9punkt - Die Debattenrundschau
Es gibt Grenzen!
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Ideen
"Wissenschaftliche Autorität bedeutet nicht Unfehlbarkeit", erinnert der Frankfurter Philosophie-Professor Marcus Willaschek in der FAZ mit Blick auf die Kritiker von Immanuel Kant (und Christian Drosten). Kants rassistische, antisemitische und frauenfeindliche Äußerungen ließen sich nicht leugnen: "Natürlich muss man sehr genau prüfen, ob Kants Fehlurteile sich auf seine Ethik, Rechtsphilosophie, politische Theorie und andere Teile seines Werkes ausgewirkt haben. Nach allem, was wir wissen, ist das zumindest für die grundlegenden Ideen und Thesen seiner praktischen Philosophie - den kategorischen Imperativ, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Idee einer Weltfriedensordnung - nicht der Fall. Mit Blick auf andere Thesen - Kants Beschränkung des aktiven Wahlrechts auf männliche Besitzbürger, der rechtlich untergeordnete Status von Frauen, die Reduzierung der Natur auf ein bloßes Mittel menschlicher Selbstverwirklichung - fällt die Prüfung weniger positiv aus. Doch auch das zeigt nur, was ohnehin klar ist: Kant war kein moralisches oder philosophisches Orakel; die Lektüre seiner Schriften ersetzt nicht eigenes Denken und Urteilen."
In ihrer taz-Kolumne ist Isolde Charim nicht sehr glücklich mit dem neuen Denkmalsturz, denn nach dem Tod von George Floyd gehe es in den USA nicht um Minderheitenrechte, sondern um gleiche Rechte für alle: "Das ist keine Identitätspolitik, die Minderheiten stärken und damit auch in eine Nische stellen will. Es ist vielmehr eine neue Perspektive auf die Gesamtgesellschaft - aus einem spezifischen Blickwinkel. Aus jenem, wo offensichtlich wird: Die Gesellschaft genügt ihren eigenen Ansprüchen nicht. Sie verfehlt ihre eigenen Prinzipien: Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichbehandlung der Bürger. Es ist ein Aufstand jener, denen ihr Bürgerstatus aufgrund ihrer speziellen Identität verweigert wird. Und die diesen nun aufgrund ihres Menschseins einfordern. Genau das macht auch ein breites Bündnis möglich. Genau das ermöglicht auch, dass sich Menschen aller Hautfarben an dieser Auseinandersetzung beteiligen. Nun mittels Denkmalstürzen wieder Identitätspolitik zu betreiben, ist ein Rückschritt."
Auf taz online schreibt Jan Feddersen den Nachruf auf den im Alter von 85 Jahren verstorbenen israelischen Politikwissenschaftler Zeev Sternhell: "So sehr er sich als Zionisten, ja 'Superzionisten' bezeichnete, so sehr wollte er andererseits einen gleich starken Nationalstaat der Palästinenser als Nachbarn Israels. Wer das eigene Land, eben Israel, ernst nehme, müsse das andere Land, das der Palästinenser, ebenso respektieren."
Gesellschaft
In der taz berichtet Gabriele Lesser von den Tiraden, mit denen Polens regierende PiS die LGBT-Community überzieht: "Tags zuvor war ein Nationalpopulist aus einer Talkshow des Privatsenders TVN geflogen. Seine Hetztirade 'LGBT sind keine Menschen, sondern eine Ideologie' war der Moderatorin zu viel: 'Es gibt Grenzen!' Doch nicht nur Polens Staatsoberhaupt verteidigte den Satz, mit dem über eine Million Staatsbürger und Staatsbürgerinnen Polens zu 'Nichtmenschen' erklärt wurden. Auch der PiS-Abgeordnete Przemysław Czarnek hieb in diese Kerbe. Im Staatssender TVP, im früheren öffentlich-rechtlichen Rundfunk, hielt er das Bild einer Pride-Parade in Los Angeles in die Kamera und empörte sich: 'Hören wir auf, uns diese Idiotismen von irgendwelchen Menschenrechten oder irgendeiner Gleichheit anzuhören. Diese Leute sind nicht wie normale Menschen.'"
Politik
Medien
In der taz annonciert Lars Fleischmann das endgültige Aus des Pop-Zeitschrift Spex.
Europa
Was passiert, wenn wir uns auf neue Covid-19-Wellen einstellen müssen, fragt in der Welt der Philosoph und Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin: "Ein zweiter Shutdown im Herbst und ein dritter im Frühjahr 2021, ein vierter im Herbst 2021, ein fünfter im Frühjahr 2022 würden die Welt in eine tiefe Depression zwingen, mit unerträglichen Folgen. Schon jetzt weisen die Daten auf einen Einbruch hin, der als einzigen Vergleich in der Industriegeschichte die Wirtschaftskrise von 1929 hat. Auch damals war es der erneute Rückgang der Wirtschaftsleistung, auch durch falsche staatliche Gegenmaßnahmen, der am Ende das soziale Desaster auslöste, das die national-sozialistische Machtergreifung erst möglich machte."