9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn die beiden Sphären vermischt werden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2021. Kapert die Figur des Experten die demokratische Willensbildung? Ja, fürchtet der Historiker Caspar Hirschi in einem langen Essay in der FAZ. Frankreich wird von einer "Cancel-Culture"-Affäre aufgeschreckt: Zwei Professoren aus Grenoble wurden von einer Studentenvertretung in sozialen Medien und Graffiti als "islamophob" und Faschisten denunziert - genauso startete die Kampagne gegen Samuel Paty, fürchten FAZ und Le Parisien. Auf Zeit online erklärt die myanmarische Schriftstellerin Wendy Law-Yone, warum mit Aung San Suu Kyi keine Demokratie zu machen ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.03.2021 finden Sie hier

Europa

Nach dreizehn Jahren Ermittlungen wurde Nicolas Sarkozy in Frankreich wegen Bestechung zu drei Jahren Haft verurteilt. (Er hat inzwischen Berufung eingelegt.) Im Interview mit der Welt findet der Philosoph (und Ex von Sarkozys Ehefrau Carla Bruni) Raphaël Enthoven das problematisch, weil die Anschuldigungen auf Mitschnitten von Telefonaten Sarkozys mit seinem Anwalt basieren. "Denken Sie an den Fall Liliane de Bettencourt. Sie wurde abgehört und die Aufnahmen verbreitet. Das war komplett illegal, das Vorgehen wurde aber mit dem Interesse der Allgemeinheit gerechtfertigt. Ich halte das für schädlich und gefährlich. Der Rechtsstaat und die Freiheit sind durch 'das Gute' gefährdet, wie es zum Beispiel auch der Fall ist bei den Degrowth-Leuten. Im Namen eines höheren Interesses werden Freiheitsbeschränkungen auferlegt. Freiheit muss aber immer das höchste Gut sein - mit allen Risiken, die das mit sich bringt. Wenn man auf der Basis abgehörter privater Konversationen verurteilt wird, punktet der Rechtsstaat damit wohl kaum."

Großbritannien hat zum ersten Mal seit Kriegsende einen Bevölkerungsschwund erlitten: Über eine Million Menschen haben das Land verlassen. Grund ist offenbar nicht der Brexit, sondern die Coronakrise, die das Land und besonders London hart getroffen hat, schreibt Jonathan Portes im Guardian: "Neuzuwanderer wohnen viel häufiger zur Miete - was es einfacher macht zu gehen, und teurer zu bleiben. Warum sollten Sie Ihre Gesundheit und Ihren Kontostand riskieren, wenn Sie - zumindest einige von ihnen - die Möglichkeit haben, an einen sichereren Ort zurückzukehren, an dem sie mit Ihrer Familie und Ihren Freunden zusammen sein können, wenn Ihr Job weg ist? Andere Arten von Migranten - Studenten, Saisonarbeiter und solche, die für kurze Zeit hier sind - sind vielleicht auch ganz zurückgekehrt oder gar nicht erst gekommen."

Warum haben asiatische Länder in der Coronakrise viel besser abgeschnitten als zum Beispiel Deutschland, das zu den zehn Ländern mit den meisten Toten zählt, fragt Nikolas Busse in der FAZ. Es liege nicht am Durchschnittsalter der Bevölkerung, das in Japan sogar noch höher ist, nicht an autoritären Regimes, denn Südkorea, Taiwan und Japan sind Demokratien, sondern daran, dass diese Länder viel stärker auf digitale Technologien setzten: "Vor allem für die freiheitlichen Länder war die Frage, welche Grundrechte für die Seuchenbekämpfung einzuschränken seien, nicht weniger heikel als für uns. Sie entschieden sich dafür, Teile des Datenschutzes zu opfern; allerdings blieb den Bürgern etwa in Südkorea durchaus der Rechtsweg gegen die Maßnahmen offen. Wir haben dafür viel stärker andere Grundrechte beschnitten wie die Bewegungs-, die Berufs- oder die Versammlungsfreiheit."

Aber à propos Digitalisierung. Die offizielle Corona-App hat versagt. Nun wird die App "Luca" gepriesen, für die sich der Rapper Smudo von den Fantastischen Vier stark macht. Markus Reuter von Netzpolitik hat damit ein Problem: Wenn schon eine solche App mit Regierungssegen, "dann will ich als Bürger schon genau wissen können, was in der App passiert und was diese macht. Gerade bei sensiblen Daten, die Rückschlüsse auf Gesundheit und Aufenthaltsorte geben. Dann will ich schon wissen, was das Geschäftsmodell ist. Und wenn der Staat für eine private App, die alle nutzen sollen, viel Geld ausgibt, dann muss der Programmiercode einfach öffentlich werden."

Die beiden Bundestagabgeordneten Abgeordneten Georg Nüßlein (CSU) und Nikolas Löbel (CDU) stehen in Verdacht, sich bei Geschäften mit Atemschutzmasken bereichert zu haben. Nun ist es das Wesen von Unternehmern, dass sie sich bei Geschäften bereichern, und Abgeordneten sind Nebentätigkeiten in einem gewissen Rahmen erlaubt, erläutert Christian Rath in der taz: "Problematisch wird es immer dann, wenn die beiden Sphären vermischt werden, zum Beispiel wenn ein Mandatsträger bei einer Nebentätigkeit den Briefkopf des Bundestags verwendet oder als 'MdB' (Mitglied des Bundestags) unterschreibt. Fragwürdig ist auch, wenn der Abgeordnete bei der Nebentätigkeit den Eindruck erweckt, dass er gerade, weil er ein politisches Mandat innehat, die Nebentätigkeit besonders wirkungsvoll ausüben kann." Mehr zu dem Fall hier.
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Ideen

Kapert die Figur des Experten die demokratische Willensbildung, und werden Experten von der Exekutive instrumentalisiert, um sich gegenüber dem Parlament durchzusetzen? Die FAZ übernimmt einen Essay des Historikers Caspar Hirschi aus  der Zeitschrift Leviathan, der beide Fragen tendenziell bejaht. Offenbar wurde es für ihn durch eine Stellungnahme der Leopoldina vom 8. Dezember 2020, die unter anderem von Lothar Wieler als Präsident des Robert-Koch-Instituts signiert wurde. Da Wieler die Bundesregierung offiziell berät, schließt Hirschi, dass er in Abstimmung mit der Bundesregierung handelte. Die Leopoldina rief in dem Papier ultimativ zu Lockdownmaßnahmen auf: "Stimmt die Deutung, so kam das, was als Warnung der Wissenschaft an die Politik ausgegeben wurde, einer Machtdemonstration der Bundesregierung gegenüber dem Parlament gleich. Den Bundestagsabgeordneten drohte die Ächtung durch die Nationale Akademie der Wissenschaften, sollten sie die Notwendigkeit des Lockdowns debattieren wollen. Das Kalkül der Bundesregierung ging auf. Nur die Rechtspopulisten protestierten gegen die Verschärfung der Einschränkungen und beflügelten die Bundeskanzlerin zu ihrem Plädoyer für die Wissenschaft, das von den meisten Medien begeistert aufgenommen wurde."

"Der wahre Klassenunterschied besteht heute wohl zwischen Fachidioten und Vollidioten", fürchtet in der NZZ der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich, der eine immer feinziseliertere Spezialisierung auf der einen Seite beobachtet und ein systematisches Absenken von Ansprüchen zum Beispiel beim Sprachvermögen von Kindern andererseits feststellt. "Es stimmt einfach nicht, dass wir heute vergleichbar Schwieriges können und sich der Kompetenzfokus bloß verschiebt. Nein, die Arbeitsteilung und die Technisierung machen etwas mit uns, was uns in die Richtung eines rundum wohlinformierten Universaldilettantismus treibt. Die Technisierung der Lebenswelt impliziert tendenziell die mentale Entlastung ihrer Bewohner. Die Frage lautet: Wie lässt sich dieser Prozess verstehen, ohne in die Fahrwasser der Kulturkritik zu geraten? Nein, früher war weder alles besser noch 'mehr Lametta', wie Loriot sagen würde. Und doch müssen wir feststellen, dass die Baselines sich in eine ungute Richtung bewegen."
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Politik

Die Biden-Regierung hat einen kritischen Bericht zur Ermordung Jamal Khashoggis durch das saudische Regime vorgelegt. Aber den Fall des säkularen Bloggers Raif Badawi, der seit Jahren im Gefängnis sitzt und zu Peitschenhieben verurteilt ist, hat sie noch nicht angesprochen. In der Washington Post, Khashoggis Medium machen sich die Menschenrechtsanwälte Irwin Cotler und Brandon Silver dafür stark: "Da die Biden-Regierung bestrebt ist, regionale Friedensabkommen auszuweiten und Menschenrechtsverletzungen im Königreich einzudämmen, bietet Badawis Fall eine Gelegenheit, beide Ziele sinnvoll voranzutreiben. Sich für ihn einzusetzen, sollte für Präsident Biden eine Frage des Prinzips und der Politik sein. Denn eine fortgesetzte Gleichgültigkeit oder Nachsicht gegenüber der brutaler Behandlung Badawis könnte einen Dominoeffekt erzeugen. Es war das Schweigen der internationalen Gemeinschaft nach der Einschüchterung Kanadas durch  Saudi-Arabien, das den Weg zu Khashoggis Ermordung ebnete."

Funktionierende Mobilfunknetze und das Internet sind der Grund, warum sich in Myanmar zum erstenmal landesweite Proteste gegen einen Militärputsch formieren, meint im Interview mit Zeit online die im Exil lebende myanmarische Schriftstellerin Wendy Law-Yone, die trotzdem nur einen "flüchtigen Moment der Hoffnung" verspürt, die Sache könne sich zum Guten und zu einer Demokratie wenden. Das würde auch mit Aung San Suu Kyi nicht passieren, meint sie. "Im Westen gilt die Gleichung, dass Demokratie gleich Liberalität ist und dass sich daraus weitere Ableitungen ergeben, etwa die selbstverständliche Verteidigung der Menschenrechte. Nun ist Suu Kyi eine Verbindung mit einem Militär eingegangen, das weder die Menschenrechte achtet noch Demokratie für eine gute Idee hält. Wie soll daraus ein Projekt der Demokratisierung erwachsen? Die Antwort ist relativ einfach: Aung San Suu Kyi ist zuvorderst und vor allem eine Nationalistin. Eine glühende Nationalistin, ein glühender Nationalist zeigt nicht nur keine Missbilligung, wenn im Namen dieses Nationalismus Gräueltaten begangen werden. Eine solche Person entwickelt auch eine selektive Wahrnehmung, eine spezifische Taubheit: Sie hört nicht einmal mehr von Gräueltaten."
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Gesellschaft

Zwei Professoren der Universität Grenoble werden in der Berichterstattung schon gar nicht mehr beim Namen genannt, weil sie von der Studentenvertretung Unef mit einer wilden Kampagne in sozialen Medien und per Graffiti als "Islamophobe" und Faschisten denunziert wurden. In Frankreich erregt die Affäre großes Aufsehen, weil die Ermordung Samuel Patys mit einer ähnlichen Kampagne gegen ein designiertes Opfer angefangen hatte. FAZ-Korrespondentin Michaele Wiegel konnte mit einem der Professoren reden, einem Deutschen, der seit Jahren in Frankreich lehrt: "Es sei wirklich schade, dass man an einer Universität nicht vernünftig Argumente austauschen und ruhig diskutieren könne. Schwerer treffe es ihn, dass etwa 80 Prozent seiner Kollegen ihm die Unterstützung verweigerten oder nur heuchlerisch schrieben, er habe ja selbst zu der Polemik beigetragen. 'Ich habe wirklich keinen Kreuzzug gegen den Islam geplant. Ich wollte nur das Konzept der Islamophobie kritisch hinterfragen', sagt er. Er habe auch keine Lust, Anzeige zu erstatten, aber suche jetzt Rechtsbeistand von einem Anwalt." Ein schöner Beleg für die These, dass Cancel Culture ihr Vorbild in der Fatwa hat.

Der Parisien geht mit AFP etwas genauer auf den Ursprung der Affäre ein, die einiges über das Klima an den Universitäten sagt. Sie trägt sich am Institut d'Etudes Politiques zu, wo der deutsche Professor K. wie gesagt seit Jahren lehrt. An diesem Elite-Institut, an dem viele künftige hohe Beamte und Politiker ausgebildet werden, wurde ein "Tag der Gleichheit" vorbereitet, der unter dem Titel "Racisme, islamophobie, antisémitisme" stehen soll. Professor K. habe sich In langen E-Mail-Wechseln in der Vorbereitungsgruppe  gegen den Begriff der "Islamophobie" in dieser Zusammenstellung gewehrt: "Zu seinen zahlreichen Argumenten gehört, dass 'man zweifeln kann, ob eine ihres Namens würdige akademische Debatte zu einem zusammengestoppelten und ganz und gar fabrizierten Begriff stattfinden kann (...) Ich weigere mich kategorisch, mir einreden zu lassen, dass die (eingebildete) Verfolgung muslimischer Extremisten (und anderer verirrter Muslime) wirklich an die Seite des seit Tausenden von Jahren existierenden Antisemitismus und des quasi universellen Rassismus gestellt werden sollte.'"
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Geschichte

Die norwegische Journalistin Marte Michelet hat ein Buch geschrieben, das den Vorwurf erhebt, in Norwegen hätte deutlich mehr getan werden können, um Juden vor der Deportation in die Konzentrationslager zu retten (unser Resümee). Einige Nachfahren von Widerstandskämpfern haben gegen faktische Fehler in dem Buch geklagt, und der Streit wird jetzt vor Gericht ausgetragen, weil der Verlag der Fehler zwar einräumt und mit einem Erratum-Zettel in nicht verkauften Büchern belegt, die erste Auflage aber nicht aus dem Handel zieht, berichtet Reinhard Wolff in der taz. Die Nachfahren wollen das nicht auf sich beruhen lassen: "Die Fehler, die man Michelet nachgewiesen habe, rüttelten aber eben nicht am Fundament ihrer Hypothese, meint der emeritierte Geschichtsprofessor Hans Fredrik Dahl. Eigentlich könne doch niemand ernsthaft infrage stellen, dass es für Norwegen alles andere als ein Ruhmesblatt sei, dass die Hälfte seiner jüdischen Bevölkerung den Nazis in die Hände fiel."
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