9punkt - Die Debattenrundschau

Ungewollt wieder ins Zentrum

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.09.2021. Es stimmt gar nicht, dass die JungwählerInnen FDP wählten, denn das gilt nicht für die Jungwählerinnen, konstatiert emma.de. In der Zeit möchte Heinrich-August Winkler lieber keine charismatischen Politiker. Die Berliner versuchen ihr berlinspezifisches Wahldesaster zu verkraften. Die SZ erinnert daran, wie wenig die deutsche Rechtswissenschaft noch Jahrzehnte später mit den Nürnberger Prozessen anzufangen wusste. Russland ist sauer auf die Sperrung von RT-DE-Kanälen in Youtube und droht nun deutschen Medien, berichtet die FAZ. Im Perlentaucher beschreibt Pascal Bruckner die Widersprüche des Postkolonialismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.09.2021 finden Sie hier

Europa

Die FDP sei besonders erfolgreich bei JungwählerInnen gewesen, heißt es nach den Wahlen. Aber das stimmt nicht, analyisiert Chantal Louis bei emma.de: "Hier sprechen wir ausschließlich von den männlichen Wählern. Doch die Jungwählerinnen haben die FDP keineswegs zur stärksten Partei gewählt, im Gegenteil: zur viertschwächsten (hinter SPD, Grünen und Sonstigen). Nur jede achte Wählerin (13 Prozent) zwischen 18 und 29 machte ihr Kreuz bei Lindner. Das ist ein veritabler Gender Gap von elf Prozent. Wie kaum anders zu erwarten war, wählte die Mehrheit der jungen Frauen (26 Prozent) die junge Frau: Annalena Baerbock." Der Gap muss eigentlich noch größer sein: Wenn insgesamt 13 Prozent der Jungwählerinnen für die FDP stimmten, muss der Anteil bei den männlichen Wählern bei 35 Prozent liegen, damit im Schnitt 24 Prozent herauskommen.

Die CDU ist auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit, den andere christdemokratische Parteien in Europa längst gegangen sind, konstatiert Mathias Geis in der Zeit: "Diese Krise jedenfalls ist zu groß, als dass man sie dem gescheiterten Armin Laschet anlasten könnte. Die Union unter 25 Prozent, ohne Führungsanspruch, hinter der SPD - das wird von seiner Kandidatur bleiben. Trotzdem ist Laschet nicht die Ursache des Desasters, eher die Personifizierung der Schwächen und Widersprüche seiner Partei, ihr schwankender Darsteller."

Esther Schapira ist in der Jüdischen Allgemeinen aufgefallen, dass der Frankfurter SPD-Kandidat Kaweh Mansoori den Slogan "Für dich" in mehreren Sprachen plakatierte, aber nicht auf Hebräisch. Auf Anfrage sagte Mansoori, das hätte "als Solidaritätsadresse Sinn ergeben, was nicht Zweck des Plakats war". Schapira schreibt zu diesem Ausschluss der Juden aus der Diversity: "Angesichts des sich radikalisierenden Antisemitismus hätte ich mir im Wahlkampf dieses Zeichen der Solidarität gewünscht, gerade weil ich weiß, dass es ihn vielleicht Stimmen gekostet hätte, Solidarität mit Juden, insbesondere mit dem jüdischen Staat, auszudrücken. Darüber auch nur öffentlich diskutieren zu wollen, löst unmittelbare politische Reflexe aus."

Ebenfalls in der Zeit diskutieren der Dirigent Christian Thielemann, die Schriftstellerin Eva Menasse und der Historiker Heinrich August Winkler über den mauen Zustand der Politik in Deutschland: Winkler warnt vor dem Typus des Großcharismatikers, der eine "ausgesprochene Krisenerscheinung" sei. "Großcharismatiker, ob die des totalitären Typs wie Mussolini und Hitler oder die des demokratischen Typs wie Roosevelt, Churchill, de Gaulle, Brandt - die sind geprägt durch die Zeit der Weltkriege und des Kalten Kriegs. Mit Blick auf das letzte Jahrhundert würde ich frei nach Brecht sagen: Glücklich das Land, das charismatische Führer nicht nötig hat. Eine Sehnsucht danach zurück sollte uns fernliegen." (Nicht, dass ein Charismatiker in Deutschland auch nur in Sicht wäre.)

Berlins Landeswahlleiterin Petra Michaelis ist nach der Pannenwahl gestern zurückgetreten, meldet unter anderem die Berliner Zeitung. Inzwischen ist außerdem bekannt geworden, dass in Berlin mindestens 13.120 Stimmen bei allen Wahlgängen im vorläufigen Endergebnis als ungültig gezählt wurden, meldet außerdem die Berliner Zeitung mit dpa. Es ist ein "Skandal", dass Michaelis nicht schon viel früher zurückgetreten ist, sagt im Interview mit Elmar Schütze (Berliner Zeitung) der Verfassungsrechtler Christian Waldhoff, der gestern bereits im Verfassungsblog schrieb (Unsere Resümee). Bei der Bundestagswahl gab es keine "mandatsrelevanten Vorkommnisse", in Berlin sieht die Sache schon anders aus, meint er: "In Berlin können Parteien oder Direktkandidaten beim Verfassungsgerichtshof des Landes Beschwerde einlegen. Angenommen, Lederer würde klagen, müsste der Gerichtshof auch die kumulativen Probleme in den Blick nehmen, also sich ein Gesamtbild machen." Und auch Bürger könnten klagen, weil die Wartezeiten zu lang waren, fügt er hinzu.

Außerdem: Hatten sich die Parteien untereinander verabredet? Kaum ein Wort wurde im Wahlkampf über die Pandemie verloren, konstatiert Michael Angele im Freitag. Die FDP trat in ihrem Wahlprogramm beispielsweise lieber für die Rechte der Angler ein.
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Ideen

In seinem neuen Buch "Ein nahezu perfekter Täter" setzt sich Pascal Bruckner mit der Ideologie des Postkolonialismus auseinander. Der Perlentaucher bringt einen Vorabdruck aus der demnächst erscheinenden Übersetzung. Die Kolonien waren in Frankreich nie wirklich populär, die Dekolonisierung empfand auch das Mutterland weitgehend als Befreiung, schreibt er. Aber es hat sich mit dem heute alles erklärenden Vorwurf des Kolonialismus ein neues Geschäftsmodell etabliert. "Das Paradox gewisser Intellektueller scheint mir Folgendes zu sein: Indem sie Europa auf die Anklagebank zerren, befördern sie es ungewollt wieder ins Zentrum. Sie blenden aus, dass von den 27 Ländern der Europäischen Union lediglich acht Nationen, also weniger als ein Drittel, Kolonien unterhielten. Alle anderen waren selbst Opfer von Kolonisierung - durch das Russische und das Osmanische Reich oder durch die Sowjetunion. Bei manchen endete die Knechtschaft im 19. Jahrhundert, andere mussten bis 1989 warten.  Der Wunsch, Europa zu marginalisieren, genauer gesagt zu 'provinzialisieren' (Dipesh Chakrabarty), macht es erneut zum absoluten Brennpunkt."
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Medien

Die Entscheidung des WDR, Nemi El-Hassan die Sendung "Quarks" nicht moderieren zu lassen, auch wenn sie hinter der Kamera für die Sendung arbeiten können soll (Unsere Resümees), teilt die Zeitungen in zwei Lager. "Die Kampagne gegen sie wirkte wie eine weitere Wegmarke in einer inzwischen normalisierten deutschen Sehnsucht, die Deutungshoheit über Antisemitismus gegen Minderheiten in Anschlag zu bringen. Ob diese Minderheiten muslimisch, jüdisch oder links sind, schien dabei kaum mehr eine Rolle zu spielen", schreibt Hanno Hauenstein (der auch die Soli-Erklärung für El-Hassan unterschrieb) in der Berliner Zeitung. Er erzählt, wie er vor einigen Wochen versuchte, ein Interview mit Judith Butler zum Historikerstreit 2.0 zu führen: "Die Philosophin antwortete knapp: 'Ich spreche oder schreibe über dieses Thema nicht mehr im deutschen Kontext.' Man könnte es ironisch finden, wenn es einen nicht so verzweifelt stimmte: In unserer germano-zentrischen Sichtweise haben 'wir' Deutsche es fertiggebracht, was sonst wohl in kaum einem anderen Land denkbar wäre: eine der wichtigsten jüdischen Intellektuellen der Jetztzeit aus 'unserem' Diskurs auszuschließen."

Im Fall Nemi El-Hassan hat die "viel beschworene Cancel Culture" nun ihr "erstes Opfer" gefunden, glaubt Judith Liere auf Zeit Online, während Christian Meier in der Welt die Entscheidung begrüßt, aber doch auch "schmerzhaft" findet: "Die Vorstellung, dass ein Lebenslauf von einem Like vielleicht unwiderruflich beschädigt wird, bleibt trist." Nemi El-Hassan hatte sich distanziert, aber bis vor ganz kurzem doch antisemitische Inhalte in den sozialen Medien empfohlen, ergänzt Michael Hanfeld in der FAZ, etwa den "Jubel über den Ausbruch sechs palästinensischer Häftlinge aus einem israelischen Gefängnis, darunter Mitglieder der terroristischen 'Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden' und des 'Islamistischen Dschihad in Palästina', die an tödlichen Attacken gegen Israelis beteiligt gewesen seien. Einer der Ausbrecher soll mit anderen 2006 einen achtzehnjährigen Israeli entführt und mit einem Kopfschuss ermordet haben." Zu "spät und halbherzig" nennt Jonas Hermann in der NZZ die Entscheidung.

Youtube hat die Kanäle von RT DE (wie Russia Today hier heute offiziell heißt) gesperrt. Grund sind coronaleugnerische Inhalte des Senders. In Moskau herrscht darüber Empörung, berichten Friedrich Schmidt und Markus Wehner in der FAZ und zitieren die RT-DE-Chefin Margarita Simonjan, die Einflussnahme der deutschen Politik unterstellt: "Simonjan ließ offen, welchen Einfluss die Bundesregierung oder sonstige deutsche Stellen auf Youtube oder Google haben könnten. Dennoch forderte sie die russischen Behörden auf, in Russland die Deutsche Welle und andere deutsche Medien zu 'verbieten' und die Korrespondentenbüros von ARD und ZDF zu schließen. 'Aus Selbstachtung' müssten auch Sanktionen gegen Youtube verhängt werden."
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Kulturpolitik

"Die deutsche Kulturpolitik muss sich neu erfinden", fordert Nils Minkmar in der SZ, etwa indem sie europäischer wird: "Deutsche Kulturpolitik kann nicht in und für Berlin gemacht werden. Berlin ist am Ende eine große deutsche Stadt unter vielen, in der halt nur besonders viele Journalisten wohnen. Sie sollte sich noch nicht einmal auf die anderen europäischen Hauptstädte fokussieren, sondern die Partnerschaft mit den Akteuren in den Regionen suchen. Eine kostenlose europäische Streamingplattform für öffentlich geförderte Serien-und Spielfilmproduktionen könnte die Schwäche des europäischen Austauschs auf dem Film- und Kinosektor kompensieren und Neues inspirieren."

Außerdem: Die Zeit bringt die Rede Chimamanda Ngozi Adichies zur Eröffnung des Humboldt-Forums, die fordert Kolonialkunst zurückzugeben. Ebenfalls in der Zeit schreibt Tobias Timm zur Vergrößerung des Kunsthauses Zürich, wo Werke mit umstrittener Provenienz gezeigt würden.
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Geschichte

Die Historiker Stephan Malinowski ("Die Hohenzollern und die Nazis - Geschichte einer Kollaboration") und Henning Holsten schildern in der Zeit die Hohenzollern als einen Clan, der nach dem Ersten Weltkrieg die Klatschpresse beherrschte und, umgeben von windigen Beratern, nach politischem Einfluss suchte. Die Nazis sahen die meisten (nicht alle) Clan-Mitglieder als Chance: "Mit dem Aufstieg der NS-Bewegung änderte sich die Image- und Bündnispolitik der Familie. Die stetige Agitation gegen die Republik dockte in dem Moment an die NSDAP an, als diese aus dem Gestrüpp rechter Organisationen immer deutlicher als dynamischste Kraft hervortrat. In den Jahren 1932 bis 1934 bemühten sich in der Familie gleich drei Generationen um ein Bündnis mit dem Nationalsozialismus. 'Kaiserin' und 'Kronprinzessin' knüpften in Salons und auf Wohltätigkeitsveranstaltungen Kontakte, 'Kaiser' und 'Kronprinz' empfingen Göring und Hitler, der SA-Führer August Wilhelm und seine Brüder agierten für ein Bündnis der deutschnationalen und der nationalsozialistischen Kampfverbände."

Zum 75. Jubiläum der Urteile der Nürnberger Prozesse erinnert Ronen Steinke in der SZ daran, wie wenig die deutsche Rechtswissenschaft noch Jahrzehnte später von den völkerrechtlichen Prinzipien von Nürnberg hielt: "Der Bundesgerichtshof zitierte am 9. September 1958 in kühler Präzision eine ganze Reihe von Äußerungen westdeutscher Regierungsstellen, um zu untermauern, dass die Bundesrepublik keine einzige Entscheidung des Nürnberger Tribunals anerkannt habe. Das Urteil gegen 22 mächtige Männer des NS-Systems, Vernichtungskrieger wie Herrmann Göring oder Wehrmachtschef Wilhelm Keitel, Einpeitscher wie Stürmer-Chef Julius Streicher: Das sei nichts als Siegerjustiz gewesen. Die neu geschaffenen, internationalen Straftatbestände, nämlich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Führen eines Angriffskriegs: Sie seien nicht einmal gültiges Recht."
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