spieler und Betreuer und in der Folge auch für Alte und Vorerkrankte im Land. Kümmert offenbar keinen der ambitionierten Herren. Das ist unverantwortlich."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Der Psychiater und renommierte Gutachter Hans-Ludwig Kröber beharrt in der Zeit darauf, dass die Tat des Attentäters von Hanau trotz mancher rassistischer Motive in seinen irren Manifesten eher als ein "finaler psychotischer Amoklauf denn als ein ideologisch motivierter Terroranschlag" gesehen werden müsse: "Es war ein maximal gewalttätiger Ausstieg aus einem Kampf gegen eine finstere Macht, die weder von Türken noch Kurden, noch Roma oder überhaupt einer benennbaren Personengruppe gesteuert wird. Diese nicht zu bewältigende Macht war das seine Existenz zersetzende, psychotische Grauen."

Mit leichtem Schaudern erinnert sich der in Berlin lebende irakisch-deutsche Schriftsteller Najem Wali in der SZ angesichts der Maßnahmen, die Deutschland zur Bekämpfung der Ausbreitung des Virus ergriffen hat, an Isolation, Denunziation, Haft und Überwachung im Irak der Siebziger: "Wenn sich damals ein Ex-Häftling versehentlich mit einem Bekannten oder Freund traf, der bereits selbst unter Verdacht stand, musste er vor der Behörde erscheinen und die Art der Beziehung zum anderen erläutern. Manchmal wurde er erneut verhaftet, weil er gegen die Isolationsauflagen verstoßen hatte. Wenn der Entlassene in eine andere Stadt reiste, stellte er fest, dass sein Name bekannt war und er kontrolliert wurde, bevor er die neue Stadt betrat. Am Kontrollpunkt musste er die Gründe für seine Reise erklären, als würde er aus einem Ländern einreisen und sich nicht innerhalb der Grenzen seines Landes bewegen."

Von Agamben über Zizek bis zu Heinz Bude oder Naomi Klein - Philosophen und Soziologen rufen den Systemwechsel nach der Coronakrise aus. Aber vielleicht geht es auch eine Nummer kleiner, meint Hannes Soltau im Tagesspiegel: "Nicht zu verleugnen ist, dass die Störanfälligkeit der Gesellschaft offenbar wird. Doch eine Lehre aus der Krise ist ohne die gründliche Reflexion auf die Gründe und ohne eine Analyse der ihr zugrunde liegenden sozio-ökonomischen Verhältnisse nicht zu haben. Im besten Falle entstehen dafür derzeit Risse in der Verpanzerung des alltäglichen Betriebs. Ein Knacks, der Frischluft in die blinde Betriebsamkeit bringt.(…) Man denke an beschämende Arbeitsverhältnisse und schlechte Bezahlung in der Care-Arbeit bis hin zur Ausrichtung von kritischer Infrastruktur an Profitinteressen."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Die Zeit veröffentlicht einen ersten Bericht der Forschergruppe, die in den Archiven des Vatikan überprüfen soll, was der Vatikan wann über die Judenvernichtung wusste, und wie er reagierte. Obwohl die Arbeiten der Forscher wegen der Coronakrise unterbrochen wurden, konnten sie bereits einige wichtige Details zu Tage fördern. Der Vatikan wusste bereits sehr früh, nämlich 1942, Bescheid, gab aber auf Nachfragen der amerikanischen Botschaft nur äußerst lückenhaft Auskunft. Da die Informationslage damals noch sehr dünn war, hätten die Amerikaner das Wissen des Vatikans sehr gut gebrauchen können: "Erst im weiteren Verlauf des Jahres 1942 erhielt man von der polnischen Exilregierung in London eine Dokumentensammlung, die den Massenmord an den Juden als Tatsache erkennen ließ und zu einem öffentlichen Protest der alliierten Mächte am 17. Dezember 1942 führen sollte. Der Heilige Stuhl wollte sich trotz nachhaltiger Bitten der USA diesem Protest nicht anschließen." Einige der Dokumente, die die Forscher gefunden haben, werden im Zeit-Dossier dokumentiert. Außerdem unterhält sich Evelyn Finger  mit dem zur Forschergruppe gehörenden Kirchenhistoriker Hubert Wolf, der die Attacken deutscher Intellektueller auf Pius XII auch als eine Entlastungsstrategie sieht.

Die Gedenkfeiern zum 75. Jahrestag des Siegs der Sowjetarmeen fallen wegen Corona ebenfalls aus, berichtet die Zeit-Korrespondentin Alice Bota, die zugleich schildert, wie das Bild vom Ende mit dem vom Anfang des Krieges verwoben wird: "Putin behauptet, Polen habe den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mitzuverantworten. Oder dass die Sowjetunion notgedrungen sich auf einen Pakt mit Hitler einließ, aber erst nachdem alle anderen schon einen geschlossen hatten. Das Außenministerium findet, das Baltikum sei nicht annektiert, sondern 'angeschlossen' worden... Und die Verantwortung des sowjetischen Geheimdienstes für die Verbrechen von Katyn, für die Exekution von mehr als 20.000 polnischen Offizieren, wird in den russischen Staatsmedien zwar nicht geleugnet; aber gelegentlich erlaubt man sich die Diskussion, ob es nicht womöglich doch Hitler war."

Weitere Artikel: In der NZZ nimmt Judith Leister den 300. Geburtstag des jüdischen Schriftgelehrten Gaon von Wilna zum Anlass, um zu schildern, wie schwer sich Vilnius bis heute mit seiner jüdischen Vergangenheit tut.
Archiv: Geschichte

Politik

Wie wird der Ramadan während der Coronakrise ablaufen, fragt sich in der SZ der ägyptische Schriftsteller Khaled al-Khamissi: "Die Armen im Land warten sehnsüchtig auf den Ramadan, um sich an den sogenannten Tischen der Gnade endlich einmal sattessen zu können. Diese Tafeln werden im ganzen Land auf der Straße errichtet und von wohlhabenden Bürgern finanziert. In diesem Jahr aber hat die Regierung das Aufstellen der Gnadentische bereits untersagt, was erheblichen Unmut auslöst. Wie sollen die Mahlzeiten zu den Armen gelangen?"
Archiv: Politik

Medien

Nun ist es also so weit. Oliver Berben berichtet bei Meedia über intensive Diskussionen in Brüssel und Berlin über Subvention von Medien (die Zeitungen gaben sich bei diesem Thema bis vor kurzem noch jungfräulicher als der Papst). Und nun ist nur noch die Frage, wie: Ein Medienfonds? Die Verleger wollen aber - vielleicht auch um andere Medien draußen zu halten - lieber mehr Geld für die Zustellung von Papierzeitungen: "Schon vor der Krise beklagten Verlage gestiegene Kosten, weil die meisten Zeitschriften per Post verschickt werden. 'Wir müssen schnell an einem runden Tisch klären, was jeder zu einer einvernehmlichen und dauerhaft tragbaren Lösung in der Zustellung beitragen kann', sagte der VDZ-Vizepräsident und Sprecher der Publikumszeitschriften, Philipp Welte. An dem Gipfel sollten sich aus VDZ-Sicht Entscheidungsträger aus Politik, Post und Verlagen beteiligen." Schon jetzt wird die Zustellung von Zeitungen mit 40 Millionen Euro jährlich subventioniert. Und schon vor der Krise forderten Zeitungen eine Verzehnfachung dieser Summe (unser Resümee).

Wie das mit Mediensubventionierung funktioniert, erzählt Andreas Mihm in der FAZ am Beispiel Österreichs: "Die Medien erhalten als einzige Wirtschaftsbranche eine Sonderförderung. Denn die hätten, sagte Fleischmann der Zeitung Der Standard dieser Tage, 'ihre staatspolitische Verantwortung ganz herausragend wahrgenommen'. Reine Online-Medien gehören offenbar nicht dazu, denn auf sie regnet nichts von den rund dreißig Millionen Euro Corona-Sonderförderung herab." In Österreich profitieren im übrigen vor allem die Sebastian Kurz so gewogenen Boulevardzeitungen, auch von den üppigen Anzeigenetats der Regierung.
Archiv: Medien

Kulturpolitik

Monika Grütters hat sich im Kulturausschuss des Bundestages zähneknirschend für eine pauschale monatliche Zuwendung von 1200 Euro für Künstler ausgesprochen - zieht die Grundsicherung aber vor, berichtet Petra Kohse in der Berliner Zeitung und zitiert: "'Natürlich kann man alles schlechtreden und verlangen, dass noch etwas anderes kommt. Aber wie soll ich im Bundestag durchbringen, dass eine Gruppe, für die bereits 156 Milliarden Euro da sind, noch mehr braucht, weil es ihr unangenehm ist, die vorhandenen Hilfen in Anspruch zu nehmen?!' Diese Art von 'in Ordnung' also. Die mütterliche."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Grütters, Monika

Internet

Der Medienwissenschaftler Tilman Baumgärtel benennt in der taz zwei Hauptprofiteure der Coronakrise: die Videosoftware Zoom und Microsoft mit seiner Software Teams, die ebenfalls Videokonferenzen erlaubt und über die viele Schüler heute Hausaufgaben bekommen. Microsoft offeriert den Schulen kostenlose Lizenzen - und fixt so die Schüler an, so Baumgärtel. Das sollte man im Kopf behalten, weil Schulen gerade fünf Milliarden Euro zur Verbesserung digitaler Strukturen bekommen sollen: "Das Geld ist zum Teil für die Anschaffung von Computern, Servern, Routern und WLAN gedacht, zum Teil aber auch für die Entwicklung von Lern- und Kommunikationsplattformen. Ausdrücklich werden hier 'gemeinsame Server- und Dienstlösungen' angestrebt, wobei 'prioritär Open-Source-Angebote' heranzuziehen seien. An diesem Ziel muss unbedingt festgehalten werden. Es kann nicht sein, dass als ein Ergebnis der Coronakrise nun proprietäre Programme wie Zoom oder Teams zum De-facto-Standard werden, weil Lehrer und Schüler mit ihnen umzugehen gelernt haben."

Wir erleben derzeit eine "Coronalisierung der Lebenswelt", meint hingegen der Philosoph Markus Gabriel in Anlehnung an Jürgen Habermas in der Welt: "Diese besteht darin, dass wir Europäer mehr denn je zum digitalen Proletariat US-amerikanischer Digitalunternehmen werden. Wir haben noch niemals so viele Daten für Google, Facebook und neuerdings Zoom, Skype und Co. produziert wie in den letzten Wochen." Deshalb warnt er vor der Corona-App, denn: "Datensicherheit ist nicht dasselbe wie Ethik. Denn die entscheidende Frage ist, ob und unter welchen Bedingungen die Einführung einer digitalen Gesundheitsüberwachung in Deutschland und Europa ethisch gerechtfertigt werden kann."
Archiv: Internet