9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Quäntchen zu viel Selbstermunterung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2021. Abtreibung ist weltweit ein Streitthema. SZ, taz und Zeit online zeigen, wie das Thema populistisch manipuliert wird. Der Bundestag wird möglicherweise eine Impfpflicht beschließen, die SZ zeigt, wie sie aussehen kann. In der Welt protestiert Otto Schily gegen eine Impfpflicht. In der taz erklärt Annalena Baerbock ihre künftige China-Politik. heise.de berichtet über heftige Kritik des Bundesrechnungshofs am "De-Mail"-Projekt der Bundesregierung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.12.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Abtreibung ist in den meisten Ländern ein Streitthema, schreiben Karoline Meta Beisel und Oliver Meiler in der SZ. In Mexiko wurde gerade liberalisiert, in vielen katholischen Ländern macht aber die Kirche ihren Einfluss noch geltend. Ideologische Gegenbewegungen sind stärker geworden. Säkularisierung hilft, erläutert die im  Artikel befragte Gesundheitswissenschaftlerin Daphne Hahn: "Es sei ein Trugschluss zu denken, dass strengere Abtreibungsgesetze automatisch zu weniger Abtreibungen führten. Oft sei das Gegenteil richtig: 'In Ländern mit liberaleren Gesetzen zum Schwangerschaftsabbruch gibt es in aller Regel auch leichteren Zugang zu Verhütungsmitteln und bessere Bildungsangebote in der Schule', sagt Hahn - was es für Frauen auch erleichtere, mit einem Sexualpartner überhaupt offen über Verhütung zu sprechen und ungewollte Schwangerschaften von vornherein zu verhindern.'"

Auch die taz berichtet zum Thema Abtreibung. In Chile ist ein Gesetz zur Liberalisierung gerade im Parlament gescheitert, schreibt Jürgen Vogt: "Pikanterweise stimmten dabei nicht nur fünf Abgeordnete der oppositionellen Mitte-links-Koalition gemeinsam mit den Abgeordneten der rechten Regierungsallianz gegen das Gesetz. Einige Abgeordnete der Opposition erschienen erst gar nicht, darunter der linke Präsidentschaftskandidat Gabriel Boric." Und in Mississippi soll das bisherige Abtreibungsrecht gekippt werden, berichtet Dorothea Hahn: "In dem Bundesstaat, einem der ärmsten Gebiete der USA, gibt es nur eine einzige Klinik, an der Frauen noch eine Abtreibung bekommen können. Vor den Toren dieses rosafarbenen Hauses müssen Patientinnen durch ein Spalier von AbtreibungsgegnerInnen gehen, die sie mit Bibeln et cetera behelligen."

Wie Abtreibung zu einem Symbolthema für nationale Erweckung umfunktioniert wird, zeigt das Beispiel Polen, über das Karolina Wigura in Zeit online schreibt. Schon nach dem Mauerfall wurde das Thema populistisch manipuliert: "Polen hatte schon 1993 das Abtreibungsgesetz verschärft. Diese als 'Abtreibungskompromiss' bezeichnete Regelung war eine der strengsten innerhalb der EU. Die öffentliche Meinung hatte zwar Anfang der Neunzigerjahre die Beibehaltung der liberalen postkommunistischen Abtreibungsgesetze befürwortet, aber Politiker hatten sich der Macht der katholischen Kirche gebeugt und das Gesetz ohne Rückgriff auf ein Referendum verschärft."

Im März soll eventuell eine Impfpflicht in Kraft treten, der Bundestag wird darüber ohne sogenannten Fraktionszwang abstimmen, erläutert ein SZ-Team: "Die zeitliche Perspektive ist so gewählt, dass auch Menschen, die bislang nicht geimpft sind, bis zum Inkrafttreten der Impfpflicht ausreichend Zeit hätten, mit zwei Teilimpfungen einen gültigen Impfschutz aufzubauen. Teil der Impfpflicht könnte auch die Wahrnehmung von Auffrischungsterminen sein. Der Status 'geimpft' wäre folglich befristet, die Impfzertifikate würden zum Beispiel nach sechs Monaten ihre Gültigkeit verlieren."

"Eine allgemeine Impfpflicht ist schlicht verfassungswidrig", schreibt der mit der Anthroposophie verbundene Otto Schily in der Welt: Sie "wird die schon jetzt erkennbaren Spaltungstendenzen in der Gesellschaft auf hochgefährliche Weise verstärken bis hin zu Gewaltausbrüchen. Das ist nicht zu verantworten. Mit Recht wird von denen, die in der Politik noch einen kühlen Kopf bewahren, vor allem die Frage gestellt, wie eigentlich eine allgemeine Impfpflicht durchgesetzt werden soll? Will man etwa den wahnsinnig gewordenen Juristen folgen, die allen Ernstes Freiheitsstrafen für Impfunwillige für gerechtfertigt halten?" International wäre eine solche Impflicht ein "deutscher Sonderweg, der bisher nur im ebenfalls konfus regierten Österreich eingeführt werden soll", sekundiert Frank Lübberding im Welt-Feuilleton.

"Triage" - ein Begriff der utilitaristischen Ethik - ist "in erster Linie ein Scheitern", sagt im SZ-Gespräch mit Nils Minkmar die französische Philosophin Cynthia Fleury: "Unser Zugang zu Ressourcen wird immer komplizierter und ungerechter, wir können eine umfassende Versorgung nicht mehr einfach voraussetzen, sondern müssen Prioritäten setzen. Dies wird dazu führen, dass unsere Krankenhäuser und Notfalldienste, aber nicht nur diese, sondern auch andere Institutionen der Versorgung, sogar der Bildung, zunehmend herabgestuft werden. Folglich müssen wir heute schon Kulturen der Resilienz ausbilden. Dabei sollten wir uns auf die Werte der Solidarität stützen, denn nur diese sind agil, schnell und können mit dem Unbekannten und der Ungewissheit umgehen. Der gewohnte Rationalismus des Managements funktioniert leider nur im Normalbetrieb, wenn alles bestens bekannt und abgesteckt ist."

Außerdem: In der NZZ rauft sich Katja Müller die Haare nach der Lektüre von Robert F. Kennedys Buch "The Real Anthony Fauci. Bill Gates, Big Pharma, and the Global War on Democracy and Public Health", in dem Kennedy Verschwörungstheorien verbreitet und das bei Amazon an der Spitze der Bestsellerliste steht: "Auf 480 Seiten beschreibt Kennedy, ein prominenter Impfgegner, wie Anthony Fauci, der Leiter des Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten, mit Bill Gates und den Pharmafirmen unter einer Decke stecken soll. Sie würden ein 'mächtiges Impfkartell' führen, das die Pandemie verlängere und deren tödlichen Auswirkungen übertreibe, um teure Impfungen zu propagieren."
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Politik

Auch in der Außenpolitik steht für Anna Baerbock das Thema Klima im Zentrum, sagt sie im Interview mit mit einem taz-Team. Auf die Frage, wie sie mit China umgehen wird, antwortet sie: "Dialog ist der zentrale Baustein internationaler Politik. Aber das heißt nicht, dass man Dinge schönreden oder totschweigen muss. Eine die Differenzen in den Vordergrund stellende Außenpolitik führt genauso in eine Sackgasse wie eine, die auf dem Ausblenden von Konflikten basiert. Deswegen ist für mich eine wertegeleitete Außenpolitik immer ein Zusammenspiel von Dialog und Härte. Beredtes Schweigen ist auf Dauer keine Form von Diplomatie, auch wenn das in den letzten Jahren von manchen so gesehen wurde."
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Stichwörter: Baerbock, Annalena

Internet

A propos Digitalisierung und Staat. Der Rechnungshof ist recht erzürnt über die deutsche Erfindung der "De-Mail", die eine rechtssichere Kommunikation zwischen Behörden und der Bürger mit Behörden ermöglichen sollte. Die Bundesregierung selbst hat dieses Projekt des Bundesinnenministeriums bereits selbst mit Skepsis beäugt, berichtet heise.de: "Im April 2017 berichtete die Bundesregierung über den Stand der Initiative. Sie stellte dabei selbst fest, dass weder Bürger noch Firmen De-Mail verbreitet nutzten. Die Behörden des Bundes hatten innerhalb eines Jahres weniger als 250 De-Mails empfangen und weniger als 90 De-Mails versandt. Eine Evaluierung des E-Government-Gesetzes 2019 erbrachte kein anderes Ergebnis. Damals hatten von den insgesamt 121 Ämtern mit De-Mail-Zugang nur neun den Service in ihre elektronischen Arbeitsabläufe eingebunden."
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Stichwörter: De-Mail, Digitalisierung

Geschichte

René Wildangel resümiert im Tagesspiegel die Buchmesse Thessaloniki, wo Deutschland das Gastland war. Unter anderem ging es auch um die Verbrechen der Deutschen in Griechenland während der Nazizeit, die heute ebenso wenig Platz im kollektiven Gedächtnis haben wie die Geschichte der vielen griechischen Gastarbeiter in der jungen BRD: "Die verdrängte Geschichte deutscher Gewaltherrschaft bleibt die größte Leerstelle im gegenseitigen Verhältnis. Dass diese Aufarbeitung 'nicht abgeschlossen' sei, wie es der Koalitionsvertrag formuliert, darf getrost als Understatement gelten - sie muss erst noch richtig beginnen."
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Europa

"Ein Quäntchen zu viel Selbstermunterung steckt in dieser Prosa", seufzt Hans Hütt in der SZ nach der Lektüre des in weiten Teilen "kryptischen" Koalitionsvertrages: "'Wir sorgen für Tempo beim Infrastrukturausbau durch schlanke digitale Antrags- und Genehmigungsverfahren, Normierung alternativer Verlegetechniken und Aufbau eines bundesweiten Gigabit-Grundbuchs.' Im Tonfall und Wortlaut oszilliert das Kapitel zwischen Nachrichten in leichter Sprache und Wolkenmetaphorik: 'Wir haben Lust auf Zukunft und den Mut zu Veränderungen, sind offen für Neues und werden neue technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft entfachen.' Die Lieferantenherzen jauchzen Hosianna."
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Stichwörter: Koalitionsvertrag 2021