9punkt - Die Debattenrundschau

Wegen vermeintlicher Irrelevanz

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2021. Scharf attackiert Horst Bredekamp in der FAZ den Postkolonialismus, der den Antikolonialismus vielfach jüdischer Pioniere der Anthropologie heute als "rechts" denunziert. Mit Interesse, aber auch Skepsis liest Valentin Groebner bei geschichtedergegenwart.ch Mithu Sanyals Roman "Identitti". Frauenverachtung findet man auch in Deutschland noch überall, warnt Claudia Becker in der Welt. In der SZ fordert Monika Grütters ein richtiges Bundesministerium für Kultur. Der belarussische Aufstand ist ein Aufstand der Frauen, schreibt Jewgenija Pasternak in der SZ. Und die Frankfurter Buchmesse findet statt!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.03.2021 finden Sie hier

Ideen

Scharf attackiert der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, der maßgeblich am Konzept des Humboldt-Forums mitwirkte, in der FAZ den Postkolonialismus, der die Errungenschaften des Antikolonialismus zerstöre. Denn antikolonial dachten die häufig jüdischen Anthropologen wie Franz Boas, die überhaupt erst einen hierarchielosen Kulturbegriff schufen und für das Berliner Völkerkundemuseum vor allem Alltagsgegenstände sammelten. Wer sie würdigt, gilt heute als "rechts", so Bredekamp. "Der schauerlichste Zug des Postkolonialismus liegt in seiner strukturell antijüdischen Konsequenz. Viel ist über den vorhandenen oder nur unterstellten Antisemitismus von Achille Mbembe diskutiert und geschrieben worden. Die Ausblendung des für alle Fragen des Rassismus höchst sensiblen Impulses jüdischer Anthropologen wird jedoch niemals thematisiert. Diese Strategie entspricht dem Ziel, eine Kulissenverschiebung von Auschwitz nach Namibia vorzunehmen und damit die Unvergleichlichkeit des Holocaust zu bestreiten."

Gerhard Hanloser kritisiert im Freitag-Blog zunächst den Postkolonialismus aus betonmarxistischer Sicht, um sich dann doch in einem Punkt anzuschließen, der den alten Antiimperialismus mit der modischen Linken verbindet, im Hadern mit dem Holocaust. Als Säulenheilige dieser Verbindungslinie nennt er Hannah Arendt: "Gerade sie war es, die den Vernichtungsantisemitismus im Zusammenhang mit Imperialismus und Kolonialismus diskutierte. Die Wurstigkeit, mit der heutige Publizist*innen gegen die einseitige Privilegierung des Rassismus durch Postkolonialist*innen den Antisemitismus und den Rassismus als voneinander geschiedene Größen erklären, um unter der Hand und sehr deutsch wiederum ersteres zu privilegieren, hätte Arendt wohl eher nicht an den Tag gelegt."

Der Streit zwischen Wolfgang Thierse und der SPD-Führung, die hofft, die neue Linke ansprechen zu können (unsere Resümees), steht für einen größeren Streit, der die Gesellschaft prägen wird, sagt Stephan Detjen in einem Kommentar des Deutschlandfunks: Diese Frontstellung "wird Generationenkonflikte sowie das Ringen um die Gestaltung der heterogenen Gesellschaft auf lange Zeit prägen. Anders als Wolfgang Thierse es erhofft, kann es dabei keine Erlösung durch einende Wirgefühle geben. Es geht um das Anerkennen, Respektieren und Organisieren von Unterschiedlichkeit, um Gerechtigkeit und Teilhabe. Es geht aber eben auch um Diskursfähigkeit, Verständnis und Gesprächsbereitschaft. Alles das könnte Aufgabe für eine moderne Sozialdemokratie sein."

Mithu Sanyals Roman "Identitti" ist ein Roman über Identitätspolitik und schildert den Ort, wo sie herkommt, die Universität, als einen Raum der Macht und der Hierarchien. Der Historiker Valentin Groebner ist bei geschichtedergegenwart.ch eingenommen, aber nicht ohne Reserve: "Mithu Sanyals Analyse von akademischem Charisma ist detailreich, warmherzig und gleichzeitig sagenhaft deutsch in seiner ausschließlichen Fixierung auf jene universalen Wahrheiten, die offenbar nur in London, Oxbridge und Harvard formuliert werden können. Und nur auf Englisch: in der Sprache der ökonomisch erfolgreichsten Versklavungs- und Kolonialsysteme in der Geschichte des Planeten."

In der NZZ fragt (online nachgereicht vom Samstag) der Philosoph Ralf Konersmann: Was ist das für eine Wirklichkeit, die wir nach Maß und Zahl taxieren? "Im Horizont des Maßbegriffs sind Technik und Ethik, sind Sachgemäßheit und Verhaltensangemessenheit eins. Das Maß deutet auf die Ordnung der Dinge, der es sich verdankt und die sich in ihm offenbart. Damit ist klar: Ist der Vertrauensvorschuss des Maßes erst einmal verspielt, der Begriff ausrangiert und der Unverständlichkeit preisgegeben, wird sich dieser Verlust durch Rechenmodelle und Algorithmen, die strikt ihrer Eigenlogik folgen, nicht kompensieren lassen."
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Geschichte

In der NZZ setzt sich Michael Wolffsohn vehement dafür ein, die Hohenzollern für die Enteignungen in der Zeit der sowjetischen Besatzung und der DDR zu entschädigen. Sie würden genauso ungerecht behandelt, wie seine eigene Familie: "Meine deutschjüdische Familie bekam von ihrem seit 1933 'arisierten', sehr großen Eigentum nach 1945/49, wenn überhaupt, nur eine skandalös kümmerliche Entschädigung und lediglich einen Bruchteil des einstigen Eigentums zurückerstattet. Wir waren nicht die einzigen Juden, denen es so erging. Profitiert haben davon die Arisierer, die in einem Fall von meiner Familie ihrerseits sogar eine 'Ehrenerklärung' bezüglich der Rechtmäßigkeit der Arisierung sowie der 'Entschädigung' verlangten - die ihnen 1962 vom Bundesgerichtshof zugesprochen wurde. Wie im Hohenzollern-Streit geschah das alles ganz legal."
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Überwachung

Josefine Kulbatzki stellt bei Netzpolitik den Begriff der "Überwachungsgesamtrechnung" vor. Sie soll unter anderem "die Überwachungslast der Bürger:innen messen, damit nicht immer wieder neue Gesetze beschlossen werden, die das Bundesverfassungsgericht später für verfassungswidrig erklärt". Eine Studie des  Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht hat immerhin schon mal herausgefunden, dass es mindestens 15 Kategorien anlasslos gespeicherter Massendaten gibt.
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Gesellschaft

Frauenverachtung findet man auch in Deutschland noch überall, warnt Claudia Becker in der Welt, da sollte man sich nichts vormachen: "Verbale Frauenverachtung ist der Boden, auf dem körperliche Gewalt gedeiht, deren traurigstes Ausmaß die Zahl der Frauen ist, die von ihrem Partner getötet werden. In Deutschland ist das im Schnitt an jedem dritten Tag der Fall. Umso wichtiger ist es, wachsam für die alltäglichen Diskriminierungen zu bleiben. Und umso verblüffender ist die Gleichgültigkeit, mit der Frauen die alltägliche Sprachgewalt über sich ergehen lassen. In diesem Jahr trugen die Skispringerinnen bei ihrem Weltcup in Titisee-Neustadt Leibchen, auf denen der Betten-Handel-Sponsor: 'Wir sind Matratze' geflockt hat. Wie witzig. Von der Emma abgesehen, hielt sich die mediale Aufregung über die eindeutige Anspielung in sehr engen Grenzen."

Die Arbeit von Frauen würdigen kann man nur, wenn man ihre Arbeit auch irgendwo erwähnt oder archiviert findet, erinnert in der NZZ Sabine von Fischer und blickt dabei der Wikipedia ins Auge: "Wenige Monate vor der Verleihung des Nobelpreises an die Physikerin Donna Strickland wurde dem Antrag auf Löschung ihres Wikipedia-Artikels wegen mangelnder Signifikanz stattgegeben", schreibt sie und zitiert einen Tweet der Physikerin Jamie R. Lomax: "Today marks the first day in my lifetime that there's been a living recipient of the Nobel Prize in physics who is a woman-Donna Strickland. Although, her university hasn't promoted her to full professor and she didn't have a Wikipedia page until ~2 hours ago. - Dr. Jamie R Lomax (@jrlomax) October 2, 2018." Immerhin: "Dank dem Nobelpreis wurde Strickland der Eintrag dann umgehend gewährt. Andere Taten von Frauen aber werden weiterhin wegen vermeintlicher Irrelevanz ohne öffentlichen Aufschrei gelöscht: Kein Archiv, kein Schulbuch, kein Kalenderabreißblatt erinnert an sie."

Das Burkavebot wude in der Schweiz zwar von Populisten initiiert, denen es darum geht, fremdenfeindliche Ängste und Affekte zu schüren, aber falsch findet es Richard Herzinger in seinem Blog nicht: "Dass sich Menschen gegenseitig ins Gesicht sehen können, ist in freiheitlichen Gesellschaften nicht nur aus Gründen der amtlichen Identifizierbarkeit einer Person unverzichtbar. Es ist auch die erste Voraussetzung für zivilisierte Kommunikation und unbefangenen Austausch unter gleichgestellten Bürgern - und damit für jeglichen demokratischen Diskurs."
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

In Interview mit der SZ erzählt Kulturstaatsministerin Monika Grütters, was sie alles positives für die Kultur tut und fordert ein eigenes Kulturministerium. Eine Zusammenfassung des Gesprächs kann man in der Welt nachlesen. "Ein Ministerium sei 'keine Frage von Macht', sagte Grütters nun. Es gehe um die Anerkennung durch die Länder und die Einsicht, dass man gemeinsam mehr erreiche. 'Es war richtig, das Kulturressort anfangs im Kanzleramt anzusiedeln', es habe dadurch an Statur gewonnen. 'Es gäbe gute Gründe, das Ressort nach 23 Jahren zu einem Bundesministerium zu machen - dann aber bitte als eigenständiges Haus', sagte Grütters. Nach dpa-Informationen hat sie für den Fall der Fälle bereits einen repräsentativen neuen Standort im Blick."
Archiv: Kulturpolitik

Europa

Der spanische Rapper Pablo Hasél, der in manchen seiner Texte spanischen Politikern den Genickschuss wünscht, soll ins Gefängnis, weil er sich weigert eine Geldstrafe zu bezahlen. Zu seiner Verteidigung finden gewalttätige Demonstrationen statt, bis hin zu bemannten Polizeiautos, die in Brand gesteckt werden. Das geht zu weit, findet Paul Ingendaay in der FAZ: "Der 32-jährige Pablo Hasél ist Stalinist, Antisemit, RAF-Anhänger und ein Sowjet-Nostalgiker von erstaunlichen Graden. In seinen populären Songvideos preist er Männer, die für Terror, Folter, Liquidierungen und millionenfache Deportationen verantwortlich waren. In einem Land wie Spanien darf er das - bis zu einer bestimmten Grenze, aber nicht darüber hinaus."

Die Rolle der Frau ist in Belarus klar sowjetisch-patriarchalisch geprägt. Aber das ändert sich gerade mit den Demonstrationen gegen Lukaschenko, bei denen die Frauen die Hauptrolle spielen: "Wir werden wir uns nie wieder mit weniger zufrieden geben. Oft wird gesagt, der belarussische Protest habe ein weibliches Gesicht. Unser Protest hat viele weibliche Gesichter", schreibt die Schriftstellerin Jewgenija Pasternak in der SZ und zählt auf: Demonstrantinnen, darunter Miss Belarus von 2008 Olga Chischinkowa und die dreifache Olympiasiegerin Alexandra Gerassimenja, Ärztinnen und Krankenschwestern, die die Verwundeten pflegten, freiwillige Helferinnen, Journalistinnen, die über die Vorgänge berichteten, Großmütter, die sich vor die DemonstrantInnen stellten, damit nicht noch mehr Menschen verletzt werden, und nicht zuletzt die 74-jährige "Ikone unseres Protests "Nina Baginskaja: "Sie ist klein, aber auch allein bietet sie den Omon-Truppen die Stirn. Nichts schreckt sie. Ständig nimmt die Polizei ihr die weiß-rot-weißen Fahnen weg, aber bei jedem Marsch hat Nina eine neue dabei. Sie näht die Fahnen selbst."
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Kulturmarkt

Als erstes hat Juergen Boos, Chef der Frankfurter Buchmesse, offenbar mit Sandra Kegel von der FAZ telefoniert, die nun im Aumfacher des Feuilletons die frohe Kunde bringt, dass die Buchmesse in diesem Jahr stattfinden soll, und zwar vom 20. bis 24. Oktober. Vorsichtsmaßnahmen und digitale Formate sind noch eingebaut, und man will flexibel auf Veränderungen der Lage reagieren: "Das Hybridmodell könne jederzeit, so heißt es, an die jeweilige pandemische Entwicklung angepasst werden. Der Schutz der Gesundheit von Ausstellern und Besuchern habe oberste Priorität. Im Fokus sollen der internationale Rechtehandel und Publikumsveranstaltungen mit Autorinnen und Autoren stehen; Ehrengast ist nach dem Ausfall im vorigen Jahr wiederum Kanada." Mehr zur genauen Planung der Buchmesse im Bruchreport.
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