9punkt - Die Debattenrundschau

Wie es sich anfühlt, eine gemeinsame Welt zu bevölkern

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2020. Zeit online schildert, wie LGBT-Rechte in Polen zur Not mit Gewalt bekämpft werden. Antirassismus kann zu Ideologie werden, fürchtet Alain Finkielkraut in einem Gespräch in der Welt - aber das bürgerliche schlechte Gewissen werde so keine Erlösung finden. In der FAS findet der Kulturheoretiker Paul B. Preciado in seiner Transition von Frau zu Mann das Vorbild für die Transition von Demokratie in "Somatokratie". Der New Statesman muss J. K. Rowling gar nicht erst lesen, um die Distanzierungen der Harry-Potter-Stars von ihrer Autorin zu unterstützen. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.06.2020 finden Sie hier

Gesellschaft


Auch nachdem J.K. Rowling sich in einem langen Blogpost erklärt hat (unser Resümee), lässt Amelia Tait im New Statesman kein gutes Haar an der Autorin. Ohne auf die Argumente von Rowling einzugehen - die in ihrem Post fragte, ob man wirklich Frauenrechte unter den Bus werfen muss, um Transmenschen vor Diskriminierung zu schützen - übernimmt sie die Behauptung der Harry-Potter-Stars, Rowlings Äußerungen seien "transphob": "Manche halten es für heuchlerisch, dass Menschen, die Rowling so viel verdanken, sie so öffentlich verurteilen, aber sie sind nicht allein. Sie repräsentieren eine ganze Generation, die die Transgender-Rechte weitgehend unterstützt - eine 2019 durchgeführte Umfrage eines Washingtoner Wahlforschungsinstituts ergab, dass 68 Prozent der jungen Amerikaner in den letzten fünf Jahren die Transgender-Rechte stärker unterstützt haben - viele von ihnen verdanken Rowling einen Großteil ihrer Weltsicht, fühlen sich aber nicht mehr in der Lage, der Autorin beizustehen."

Grace Robertson ist in Vanity Fair überzeugt, das Rowling - entgegen ihrer Bekundungen - Transmenschen hasst: "Zeitweise haben britische Feministinnen ihre traditionellen Verbündeten in den USA für die extreme Rechte verlassen. Während sie 2019 in Washington, D.C. an einer Podiumsdiskussion der Heritage Foundation zu diesem Thema teilnahmen, konfrontierten Kellie-Jay Keen-Minshull und Julia Long, zwei dieser britischen Feministinnen, die sich gegen die Transgender-Rechte aussprechen, die nationale Pressesprecherin der Menschenrechtskampagne, Sarah McBride, die eine Transsexuelle ist, wegen ihres angeblichen 'Hasses auf Lesben'. Die Heritage Foundation, eine bekannte Gegnerin der Ehegleichheit, war offensichtlich eine geringere Bedrohung für Lesben. Es ist unmöglich, in den britischen Medien als Transfrau zu arbeiten und nicht auf diese Art 'feministischer' Transphobie zu stoßen."

Ist die Zeit des lustvollen Risikos vorbei? Wenn immer größere Bereiche des Lebens Gefahrenabwägungen für andere erfordern? Auf Zeit online fürchtet es die Literaturwissenschaftlerin Bernadette Grubner: "Am Beispiel der Sexualität lässt sich das gut zeigen. Die Angst vor sexuell übertragbaren Krankheiten trägt nicht dazu bei, dass Menschen mehr und fröhlicheren, nun eben 'sicheren' Sex haben. Sie führt eher dazu, dass andere ganz wesentlich als potenzielle Überträger einer Krankheit angesehen werden. Trey Parker und Matt Stone haben das in ihrer Animationsserie South Park in der Folge Proper Condom Use satirisch aufs Korn genommen. Hier führt der schulische Aufklärungsunterricht, in dem sexuell übertragbare Krankheiten im Mittelpunkt stehen, dazu, dass die Mädchen eine panische Angst vor Jungen entwickeln, die nicht permanent Kondome tragen."

Bei einem Wahlkampfauftritt in Polen hat Präsident Andrzej Duda die Förderung von LGBTI-Rechten als eine "Ideologie" beschrieben, die destruktiver sei als der Kommunismus. In Polen kann er damit durchaus punkten, erklärt Ulrich Krökel auf Zeit online: So hat der LGBT-Aktivist Jakub Gawron die Ablehnung "sogar auf einer Karte dokumentiert. Der 'Atlas des Hasses', den er mit einem kleinen Team erarbeitet hat, zeigt die schnell wachsende Zahl der 'Zonen', die sich für 'frei von LGBT-Ideologie' erklärt haben. Dabei sind diese Deklarationen juristisch bedeutungslos. Niemand, der sich in einer der 'Zonen' etwa für die Rechte von Homosexuellen einsetzt, kann dafür belangt werden. Im Gegenteil: Die polnische Verfassung schützt ausdrücklich 'die Freiheit von jedermann, seine Anschauungen zu äußern'. In der gelebten Wirklichkeit aber stehen die verbrieften Grundrechte nur auf dem einen Blatt. Auf einem anderen stehen gesellschaftlicher Gruppendruck oder offene Gewalt wie in Białystok."
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Ideen

Nur vage Worte findet der Kulturheoretiker Paul B. Preciado, der auch mal eine Frau war, aber alles an allem mehr an der Transition als der Identität interessiert sei, für J.K. Rowlings Intervention - interviewt wird er von Harald Staun in der FAS. Er wäre kein französischer Theoretiker, wenn er mit der Transition nicht einen größeren Diskurs verbände: "Immer noch halten viele der bekannten linken Denker wie Zizek oder Badiou das Engagement von Feministen oder Antirassisten für Kämpfe um kulturelle Anerkennung. Nein, es geht um die Infrastruktur des Kapitalismus. Niemand interessiert sich mehr für Produktion, das ist vorbei. Wir müssen über Reproduktion des Lebens reden und die Gewalttechniken, die damit verbunden sind. Über unser Überleben als Spezies. Das Ziel ist auch nicht irgendeine Art von Kommunismus, sondern eine komplette Veränderung des Begehrens und des Bewusstseins. Dazu gehört auch eine radikale Kritik der modernen Demokratie. Denn es geht auch um eine andere Art politischer Repräsentation. Ich nenne das Somatokratie: nicht die Macht des Demos, des Volkes, sondern die Macht lebendiger Wesen, die Macht des Lebens."

Antirassismus kann zu Ideologie werden, fürchtet Alain Finkielkraut in einem Gespräch mit Eugénie Bastié, das in der Welt abgedruckt ist. Und diese Ideologie hat eine Tradition: "Das bürgerliche schlechte Gewissen hat eine Menge Intellektuelle dazu gebracht, sich auf die Seite der Arbeiterklasse zu schlagen. Sie büßten so für ihre Privilegien und sahen sich durch ihren Kampf für die Gleichberechtigung erlöst. In der heutigen extremen Linken ist nun diese Beschämung, weiß zu sein, an die Stelle des bürgerlichen schlechten Gewissens getreten - die Privilegien jedoch konnte sie nicht abstreifen. Es gibt also keine Sühne für ihr Schuldgefühl. Und auch keine Erlösung."

Weiteres: In der NZZ denkt der Kulturtheoretiker Jan Söffner mit Platon, Schmitt und Bourne über den "Wächterstaat" in Coronazeiten nach. Außerdem hat die NZZ ihr Wochenendspecial zum hundertsten Geburtstag von Max Weber online nachgereicht: Der Ideenhistoriker und Weber-Biograf Christian Marty erklärt, was es für Max Weber hieß, in der Moderne, also frei und selbstbestimmt zu leben. Der Soziologe Tilman Allert liest die Reisebriefe Webers. Und der Historiker Peter Hersche beschreibt Weber als Vordenker der Ökologie.
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Medien

Die ARD sendet heute eine Doku über China und die Coronakrise. Dabei haben sich die Filmemacher vom "China Intercontinental Communication Centre" (CICC) "beraten" lassen (das Angebot, gleich einen Film dieses Büros, das sonst die Führerschaft Xi Jinpings preist, zu senden, hat man allerdings abgelehnt). Friederike Böge, Peking-Korrespondentin der FAZ, hat sich den Film kritisch angesehen: "Die Filmemacher bemühen sich, auf Distanz zu ihrem Material zu gehen: Es vermittle 'kein vollständiges Bild' und sei 'unter nicht nachvollziehbaren Umständen' entstanden. Viele Fragen müsse der Film unbeantwortet lassen. Doch er zeichnet ein Bild, das sich mit dem offiziellen Narrativ auf bedenkliche Weise überschneidet."
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Geschichte

Die Frage der Reparationen hat sich sofort nach dem Ende der Sklaverei gestellt, bemerkt Thomas Piketty in seiner Kolumne für Le Monde. Nur waren es die Sklavenhalter, die entschädigt wurden, nicht die Sklaven: "Sowohl im Vereinigten Königreich als auch in Frankreich wurde die Abschaffung der Sklaverei von einer Entschädigung für die ehemaligen Besitzer durch die öffentliche Hand begleitet. Für die 'liberalen' Intellektuellen wie Tocqueville oder Schoelcher lag das auf der Hand: Wenn man die Besitzenden ihres Besitzes entledigte (der ja in einem legalen Rahmen erworben worden war), ohne ihnen eine faire Kompensation auszuzahlen, wie würde das sonst noch eskalieren? Was die ehemaligen Sklaven anging: Sie sollten die Freiheit lernen, indem sie hart arbeiten."

Außerdem: In der FAZ erinnert der Historiker Joachim Tauber an die Okkupation der baltischen Staaten durch Stalins Truppen vor achtzig jahren und konstatiert, dass "Russland die Legende vom freiwilligen Beitritt der drei Länder zur Sowjetunion wieder aufleben lässt".
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Politik

Europa ist im Syrienkrieg passiv geblieben, und nun soll es dem stets noch marodierenden Regime beim Wiederaufbau helfen. In der taz wenden sich Christin Lüttich und Ferdinand Dürr von der Solidaritätsinitiative "Adopt a Revolution" gegen ein Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik, dem es nur darum gehe, dass Europa einen Fuß in der Tür behalte. Die Autoren schlagen dagegen eine Hlfe vor, die sich nicht ans Regime wendet: "Statt syrische Autobahnen zu sanieren, über die dann die Panzer des Assad-Militärs rollen, könnte Deutschland versuchen, die kurdische Selbstverwaltung in Nordost-Syrien zu stabilisieren. Noch gibt es Chancen, die demokratischen Ansätze und die Idee einer multiethnischen, multikonfessionellen Gesellschaft zu erhalten, bei aller berechtigten Kritik an der dominierenden PYD. Als Teil der Anti-IS-Koalition haben die Kurd*innen im Kampf gegen den 'Islamischen Staat' westliche Werte verteidigt und dafür einen hohen Preis bezahlt."

In der Welt hofft Ferdinand Dürr, dass die Bundesregierung nicht dem Druck einiger Länder nachgibt, wieder Straftäter nach Syrien abzuschieben. Denn Syrien sei ein Folterstaat. Zweiflern empfiehlt er, sich über den Prozess gegen zwei Syrer in Koblenz zu informieren: "Es geht um Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Folter und Mord. Aber der Aufschrei in den sozialen Medien bleibt aus, niemand fordert in dem Zusammenhang eine Verschärfung des Ausländerrechts. Denn die 58 Morde und Folter in über 4000 Fällen sind nicht in Deutschland passiert, sondern in einem syrischen Gefängnis. Beim Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz geht es nicht nur um die beiden mutmaßlichen Täter Anwar R. und Eyad X. Vielmehr geht es um ein ganzes System von Einschüchterung und Überwachung bis hin zu Hinrichtungen und Folter, die zum Wesenskern der syrischen Diktatur gehören".

In China gibt es wieder mehr Neuinfektionen mit dem Coronavirus, berichtet Zeit online, obwohl man bereits glaubte, den Virus besiegt zu haben. In Peking wurden einige Viertel unter Quarantäne gestellt. In der Welt findet Pia Heinemann diese Reaktion völlig in Ordnung. In Amerika sieht die Situation ganz anders aus, berichtet Hannes Stein, ebenfalls in der Welt: "Zusammenfassend kann man sagen, dass Amerika nach dem 25. Mai beschlossen hat, so zu tun, als gäbe es das Coronavirus nicht mehr - über alle ideologischen Grenzen hinweg. Die Linken, die gegen rassistische Polizeigewalt demonstrieren, sagen zur Begründung, sie seien bereit, ihr Leben für die gute Sache zu riskieren. ... Trumps Anhänger haben die Seuche ohnehin nie ernst genommen. Rechte amerikanische Medien wie Fox News haben die Fehlinformation verbreitet, diese Krankheit, gegen die es immer noch keine verlässliche Kur und keinen Impfstoff gibt, sei nicht schlimmer als eine gewöhnliche Grippe. So wurde das Tragen von Masken zu einem Symbol im Kulturkampf."
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Europa

In der NZZ denkt der Politologe Ivan Krastev darüber nach, was die Corona-Pandemie für unsere Gesellschaften bedeuten könnte. Er macht dabei sieben Paradoxa aus. Eins davon ist die verblüffende Gleichzeitigkeit von Abschließung und Öffnung: "Das große Paradoxon bei Covid-19 ist, dass die Schließung der Grenzen zwischen den EU-Staaten und die Isolation der Menschen in ihren Wohnungen uns kosmopolitischer denn je gemacht haben. Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte reden die Menschen überall auf der Welt über dasselbe und teilen dieselben Ängste. In zahllosen Stunden vor Computer- und Fernsehschirmen vergleichen die Menschen zu Hause das, was sich bei ihnen abspielt, mit dem, was anderen anderswo passiert. Es mag vielleicht nur für die Dauer dieses einen seltsamen Moments in unserer Geschichte sein, aber wir können nicht leugnen, dass wir gegenwärtig erleben, wie es sich anfühlt, eine gemeinsame Welt zu bevölkern."

In einem bemerkenswerten kleinen Essay beschreibt Konrad Schuller, der Polen-Korrespondent der FAS, die andauernde Ignoranz der Deutschen gegenüber Polen. Das betrifft einerseits die Verbrechen, die die Wehrmacht in Polen beging, aber auch die polnische Geschichte insgesamt: "Mittlerweile glaube ich zu wissen, dass meine Wissenslücken kein Zufall waren. Dass sie Teil einer deutschen Tradition waren. Einer Tradition der teils wissentlichen, teils fahrlässigen Missachtung. Die Geschichte des Schweigens über Polen beginnt mit einem Akt politischer Zerstörung: 1795 teilten Österreich, Preußen und Russland Polen gewaltsam auf. Für vier Generationen, also bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, verschwand Polen von der Karte. Gnesen, wo Boleslaw gekrönt wurde, ist damals preußisch geworden. Krakau, wo Polens Könige in der Wawel-Kathedrale liegen, wurde österreichisch, und Warschau russisch."
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