9punkt - Die Debattenrundschau

Denken ist ihnen nicht erlaubt!

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2021. Prachtvoll präsentieren sich die außereuropäischen Sammlungen des Humboldt Forums. Doch der Tagesspiegel hätte etwas weniger Glanz und mehr Kolonialismuskritik bevorzugt. In der taz denkt der Sozialphilosoph Arnd Pollmann über ein Familienwahlrecht nach. Die New York Times staunt über das dröhnende Schweigen der EU zum Affront gegen Frankreich. Ehemalige Islamisten sollten genauso bei den Öffentlich-Rechtlichen aufgenommen werden können wie Islamkritiker, meint Hamed Abdel-Samad auf Facebook. Im Interview mit der Welt beschreibt der Philosoph Peter Boghossian das Klima der Angst an seiner amerikanischen Uni.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.09.2021 finden Sie hier

Kulturpolitik

Uli Figuren aus Papua Neuguinea im Ethnologischen Museum des Humboldt Forums. "Zugang unbekannt"


Am Donnerstag eröffnen die außereuropäischen Sammlungen des Humboldt Forums fürs Publikum. Die Presse war vorab schon mal eingeladen. "Dieses rund 680 Millionen teure Haus, das teuerste Kulturprojekt der Bundesrepublik mitten in Berlin, hat sich in den letzten Jahren sehr verändert", konstatiert Susanne Messmer in der taz. Der Kolonialismus werde nicht mehr verschwiegen. "Hermann Parzinger, Präsident der SPK, sprach vor Kurzem noch lieber diplomatisch von der Zirkulation der Objekte als von deren Restitution. Nun redet er scheinbar ohne Bedauern davon, dass vieles von dem, was ab Donnerstag die Ausstellungen schmückt, bald nicht mehr zu sehen sein wird. Die Benin-Bronzen beispielsweise, so viel steht fest, werden endlich im nächsten Jahr zurück nach Afrika gehen. 'Das Humboldt Forum ist kein Museum', sagt Parzinger, 'sondern ein Austragungsort.' Und damit trifft er tatsächlich mal einen Nerv."

"Das Ethnologische Museum im zweiten Stock präsentiert sich prachtvoller denn je", bemerkt dagegen unwirsch Nicola Kuhn im Tagesspiegel, die sich noch mehr Aufklärung über den Kolonialismus in den Ausstellungen gewünscht hätte. "Man könnte sich schwelgend verlieren, gäbe es nicht da und dort eine zeitgenössische Intervention wie das Foto von Greg Samu aus der Serie 'Tomorrow we become Christians', das in Leonardo-Manier 'The Last Cannibal Supper' zeigt. Eher zufällig stößt man am Rande der opulenten Inszenierung auf einen Aufsteller mit dem Wort Provenienz dick auf magentafarbenem Grund. Da war also doch noch was."

Hin und weg ist Bernhard Schulz, der für den Tagesspiegel das Museum für Asiatische Kunst im dritten Stock besucht hat. Hier kam viel als Geschenk ins Museum, erzählt er. "Insofern stellen sich die drängenden Fragen kolonialen Erwerbs, anders als im Ethnologischen Museum eine Schlossetage tiefer, hier nicht. Das heißt: Sie stellen sich bisweilen eben doch. Auch China wurde um 1900 geplündert. Und auch bei archäologischen Ausgrabungen ist im Einzelfall zu fragen, inwieweit die Standards von Grabungsgenehmigung bis Fundteilung eingehalten wurden."

Außerdem: Im Interview mit der FR erklärt Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wie es weitergehen soll im Humboldt Forum, aber auch in der Neuen Nationalgalerie unter ihrem neuen Chef Klaus Biesenbach.
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Europa

Im Observer setzt Nick Cohen für die ungarische Demokratie auf Gergely Karácsony, den Bürgermeister von Budapest, der wahrscheinlich als Kandidat einer geeinten Opposition bei den nächsten Wahlen gegen Viktor Orban antreten wird. Aber auch in Bezug auf Europa hegt er Hoffnung: "Das einzig Gute am Brexit ist, soweit ich sehen kann, dass unser Geld nicht mehr in den Taschen der Fidesz-Diebe endet. Denn es ist eine bittere Wahrheit für alle Anhänger Europas, dass bis zum letzten Jahr Europas Christdemokraten im Allgemeinen, und die von allen ach so gehuldigte Angela Merkel im Besonderen, Ungarns antidemokratischen Bewegungen geschützt haben. Merkels überfälliger Rückzug und eine Niederlage ihrer Partei bei den deutschen Wahlen wird Wunder wirken für die europäische Freiheit."

Die Deutschen hängen an ihren Regierungen, wie es im Rest der Welt längst aus der Mode gekommen sei, spottet Dov Alfon in Libération und kann am Ende von Angela Merkels Kanzlerschaft nur hoffen, dass ihr Erfolgsrezept nicht übertragbar ist: "Man kann davon ausgehen, dass ihr Nachfolger versucht sein wird, ihre Art des Regierens zu wiederholen - Veränderungen vermeiden, auf Krisen reagieren, nachdem sie eingetreten sind, unter allen Umständen solide bleiben und die Großindustriellen schonen, ob sie nun Verschmutzer sind oder nicht. Es ist jedoch nicht sicher, dass diese Formel wieder funktioniert: Die Grenzen der Übung sind bereits offensichtlich. Deutschland war zwar noch nie so reich und kein anderes großes Industrieland hatte je so eine hohe Wachstumsrate. Aber das Land hinkt bei allen wichtigen Themen der kommenden Zeit hinterher - Digitalisierung, Klima, öffentlicher Verkehr, Energiewende. Wenn es dem nächsten Bundeskanzler - oder der nächsten Bundeskanzlerin - gelingt, den Rückstand aufzuholen, den Angela Merkel hat wachsen lassen, könnte er oder sie sie im Rennen um die Langlebigkeit durchaus überholen."
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Ideen

Schwarze Amerikaner hatten schon immer eine deutlich geringere Lebenserwartung als weiße Amerikaner, aber diese Kluft wird geringer, weil einerseits mehr staatliche Programme die soziale Ungleichheit zu beheben versuchen, andererseits weil die Armut weißer Amerikaner zunimmt. Im Observer reagiert Kenan Malik auf eine Studie, die überraschende Ergebnisse zeitigt: "Reiche Amerikaner leben länger als arme, aber reiche Europäer leben länger als reiche Amerikaner. Ungleichheit ist in erster Linie eine Bürde für die Armen und uns muss das Schicksal der Menschen am unteren Ende der Leiter bekümmern. Aber wenn es um die Lebenserwartung geht, profitieren Reiche in Amerika nicht unbedingt von größerer Ungleichheit. Darüber sollten wir nachdenken. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Nahe liegt die Vemutung, dass große Ungleichheit ein Fluch für die Armen ist, aber nicht zwangläufig ein Segen für die Reichen."
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Politik

Die Taliban haben sich nicht geändert, erklärt die afghanische Filmregisseurin Shahrbanoo Sadat, die noch nach der Machtübernahme der Taliban flüchten konnte, im Interview mit dem Standard. "Stellen Sie sich vor: Die Frauen erhalten eine sogenannte 'Bildung' - aber das Denken ist ihnen nicht erlaubt! Nein, die Taliban haben sich nicht geändert, sie sind bloß schlauer geworden, weil sie es sich mit der internationalen Gemeinschaft nicht verderben wollen. Die Wahrheit habe ich am Flughafen mit eigenen Augen gesehen, als sie zwei Taschendieben die Finger abschnitten. Damit es die Welt nicht sieht, haben sie uns untersagt zu filmen." Und Kunst gibt es auch nicht mehr: "Wie ein Sprecher der Taliban sagte, gibt es für Künstler in Afghanistan 'keinen Platz' mehr. Die Künstler sind aufgefordert, sich ein anderes Betätigungsfeld zu suchen. ... Die Kabuler Fakultät der schönen Künste ist geschlossen."

Joe Biden war nie ein großer Freund Frankreichs, erinnert in der New York Times Roger Cohen, angeblich nimmt Biden seit 2003 dem Land noch immer übel, dass es nicht am Irakkrieg teilnahm. Dass Emmanuel Macron jetzt so wütend auf die Brüskierung reagiert, findet Cohen nachvollziehbar. Aber hat Macron gute Karten in der Hand? "Aukus, die amerikanisch-britisch-australische Ad-hoc-Partnerschaft gegen das aufstrebende China, sticht das Nato-Bündnis aus, dessen Feind, die Sowjetunion, längst verschwunden ist. Der U-Boot-Deal erscheint den Franzosen wie ein Requiem auf alte Allianzen in einer neuen, opportunistischen, auf Asien ausgerichteten Welt mit wechselnden Partnerschaften. Als Reaktion darauf möchte Frankreich, dass 'europäische strategische Autonomie' und 'europäische Souveränität', Lieblingsphrasen von Macron, Wirklichkeit werden. Nach dem U-Boot-Fiasko, nach dem Chaos in Afghanistan, nach der Ablehnung Europas durch Präsident Donald J. Trump, nach dem Brexit und angesichts der klaren transatlantischen Differenzen in Bezug auf China könnten die Argumente für ein geeintes Europa, das seinen eigenen Kurs bestimmt, kaum stärker sein. Für Außenminister Le Drian, der Macrons Worte aufgreift, ist dies die einzige Möglichkeit für Europa, 'Teil der Geschichte zu bleiben'. Das Problem ist, dass die Europäische Union uneinig ist. Der Affront gegen Frankreich wurde von den europäischen Verbündeten im Großen und Ganzen mit dröhnendem Schweigen quittiert."
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Gesellschaft

Ziemlich scheinheilig findet in der taz der Sozialphilosoph Arnd Pollmann die Kritik der Jungen an den Alten, die angeblich als "Umweltsäue" die Erde verwüstet haben. So kann man sich schön darüber hinwegtäuschen, "dass der ökologische Raubbau Folge eines kapitalistisch produzierten Wohlstands ist, von dem auch die Kritiker:innen profitieren: reduzierte Säuglingssterblichkeit, höhere Lebenserwartung, bessere Gesundheitsversorgung, Mobilität, Online-Shopping." Dennoch plädiert Pollmann dafür, Jugendlichen bei Wahlen besser zu vertreten, zum Beispiel mit einem "'Familienwahlrecht', bei dem Eltern für ihre Kinder mitwählen dürfen".

Hamed Abdel-Samad hat schon am Samstag auf Facebook dafür plädiert, Nemi El-Hassan eine zweite Chance zu geben. Die Journalistin hatte in ihrer Jugend an islamistischen Kundgebungen gegen Israel teilgenommen und soll darum vorerst nicht die WDR-Sendung "Quarks" moderieren. "Ich war auch einmal Islamist und hatte eine zweite Chance bekommen, über meine vergangene Weltanschauung zu reflektieren", schreibt Abdel-Samad: "Wir sollten sie nach ihrer Haltung heute, nicht nach ihren Fehler der Vergangenheit, beurteilen. Wir sollten sie gewinnen, nicht verscheuchen!" Allerdings betont Abdel-Samad auch, dass Sender und Institutionen nicht um einer angeblichen Vielfalt willen Journalisten stärken, die "Verbindungen zu rechten islamischen Organisationen haben, während Kritiker des Islam und der islamistischen Organisationen als islamophobe Spalter diffamiert werden, obwohl sie sich zu den Werten der Aufklärung bekennen!"

Spiegel online meldet unterdessen, dass "mehrere hundert Publizisten, Kulturschaffende und Wissenschaftler" einen Soli-Erklärung für El-Hassan veröffentlicht haben (hier als pdf-Dokument). Es handelt sich vielfach um Unterzeichner der "Jerusalemer Erklärung", die israelfeindliche Positionen als "nicht per se" antisemitisch einschätzen. Vor allem der Bild-Zeitung werfen die Autoren wie Aleida Assmann, Carolin Emcke  und Max Czollek eine Kampagne mit rassistischen Untertönen vor, die sich auch in der Tatsache zeige, "dass für die Bebilderung ständig auf Fotos zurückgegriffen wird, die Nemi El-Hassan mit Kopftuch zeigen, obwohl sie dieses schon lange nicht mehr trägt. Solche Bilder, die das Kopftuch mit dem Islamismusvorwurf verknüpfen, bedienen Vorurteile und Ängste vor einer Islamisierung und Unterwanderung der Gesellschaft durch Muslime, die seit vielen Jahren von Rechtspopulisten geschürt werden."

In der Welt am Sonntag berichteten Jan Karon und Lennart Pfahler, dass El-Hassan auf Instagram noch im Mai ein "Rückkehrrecht aller palästinensischer Flüchtlinge, Reparationszahlungen und ein Ende der 'Besatzung'" forderte. El-Hassan stehe für eine ganze neue Generation von Journalisten mit Migrationshintergrund und häufig sehr israelkritischen Positionen in den öffentlich-rechtlichen Sendern.
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Wissenschaft

Der Philosoph Peter Boghossian hat nach zehn Jahren an der Portland State University, gekündigt, weil sie ihm zu illiberal geworden sei und dort ein Klima der ideologischen Konformität und der Angst herrsche: "Angst davor, seine Meinung zu äußern, Angst davor, als Rassist bezeichnet zu werden", erklärt er im Interview mit der Welt. "Ich habe einen kritischen Artikel im Chronicle of Higher Education veröffentlicht, woraufhin man in einer Fakultätssitzung die Entscheidung traf, dass Kritik an der 'Critical Race Theory' einer Belästigung von Wissenschaftlern gleichkommt. Doch Kritik an Ideen ist keine Belästigung, das habe ich auch öffentlich kundgetan. Tatsächlich ist es nicht nur keine Belästigung, es ist unser Job. Als Wissenschaftler wird man dafür bezahlt, zu lehren, zu veröffentlichen und sich mit Ideen auseinanderzusetzen. Doch so wird man daran gehindert, diese Orthodoxie in Frage zu stellen. Stellt man eine Frage, gilt das als Mikro-Aggression. Stellt man einen Grundsatz der 'Critical Race Theory' in Frage, ist man ein Belästiger oder ein Rassist. Es wurde also ein auf bizarre Weise perfektes Vorgehen implementiert, um zu verhindern, dass diese Ideen kritisiert werden."
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