9punkt - Die Debattenrundschau

Beim Bodenpersonal Gottes kaum heitere Mienen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.10.2021. Für viele Hunderte Millionen Nutzer in Ländern in Afrika, Asien oder Lateinamerika ist Facebook buchstäblich das Internet, schreibt die SZ und spricht von "digitalem Kolonialismus". Aber eben oft auch das einzige Kommunikationsmittel, ergänzt netzpolitik. hpd und taz berichten erschüttert vom sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche - und in allen anderen Religionsgemeinschaften. Die SZ blickt nach dem Wahldesaster in Berlin auf den Zustand der Verwaltung und rät: Termine am besten um 2 Uhr morgens machen. Und in der Welt freut sich Julian Nida-Rümelin auf acht Jahre Olaf Scholz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.10.2021 finden Sie hier

Internet

Hierzulande mag der Facebook-Blackout vielleicht als willkommene "Digitalaskese" hingenommen worden sein, aber für "Hunderte Millionen Nutzer in Ländern in Afrika, Asien oder Lateinamerika war der Ausfall eine Katastrophe, schreibt Andrian Kreye in der SZ, denn: "Facebook ist dort ganz buchstäblich das Internet. Dort können Menschen über die App Discover from Facebook oder das Angebot Facebook Zero für kleines Geld oder gratis ins Internet, selbst dann, wenn sie keinen Datenplan mit einem lokalen Anbieter haben. 'Zero-Rating' nennt sich diese Praxis, Nullbewertung. Das ist allerdings keine Wohltätigkeit, sondern ein Geschäftsmodell. Weil die großen digitalen Anbieter ihre Wachstumsraten in den Wohlstandsländern ausgereizt haben, bleiben nur die Entwicklungs- und Schwellenländer, um Nutzer zu gewinnen. 'Zero-Rating' gilt als digitaler Kolonialismus. Denn natürlich sind Discover und Facebook Zero Nadelöhre, die all die neuen Nutzer nicht nur an sich binden, sondern in den meisten Fällen auch verhindern, dass sie die Konkurrenz erreichen." Außerdem habe Zuckerberg Facebook aus "Personalmangel" nicht mehr im Griff, ergänzt Kreye auf den Meinungsseiten der SZ.

Wie sehr Menschen in vielen Ländern auf Facebook, Instagram und Whatsapp längst als Kommunikationsmittel angewiesen sind, konkretisiert Markus Reuter bei Netzpolitik: "Im Iran zum Beispiel, wo Instagram das letzte verbleibende westliche soziale Netzwerk ist und ganze Wirtschaftszweige mit diesem Netzwerk verknüpft sind. Da haben Leute keine Geschäfte gemacht und Geld verloren. Oder in Argentinien, wo man Unternehmen nicht mehr erreichen konnte, weil der Kundenservice über WhatsApp abgewickelt wird. Oder in Indien, wo Familien nicht mehr miteinander kommunizieren konnten. Ihnen wird der Zeigefinger nicht gerecht. Gerade wenn sie wie die meisten Menschen in Argentinien Mobilfunkverträge haben, bei denen sie WhatsApp kostenlos nutzen können, aber für das restliche Internet teuer bezahlen. Weil es keine Netzneutralität, sondern Zero-Rating gibt."

Im FAZ-Interview mit Roland Lindner sorgt sich der Anwalt John Tye von "Whistleblower Aid", der Frances Haugen vertritt, vor möglichen Vergeltungsschlägen Facebooks gegen Haugen: "Facebook könnte nun alle möglichen Anschuldigungen gegen sie erheben, sie über Medien zu attackieren versuchen oder sie verklagen. Facebook könnte sagen, sie hätte irgendwelche persönlichen Motive. Und über solche Bedrohungen machen wir uns auch Gedanken."
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Europa

Auf Seite 3 der SZ dokumentieren Marlene Knobloch, Verena Mayer und Thorsten Schmitz nochmal das ganze desaströse Ausmaß der Wahlorganisation in Berlin, das aber niemanden wirklich verwundern kann, der schon mal versucht hat, einen Termin bei einem Berliner Amt zu bekommen. Das Wahlchaos sei ein "Sinnbild für den Zustand der Verwaltung", in der die Technik veraltet ist und sich die unterbesetzten Mitarbeiter immer häufiger krank melden: "Für jede Ummeldung muss man in Berlin persönlich auf dem Amt erscheinen, innerhalb von zwei Wochen nach Umzug. Wer am Montag, den 4. Oktober, einen Termin sucht, bekommt aber frühestens einen am 29. November. Über acht Wochen später. Vor einem Bürgeramt in Mitte fängt einen ein Sicherheitsmann am Eingang ab, sagt, Termine gebe es nur online. Sein Tipp, den er auch seinen Verwandten gebe: Man solle sich den Wecker auf zwei Uhr morgens stellen, Computer anwerfen, 'dann finden Sie am besten einen Termin'."
Laut Welt sollen auch Jugendliche unter 18 in Berlin bei der Bundestagswahl gewählt haben.

Der Wahlsieg von Olaf Scholz markiert einen "Epochenwechsel", glaubt der Philosoph und Ex-SPD-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin in der Welt und stellt sich schon mal auf acht Jahre Scholz ein. Denn: "Zum ersten Mal seit 1969 konnte eine Partei mit dem Thema soziale Gerechtigkeit einen Wahlsieg erringen. Zum ersten Mal seit den Schröder-Wahlen liegt die SPD bei Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen, bei Nicht-Akademikern, bei Geringverdienern wieder vorn. Dabei hat sehr geholfen, dass sie von ihrem Akademisierungs-Trend Abschied genommen und eingesehen hat, dass die Abwertung von nicht-akademischen Qualifikationen auch Ausdruck mangelnden Respekts ist."
Archiv: Europa

Gesellschaft


Ein sichtlich geschockter Gil Ofarim erzählt in einem Video auf Twitter, dass er vom Manager des "Westin" Hotels in Leipzig aufgefordert worden sei, seinen Davidstern abzulegen, bevor er sich eincheckt. Der Mitarbeiter wurde vorerst beurlaubt, berichtet die Welt, das Hotel entschuldigte sich, wurde aber nicht klüger: "Das 'West In Leipzig' postete später ein Foto, auf dem Mitarbeiter ein großes Banner mit vier Israel-Flaggen und zwei Mondsicheln - Symbol für den Islam - hochhielten. Der Zentralrat kritisierte diese Reaktion: 'Was soll dieser Banner, WestIn? Eine angemessene Reaktion sieht anders aus!'"
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Medien

Bei der Eröffnung des 53. Historikertages, der derzeit zum Teil physisch in München unter dem Motto "Deutungskämpfe" stattfindet, hört Kurt Kister in der SZ vor allem genau hin, wenn Gustav Seibt (SZ) und Patrick Bahners (FAZ) mit den Historikerinnen Eva Schlotheuber und Gabriele Metzler über den Zustand des "Geschichtsjournalismus" diskutieren: "Bahners war für die Abteilung Kulturpessimismus zuständig; er beschrieb, nicht unbedingt nur am Beispiel des Geschichtsjournalismus, die 'Deprofessionalisierung' des Gewerbes. Seibt steuerte Erinnerungen an jene Zeit bei, in der man in der Zeitung noch mehr Platz hatte, um komplexe Dinge auszubreiten. Es sei traurig, dass das Feuilleton heute wieder schrumpfe, und häufig komme es auch vor, dass dem Platzvergeber erst zwei, drei Tage vorher einfalle, dass man zu diesem Thema oder jenem Gedenktag einen Artikel brauche. (…) Bahners, der eventuellen Platzmangel in der FAZ mit obsessivem Twittern ausgleicht, sagte ein paar gescheite Dinge über die öffentliche Aufmerksamkeit als Mittel der Machterweiterung in akademischen Kreisen. Seibt analysierte den bedauerlichen Zustand, dass viele heute nicht einmal mehr das Feuilleton läsen."
Archiv: Medien
Stichwörter: Historikertag, Feuilleton

Religion

Murat Kayman hat für sein Blog den "Tag der offenen Moschee", in der großen Kölner Ditib-Moschee besucht. Er feierte am 3.Oktober immerhin 25. Jubiläum. Aber es herrschte nicht nur "kein Festtagswetter. Auch beim Bodenpersonal Gottes kaum heitere Mienen - der Vorsitzende des Ditib Bundesverbandes, Kazim Türkmen, empfängt die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker auf dem Vorplatz vor dem Moscheeeingang. Sie ist neben dem Bezirksbürgermeister offenbar der einzige nicht muslimische Gast. Der größte Zusammenschluss der größten muslimischen Dachverbände feiert das 25-jährige Jubiläum seines TOM - und kaum jemand will mitfeiern. Kein Staatssekretär des BMI, niemand, der für die Deutsche Islam Konferenz zuständig ist, kein Bundespolitiker, kein religionspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktionen, kein Integrationsminister des Landes NRW, niemand aus der Landespolitik in NRW, kein Vertreter der Kirchen oder anderer Religionsgemeinschaften."

Inge Hüsgen hat sich für hpd.de den Bericht "Independent Inquiry into Child Sexual Abuse" (IICSA) angeschaut, der sexuelle Gewalt gegen Kinder in den meisten großen Religionsgemeinschaften Großbritanniens dokumentiert. Neben anglikanischer und katholischer Kirche sind auch jüdische, muslimische, hinduistische und andere Gemeinden betroffen: "So unterschiedlich sich die Einzelfälle darstellen - Schülerinnen in der Koranschule sind ebenso betroffen wie Jugendliche, die ein christliches Sommercamp besuchen -, so sehr gleichen sich die Strategien der Täterinnen und Täter. Sie verharmlosen die Übergriffe, bringen die Zeugen mit Geschenken, Drohungen und emotionaler Erpressung zum Schweigen. In einigen Fällen berufen sie sich ausdrücklich auf moralische Konzepte der Glaubensgruppe - statt die Tat publik zu machen, solle das Opfer dem Täter doch vergeben, heißt es da. Kommt es doch zu polizeilichen Ermittlungen, werden die Beschuldigten nicht selten von ihrer Gemeinde gedeckt."

Von einem "Erdbeben für Frankreichs Katholikinnen und Katholiken" berichtet derweil Christine Longin in der taz: Eine 2018 eingesetzte Kommission hat ihren Bericht zum Ausmaß sexuellen Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche veröffentlicht: "216.000 Kinder wurden den Schätzungen unabhängiger Experten zufolge in den vergangenen 70 Jahren Opfer von Missbrauch durch Priester und Ordensleute. Auf 330.000 Opfer steigt die Zahl, wenn Laien, beispielsweise in Schulen oder Ferienlagern, als Täter mit eingerechnet werden."
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Ideen

Im Standard warnt Ronald Pohl vor der "unermüdlichen Neuredaktion" "woker Sachbearbeiterinnen" in Museen, auf den Straßen und überall dort, wo sie sonst noch inkriminierte Begriffe entdecken: "Das Zutrauen in die Wirksamkeit sprachlichen Handelns aber teilt die Political Correctness mit dem Kommunismus. Dieser trachtete danach, sämtliche Artikulationen von Widerspruch in seinem gefräßigen dialektischen Bauch zu verdauen. In ihm wurde die Kritik an der Ökonomie von dieser abgespalten - und in die Sphäre der Sprache versetzt. Die 'woken' Umbenenner des überlieferten Unrechts teilen also das Vertrauen, das die Kommunisten in die Macht der Sprache gesetzt haben."
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