9punkt - Die Debattenrundschau

Der Covid-Joker

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2020. Häme über Donald Trumps Corona-Erkrankung ist unangebracht. Marina Hyde rät im Guardian statt dessen zu Witzen. In Spiegel online spricht die Ärztin Bhramar Mukherjee über Corona in Indien. Die FAZ empfiehlt eine Ausstellung im niederländischen Haus Doorn, wo der Ex-Kaiser seine Exiljahre zugebracht hat, über die Hohenzollern und ihre Begeisterung für die Nazis. Charlie Hebdo beschreibt, wie Farid Benyettou, der Mentor der Brüder Kouachi, beim Charlie-Prozess "Taqiya" betreibt. Die Täter der DDR wurden so gut wie gar nicht zur Verantwortung gezogen, schreibt Hubertus Knabe in seinem Blog.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.10.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Häme über Donald Trumps Covid-Erkrankung oder gar Todeswünsche sind völlig unangebracht. Auch wenn es schwer fällt angesichts der 200.000 Toten, für die er keinen Finger krumm gemacht hat. "Aber Witze? Oh, Scherze sind in diesem Stadium durchaus erlaubt", versichert Marina Hyde im Guardian. "Ich bin aus moralischen Gründen zutiefst für Witze. Ich verstehe, dass das Alte Testament nicht gerade ein Gagfest ist, aber ich glaube an einen Scherz für einen Scherz, verstehen Sie? Und niemand - NIEMAND - hat mehr Witze über das Coronavirus erzählt als Donald Trump. Er ist der Covid-Joker, wenn Sie noch eine Gotham-Referenz erlauben. Er würde sicher wollen, dass wir seinem Beispiel folgen. Das allerletzte, was Trump wollte, wäre, dass sein Leben mehr wert ist als das all der Menschen, die im Sterben lagen, als er Witze über Masken machte, Witze über Joe Biden und Masken, Witze darüber, dass Biden praktisch tot ist ... ganz zu schweigen von vergangenen Zeiten, in denen er Witze über Hillary Clintons Lungenentzündung machte oder seine Bevollmächtigten spekulativ scherzten, sie habe einen Schlaganfall erlitten, sei von Dysphasie befallen oder habe heimlich ein schweres Hirntrauma erlitten ... Es tut mir leid, ich habe hier nur sehr wenig Platz. Der Punkt ist, das ist es, was er gewollt hätte - er liebt Lulz. Bitte ehren Sie ihn in dieser Weise."

Corona wird unser Leben verändern, selbst wenn wir es eines Tages bekämpfen können, schreibt Ulrike Herrmann in der taz mit Blick auf den Immobilienmarkt: "Selbst wenn der Erreger längst bekämpft sein sollte, wird es normal bleiben, auch zu Hause zu arbeiten. Dieser Trend zum Homeoffice verändert die Immobilienmärkte fundamental: Viele Büroflächen werden überflüssig, und Beschäftigte können frei wählen, wo sie wohnen, denn einen Internetanschluss gibt es überall. Die Dörfer könnten sich beleben, während sich die Ballungszentren entleeren. Wer perspektivisch denkt, kauft sich vielleicht besser ein Haus in der Provinz und nicht in Berlin-Tempelhof."

In Indien sind etwa 130 Millionen Menschen mit dem Corona Virus infiziert, meint im Interview mit Spon die Forscherin Bhramar Mukherjee. Derzeit sinken die Zahlen wieder, da werden die Menschen der Einschränkungen müde, fürchtet sie, und die Regierung passt sich dem an: "In seiner ersten Reden warnte Premier Narendra Modi eindringlich vor den Gefahren des Virus. Mittlerweile spricht die Regierung lieber über ihre angeblichen Erfolge: wie viele Patienten sich erholen, wie wenige daran sterben. Aber kann das wirklich als Erfolg gelten? Bislang sind 100.000 Inder an dem Virus gestorben, jeden Tag kommen mehr als tausend hinzu. Selbst wenn die Infektionssterblichkeit bei 0,1 Prozent liegen sollte und sich nur die Hälfte der Bevölkerung anstecken würde, dann würden rund 670.000 Inder sterben. Das mag relativ gesehen wenig sein, aber in absoluten Zahlen ist das eine Tragödie. In meinem Freundeskreis ist ein 35-jähriger Arzt gestorben. Sein jüngster Sohn ist gerade mal ein paar Monate alt. Wir vergessen, dass hinter diesen Zahlen Schicksale stehen."
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Geschichte

Sinn der Forderungen der Hohenzollern gegen den Staat ist - neben dem Wunsch, weiterhin ohne Arbeit komfortabel existieren zu können -, über Leihgaben in Ausstellungen Einfluss zu nehmen auf das Bild, das man in der Geschichte so abgegeben hat. Andreas Kilb weist diese Forderungen in der FAZ scharf zurück und verweist auf die Ausstellung "De keizer en het Derde Rijk" im niederländischen Haus Doorn, wo der Kaiser seine Exiljahre zubrachte: "Sie zeigt anhand von Objekten und Fotos, wie Wilhelms Familie den Untergang der Weimarer Republik betrieb: der Ex-Kronprinz durch seine Wahlempfehlung für Hitler und den Auftritt beim 'Tag von Potsdam'; seine Frau Cecilie durch ihre Netzwerke in rechten und demokratiefeindlichen Milieus; sein jüngerer Bruder durch eine Karriere bei der SA und Wahlkampfreden für die Nazipartei und der vertriebene Kaiser selbst durch Hasstiraden gegen Juden und Bolschewisten." Das Haus gehört heute selbstredend dem Staat Niederlande.
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Ideen

In der NZZ diagnostiziert der Philosoph Alexander Grau die Wiederkehr des autoritären Charakters. Diesmal in Form einer Linken, die "Intoleranz als Toleranz ausgeben. Ihren politischen Gegnern begegnen sie daher mit konsequenter Ausgrenzung, Diskreditierung, gezielter Delegitimierung und allen Techniken der Meinungsmache. Der autoritäre Charakter ist durch die gesellschaftlichen Umwandlungsprozesse der letzten Jahrzehnte nicht verschwunden, er hat lediglich die antiautoritäre Rhetorik übernommen und in ihr Gegenteil verkehrt."
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Medien

Yannick Haenel berichtet bei Charlie Hebdo vom 24. Tag des Prozesses um die Morde vom Januar 2015. Am Samstag hat Farid Benyettou ausgesagt, der Mentor der Brüder Kouachi, die das Massaker in den Räumen der Zeitung begingen. Vor Gericht gab sich der charismatische Prediger reuig und sagte, er wolle den Dschihad nur noch im Nahen Osten, aber nicht mehr in Frankreich. Für Haenel ist das "Taqiya": "Diese strategische Kunst des Leugnens ist das Herz des radikalen Islam und eine Weise, den Krieg andauern zu lassen. In gewissem Sinn basiert der weltweite Dschihad darauf. Man weiß, was für ein ausgefuchster Theologe Benyettou ist, er weiß alles über Taqiya. Es war eveident für seine Zuhörer, dass er sie bei seiner Aussage am Samstag praktizierte. Richard Malka, der Anwalt von Charlie Hebdo, hat sogar die Frage gestellt: 'Wie soll man falsche Reue erkennen, wenn der Bereuende Taqiya praktiziert?' Die Frage ist so zutreffend, dass sie absurd wird, denn um sie zu beantworten, müsste sich die Verhüllung selbst enthüllen, was nicht geht."

Christian Humborg erzählt bei Netzpolitik, warum er in Münster ein lokaljournalistisches Internetmedium namens Rums gründet, das auf Abobasis funktionieren soll. Im Moment ist die vierte Gewalt in Westfalen etwas wacklig aufgestellt: "Seit sechs Jahren gibt es dort nur noch ein Verlagshaus, das Tageszeitungen herausgibt: den eigenen Titel Westfälische Nachrichten und die 2014 aufgekaufte und inzwischen als sogenannte Zombiezeitung betriebene Münstersche Zeitung, deren Redakteur:innen und Inhalte nahezu identisch sind. Das Monatsabo kann innerhalb eines ähnlichen Webseitendesigns einmal in rot für 41,90 Euro und einmal in blau für 40,90 Euro im Monat gebucht werden. Der Chef des Verlags ist auch Präsident der IHK Münster und Vorstandsvorsitzender des Vereins der Kaufmannschaft in Münster. Kein Wunder, dass sich auch viele Entscheidungsträger:innen in der Stadt Vielfalt und Unabhängigkeit im Journalismus wünschen."

Friedrich Schmidt, Moskau-Korrespondent der FAZ, porträtiert die Journalistin Irina Slawina, die sich in Nischni Nowgorod selbst angezündet hat, um gegen die Schikanen der Polizei zu protestieren: "Freunde und Kollegen beschrieben Irina Slawina als engagiert, mitfühlend, furchtlos. Letzteres ist die wohl wichtigste Eigenschaft für unabhängige Journalisten gerade in der russischen Provinz. Die Lage im Gebiet von Nischni Nowgorod beschrieb Slawina in einem Interview als 'totale Zensur'. Daher habe sie, als sie zum dritten Mal ihre Stelle verloren habe, im Frühjahr 2015 ihr eigenes Online-Medium gegründet, KozaPress. Es finanziert sich über Spenden, denn Leute wollen unabhängige Informationen."
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Europa

Deutschland rühmt sich, nach dem Mauerfall mit der DDR-Vergangenheit besser umgegangen zu sein als Jahrzehnte zuvor mit dem Nazierbe. Aber die Täter wurden auch nach der Wiederverinigung so gut wie nie bestraft, schreibt Hubertus Knabe in seinem Blog. Einige wenige Politiker kamen für meist kurze Zeit in Haft: "Nicht viel anders gingen die Verfahren gegen Stasi-Offiziere, Spitzel oder prügelnde Gefängniswärter aus. Ein Offizier, ein Wachmann und ein Inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes mussten wegen Tötungsdelikten ins Gefängnis, zwei Wärter wegen Gefangenenmisshandlung. Auch von den Richtern und Staatsanwälten kam jeweils nur ein Verantwortlicher für kurze Zeit in Haft. Lediglich bei den Mauerschützen und ihren Kommandeuren liegt die Zahl der Verurteilten etwas höher, 19 von ihnen kamen in den Strafvollzug. Der Grund für diese Bilanz war nicht, dass in der SED-Diktatur so wenig Staatsverbrechen begangen worden waren. Ursache war vielmehr, dass im Einigungsvertrag festgelegt worden war, dass diese nur nach DDR-Recht bestraft werden durften."
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Internet

Die EU möchte mit einem neuen Gesetz terroristische Inhalte im Netz bekämpfen und Lösch- wie Sperrpflichten durchsetzen. Was ein "terroristischer Inhalt" aber genau sein soll, blieb lange unklar, berichtet Alexander Fanta auf netzpolitik. Jetzt haben die Deutschen neue Vorschläge gemacht und die haben es in sich: So soll die Löschfrist auf 24 Stunden verkürzt werden und: "Die Lösch-Anordnungen sollen nach dem deutschen Entwurf auch jenseits von Landesgrenzen verschickt werden können. Eine Behörde in Ungarn könnte dann etwa einem deutschen Online-Dienste die Löschung eines Inhaltes anordnen, wobei die deutschen Behörden allerdings ein Mitspracherecht haben. Dennoch etabliert der Vorschlag das auch in umstrittenen Entwürfen für die E-Evidence-Verordnung enthaltene Prinzip, Behörden künftig europaweit Handlungsfreiheit zu geben. ... Darüber hinaus führt der deutsche Entwurf einen neuen Unterparagraphen ein, der den grundrechtlichen Schutz von Inhalten aus Nachrichtenmedien, Bildung, Wissenschaft und Kunst einschränkt. 'Blanko-Ausnahmen können dazu führen, dass illegale Inhalte unter dem Vorwand schutzwürdiger Motive veröffentlicht werden', heißt es in dem Text der deutschen Ratspräsidentschaft. ... Das kehrt praktisch das Prinzip um, dass etwa journalistische und künstlerische Inhalte grundsätzlich einer größeren Freiheit unterliegen."
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