9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2021. Nichts fasziniert alle Verlage, die nicht Springer sind, mehr als Springer: Die Affäre hat der Recherche über Springer aber geschadet, weil viele betroffene Frauen nun nicht mehr über ihre Geschichten reden wollen, berichtet die SZ. Die Zeit greift die Versuche auf, eine kommende Parteistiftung der AfD zu verhindern.  Die taz staunt über die Polen im Osten des Landes, die den Flüchtlingen grüne Lichter ins Fenster stellen. Die Zeitungen diskutieren außerdem über die Frage, wie sinnvoll ein Boykott der Buchmesse wegen der Präsenz rechtsextremer Verlage ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.10.2021 finden Sie hier

Europa

Der Osten Polens, wo die von Alexander Lukaschenko eingeschleusten Flüchtlinge landen, ist eigentlich Kaczynski-Land. Aber die polnische Bevölkerung hilft den Flüchtlingen, beobachtet taz-Korrespondentin Gabriele Lesser: "Anfangs hatten die meisten Pol:innen noch der Propaganda der regierenden Nationalpopulisten Glauben geschenkt. Diese stellte die Geflüchteten als angebliche Terroristen, Kinderschänder und Vergewaltiger im Staatsfernsehen TVP dar. Doch die Aktion eines Dorfbürgermeisters an der polnisch-belarussischen Grenze löste nun eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Bewohner:innen fingen an, grün leuchtende Lampen in ihre Fenster zu stellen. Diese sollen den Geflüchteten zeigen, dass sie dort Hilfe finden."

Kaum bekommt die AfD eine "parteinahe Stiftung", richtet sich der Blick der Journalisten zum ersten Mal auf diese immer besser finanzierte Parallelwelt, mit der die Parteien ihre Milieus absichern. Auf 700 Millionen Euro schätzte Heribert Prantl neulich ihre kommenden Jahresbudgets (unser Resümee). In dieses Bett wird sich auch die AfD gerne setzen, vermutet Paul Middelhoff in der Zeit und zitiert eine interne Schätzung der AfD, nach der man mit dem Stiftungsgeld 921 Stellen wird finanzieren können. Die demokratischen Parteien und die Linkspartei hätten das Feld bisher "kaum reguliert, in der Vergangenheit formulierten die Stiftungen zu Beginn jeder Legislaturperiode anhand der letzten Wahlergebnisse bloß ihre Budgetvorstellungen, die dann in der Regel vom Parlament genehmigt wurden". Nun, wo die AfD kommt, soll sie allerdings ausgeschlossen werden, da sie einer "nicht demokratischen politischen Grundströmung" angehört. Dies soll in einem Gesetz formuliert werden. Offenbar spekuliert man dabei auf jahrelange Prozesse: "In der Theorie fiele die Erasmus-Stiftung dann zwar möglicherweise aus der Förderung. Nur: Ein solches Gesetz würde mutmaßlich vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden, denn es wäre ein massiver Eingriff in die Gleichbehandlung der Parteien."

Wie stark sind die demokratischen Kräfte in der Linkspartei, fragt Johannes Boie, der künftige Chefredakteur der Bild-Zeitung, in der Welt am Beispiel des Kovorsitzenden der Partei in Mecklenburg-Vorpommern, Torsten Koplin: Der wahrscheinliche künftige Koalitionspartner Manuela Schwesigs "war ab 1981 SED-Mitglied, diente im Wachregiment der Stasi, war für den Unterdrückungsapparat ab 1987 Inoffizieller Mitarbeiter, verriet als 'IM Martin' mündlich und schriftlich Dritte an die sozialistische Diktatur. 2014 reiste er zum von Russland initiierten, ungültigen 'Referendum' über den Status der Krim auf die Krim, machte für Russlands Propaganda den 'Wahlbeobachter', während prorussische Milizen Journalisten verprügelten. Ein Mann, der Demokratie, Freiheit und Menschenrechte über Jahrzehnte offensichtlich verachtet hat, ist für Schwesig kein Hindernis." Beiden geht es um die Durchsetzung von "Nordstream 2".

Von einer "europäischen Souveränität", wie sie Emmanuel Macron forderte, sind wir noch weit entfernt. Vorerst gilt es das Demokratiedefizit der europäischen Institutionen zu bekämpfen, meint Heinrich August Winkler in einem Essay für die FAZ. Die Lage ist ohnehin misslich: "In der EU der 27 fehlt es, seit einige ostmitteleuropäische Mitgliedstaaten sich als 'illiberale Demokratien' verstehen und den Abbau des Rechtsstaates vorantreiben, an dem inneren Zusammenhalt, der für eine gemeinsame Willensbildung in der Außenpolitik notwendig ist. Infolgedessen kommt alles auf die engstmögliche Zusammenarbeit der Staaten an, die am Grundkonsens der Gemeinschaft festhalten und notfalls zu einer Um- oder Neugründung der EU bereit sind."
Archiv: Europa

Kulturmarkt

Einige Autorinnen boykottieren die Buchmesse, weil sie zum "Blauen Sofa" eingeladen sind und dort in der Nähe sehr prominent ein rechtsextremer Verlag platziert wurde. In der taz berichtet Dirk Knipphals: "In der Tat ist die Präsenz dieses Kleinverlages zu Beginn der Buchmesse das große Thema, das und die Absage ihrer Messeauftritte durch Jasmina Kuhnke, Ciani-Sophia Hoeder und Aminata Touré sowie die Aufrufe, aus Solidarität die Messe zu boykottieren, die in den sozialen Medien zu finden sind. Jasmina Kuhnkes Verlag, Rowohlt, weist darauf hin, dass der Leiter des Verlags Jungeuropa öffentlich die 'Abschiebung' von Jasmina Kuhnke gefordert hat."

Einige der AutorInnen müssen wegen der Bedrohung durch Rechte inzwischen unter Polizeischutz auftreten, weiß Marie Schmidt in der SZ - und findet die Absagen dennoch falsch, da Druck entstehe für AutorInnen, die sich als links und antirassistisch positionieren, "ihre eigene Teilnahme an der Messe wo nicht abzusagen, so zumindest rechtfertigen zu müssen. Von solcher Peer Pressure mag man halten, was man will. Ein schärferes Dilemma besteht darin, dass die Intervention einem bislang unbekannten Kleinverlag unfreiwillig zu Aufmerksamkeit verholfen hat." Außerdem sei es eine Frage des Kartellrechts, ob man rechte Verlage ausschließen kann, erklärt ihr Buchmessendirektor Jürgen Boos: "'Wenn die Frankfurter Buchmesse als marktbeherrschend im Sinne des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen einzustufen ist, wovon wir aufgrund der Größe und internationalen Bedeutung der Veranstaltung ausgehen, dann darf sie Aussteller nicht ohne sachlich gerechtfertigten Grund ausschließen. (...)' Andernfalls könnten sich Akteure, etwa der rechten Verlagsszene, einklagen."

Iris Radisch resümiert für die Zeit den Streit zwischen Verlagen und Bibliotheken um die "Online-Ausleihe". Beide Seiten haben gute Argumente, schreibt sie. Die Verlage wollten eine Gleichstellung von Ebooks und physischen Büchern verhindern: "Bisher gelten nämlich unterschiedliche Regelungen. Während die Bibliotheken aus den gedruckten Neuerscheinungen sofort nach ihren eigenen Wünschen frei auswählen dürfen und diese beim Buchhandel einkaufen, gibt es für elektronische Bücher, die von zentralen Plattformen wie divibib und Overdrive vermittelt werden, häufig Sperrfristen von einigen Monaten."
Archiv: Kulturmarkt

Medien

Ippen prüft "nach dem Davonlaufen seines Autorenteams, großem öffentlichen Protest und lauter Kritik - darunter auch vom Deutschen Journalistenverband, der die Einmischung des Verlags in redaktionelle Entscheidungen rügt - doch noch eine Veröffentlichung" seiner Recherchen zum sexuellen Gebaren des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt, weiß Aurelie von Blazekovich in der SZ: "Nur zerbröselt in der Zwischenzeit offenbar die ursprüngliche Recherche: Auf Anfrage der SZ sagt Ippen-Sprecher Johannes Lenz, man müsse derzeit herausfinden, welche Ergebnisse überhaupt noch veröffentlicht werden können, 'da sich in der Dynamik des Geschehens Betroffene und Informanten zurückgezogen haben'."

Im FR-Gespräch mit Valerie Eiseler und Viktor Funk konkretisiert Juliane Löffler von Ippen Investigativ: "Ich musste am Freitag Quellen anrufen und ihnen sagen, dass die Veröffentlichung abgesagt ist. Das hat natürlich bei den Quellen massiv zu Verunsicherung und Bestürzung geführt. Manche waren extrem emotional. Die haben sich - nicht von mir persönlich, aber von dem Verlag - im Stich gelassen gefühlt und natürlich hat es dazu geführt, dass ich aktuell nicht mehr von allen Quellen den Rückhalt habe, in diesem Verlag zu veröffentlichen." Auf die Frage, ob das Problem "größer als 'nur' Julian Reichelt" sei, antwortet sie: "Missbrauch geht nicht von einer einzelnen Person aus. Es gibt immer drumherum ein System, das den Missbrauch verdeckt oder stützt."

Wohl deshalb entschuldigt sich Markus Knall, Chefredakteur von Ippen Digital in der FR bei den "zahlreichen Frauen", die sich im Zuge der Reichelt-Recherchen an die Redaktion wandten, dafür, dass die Zusage, ihre Geschichten zu erzählen, nicht eingehalten wurde.

Die New York Times agiert als Konkurrent und maß Springer schlicht an Compliance-Regeln, die dort inzwischen gelten, kommentiert Daniel Bouhs bei tagesschau.de: "Dort nahm die 'Metoo'-Affäre ihren Lauf. Dort werden Liebesbeziehungen in Unternehmen oft nicht toleriert. Und dort kann es mitunter für Konzerne und ihre Verantwortlichen teuer werden, wenn sie Machtmissbrauch dulden. Die New York Times interessierte sich deshalb besonders für die Kultur bei Bild." Nun wäre noch zu fragen, warum sie auf Murdochs Imperium nicht so eine Wirkung zu haben scheint.

SZ-Autorin Tanja Rest sinniert derweil über die "männliche Lust auf Unterwerfung": "Es muss sich gut anfühlen am oberen Ende der Nahrungskette - als Mann. All die Kriecher, die winseln, wo vor ein paar Jahren noch du gewinselt hast. All die Prätorianer, die den Stiefel lecken, den gerade noch du geleckt hast. Die Frauen erst, die jetzt endlich tun müssen, was du taufrisches Ex-Würstchen sagst, wie geil ist bitte das?! Es gibt ein Foto, das all dies ausdrückt, da stehen der Buberlkanzler Sebastian Kurz und der Bild-Krieger und Gott des Gemetzels Julian Reichelt nebeneinander, und sie sehen wirklich wie siamesische Zwillinge aus. Hüben wie drüben dieselbe rotbackige Buberlentzückung darüber, dass es ihnen tatsächlich gelingt, die Welt zu verarschen, ein Bild des kerngesunden Glücks."
Archiv: Medien

Geschichte

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fragt in der FAZ, warum die Deutschen ihrer Demokratiegeschichte so wenig gedenken. Er teilt nicht die These, dass die Erinnerung an den Nationalsozialismus diese Geschichte verdeckt und sieht die Ursache schon im 19. Jahrhundert: "Nach der Reichsgründung 1871 dominierte eine national-borussische Geschichtsschreibung, welche die deutsche Geschichte auf das Streben nach staatlicher Einheit reduzierte, das Preußentum heroisierte und Otto von Bismarck zum genialen Erfüller nationaler Sehnsüchte verklärte. Statt an Freiheitsbewegungen erinnerte man an die Befreiungskriege gegen Napoleon. Damit wurde nicht nur der Grundstein zur nationalistischen Ideologie einer Erbfeindschaft mit dem französischen Nachbarn gelegt, sondern auch die positive Seite des Freiheitsbegriffs, die Freiheit zu bürgerlicher Selbstbestimmung, ausgeblendet." Von der Paulskirche sagt Steinmeier in seinem Essay übrigens, dass sie den Ansprüchen, "die wir heute an einen ebenso würdigen wie lebendigen Erinnerungs- und Lernort der Demokratie stellen, nicht gerecht" wird. Steinmeier hat ein Buch zum Thema herausgegeben. Sein Vorwort, das mit dem FAZ-Text mehr oder weniger identisch ist, lässt sich hier in einer pdf-Leseprobe nachlesen.
Archiv: Geschichte