9punkt - Die Debattenrundschau

Groß und höchstwahrscheinlich langanhaltend

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2021. Vor dreißig Jahren kollabierte die Sowjetunion. Wladimir Putin betonte neulich, dass dies für ihn dem Zerfall des "Historischen Russland" gleichkommt, so Radio Free Europe. In der FAZ lässt Viktor Jerofejew die langen Jahre des Putinismus Revue passieren, die in die Unberechenbarkeit führten. Deutschland kommt in diesem Konflikt eine Schlüsselrolle zu, schreibt Constanze Stelzenmüller in der Financial Times. In der NZZ malt Nikolai Klimeniouk aus, wie ein Krieg nach einem Angriff auf die Ukraine aussehen könnte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.12.2021 finden Sie hier

Europa

Vor dreißig Jahren kollabierte die Sowjetunion. Viktor Jerofejew blickt in einem tieftraurigen FAZ-Artikel nochmal zurück auf die nicht zu stoppende Machtherrlichkeit Wladimir Putins in einem an sich maroden Land, das allein von seiner Öl- und Gasrente zehrt. Es ist sein Populismus, der ihn unangreifbar macht: "Das Volk erkannte Putin als einen der Seinen. Er wurde zu 'unserem' Präsidenten, orientiert an 'unseren' Werten, an von den Russen innig geliebten Aktivitäten wie Jagen und Fischen, an den knallharten Ansichten eines Machos, der sich gerne mit nacktem Oberkörper auf einem Pferderücken präsentiert. All das wird bei uns geschätzt. Von Männern wie von Frauen." Das paradoxe Ergebnis von dreißig Jahren Eiserner Hand ist aber Unberechenbarkeit, so Jerofejew: "Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sind heute aufs Äußerste gespannt. Alles kann jeden Moment buchstäblich explodieren. Der kleine Krieg in der Ukraine kann zum großen werden, der große zu einem Atomkrieg."

Putin hat den Fall der Sowjetunion kürzlich in einer Dokumentation des russischen Staatsfernsehen als "Auflösung des historischen Russlands" bezeichnet, die Politik der Ukraine erinnere ihn überdies an einen Genozid, hatte Radio Free Europe schon vor ein paar Tagen berichtet.

Der Schlüssel zur Bewältigung der Krise mit Moskau liegt in Deutschland, schreibt Constanze Stelzenmüller von der Brookings Institution in der Financial Times (der Artikel findet sich auch auf der Homepage der Brookings Institution). Nur "wäre jede mögliche Maßnahme - Sanktionen gegen russische Unternehmen, Ausschluss Russlands aus dem elektronischen Zahlungssystem Swift, Streichung der Nord Stream 2-Pipeline - für die neue Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz finanziell und politisch kostspielig. Aber was ist die Alternative? Laut Putin: Krieg in Europa, geführt von einer nuklearen Großmacht."

In der NZZ denkt der Schriftsteller Nikolai Klimeniouk darüber nach, was ein russischer Einfall in die Ukraine bedeuten würde: Er "würde einen großen und höchstwahrscheinlich langanhaltenden Krieg auslösen, in den unausweichlich mehrere Parteien involviert werden würden. Zugeständnisse an Putin auf Kosten der Ukraine und ohne Einbeziehung der östlichen EU-Mitgliedsstaaten könnten möglicherweise einen großen Krieg aufschieben. Dafür würden sie die Integrität der westlichen Bündnisse, sei es die Nato, die Europäische Union oder auch nur die gefühlte 'Wertegemeinschaft', sofort und nachhaltig beschädigen. Sollte es gelingen, Russland mit glaubhafter Abschreckung vom Krieg abzuhalten, entlüde sich Putins Wut gegen die eigene Bevölkerung. Dabei dürfte der Druck nicht nachlassen, sonst kämen wir sofort wieder an die Ausgangsposition."

FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt beschreibt die brutale Repression des Lukaschenko-Regimes, das inzwischen fast tausend politische Gefangene in Lager und Gefängnisse gesteckt hat. Es kann jeden treffen: "Ausweislich der jüngsten Veröffentlichungen hat es die Sondereinheit derzeit besonders auf junge Leute aus dem IT-Sektor abgesehen, die festgenommen wurden, weil sie 'extremistische Telegram-Kanäle' abonniert hätten. Als solche gelten in Belarus längst nicht mehr nur Oppositionsmedien wie das in Polen beheimatete Nexta, sondern auch unabhängige Medien wie das im Frühsommer zerschlagene Tut.by - das nun allein 15 politische Gefangene stellt - und seit Kurzem auch der Telegram-Kanal von Artjom Schrajbman, einem renommierten Belarus-Beobachter, der im Sommer ins Ausland fliehen musste."

In der NZZ analysiert Paul Jandl die "Slim-Fit-Moral" der Österreicher, die sich so gut in Haider und Kurz verkörpert hat: "Österreich: Eine Hand wäscht die andere, aber wenn das an die Öffentlichkeit kommt, dann werden alle ihre Hände wieder nur in Unschuld gewaschen haben wollen. Der Begriff der 'Unschuldsvermutung' hat in diesem Land eine triumphale Karriere hingelegt. Die Unschuldsvermutung ist ein juristischer Begriff, der dann angewandt wird, wenn man jemanden aus guten Gründen für schuldig hält, aber Definitives dazu noch nicht sagen kann. Bis tatsächlich etwas bewiesen ist, gilt die Unschuldsvermutung. Die vielen österreichischen Korruptionsprozesse haben das Wort so inflationär werden lassen, dass der 'Unschuldsvermutete' 2012 zum österreichischen Unwort des Jahres gewählt wurde."
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Kulturmarkt

Im Interview mit der FR erklärt der Verleger Daniel Kampa, warum es eine gute Sache ist, dass er die Verlage Schöffling und Jung und Jung übernommen hat: "Der Zusammenschluss ist eine Überlebensstrategie. Wir wollen unsere Zukunft sichern. Damit literarische Verlage auch in fünf oder zehn Jahren noch existieren. Es geht hier nicht um Wachstum. Mein Verlag ist so groß wie Schöffling, wir sind acht Leute und wollen auch nicht zu groß werden."
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Ideen

Im Interview mit der SZ spricht die Primatenforscherin Jane Goodall über ihr neues "Buch der Hoffnung". Es geht um den Klimawandel - den sie sehr ernst nimmt, aber mit dem in Deutschland so beliebten Katastrophismus hat sie nichts am Hut. Hoffnung ist ihr Credo: "Man muss sich auf die Dinge konzentrieren, die Hoffnung spenden. Eines dieser Dinge ist, dass wir mit einem sehr hoch entwickelten Intellekt ausgestattet sind. Und wir sind gerade dabei, diesen Intellekt dafür zu nutzen, Lösungen zu finden, die uns erlauben, in Harmonie mit diesem Planeten zu leben." Hoffnung gibt ihr aber auch die "verblüffende Widerstandsfähigkeit der Natur. Es gibt wunderbare Beispiele für die Renaturierung von Orten, die vollkommen zerstört worden sind. In Deutschland hat das Baustoffunternehmen Heidelberg Cement Wettbewerbe für die Renaturierung seiner Steinbrüche ausgeschrieben, die furchtbare Narben in die Landschaft gerissen hatten. Die Ergebnisse waren einfach hinreißend."
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Geschichte

In Österreich will die Ausstellung "Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum" eine gesellschaftspolitische Debatte anstoßen über die Frage: werden soll: Wohin mit den Nazi-Devotionalien, die man immer noch findet - wie die zwei Hitler-Köpfe in einem Panzerschrank des österreichischen Parlaments, berichtet Alexandra Föderl-Schmid in der SZ. "Ab in den Müll oder ins Museum? Im Haus der Geschichte werden die Besucherinnen und Besucher gleich zu Beginn mit den drei Optionen konfrontiert - Aufbewahren, Zerstören oder Verkaufen. Auf Zetteln zum Entnehmen werden konkrete Beispiele geschildert: Was macht man mit den von der Großmutter erhaltenen Reichsmark-Münzen, auf denen der Reichsadler und ein Hakenkreuz zu sehen ist? Wie geht man mit dem Bündel Briefe vom Opa um, in denen NS-verherrlichende Propaganda enthalten ist? Wohin gibt man die Abzeichen des NS-Winterhilfswerks, die mit ihren Blumen-, Tier- und Trachten-Motiven eigentlich so harmlos ausschauen? Dann wird eine Entscheidung und eine Begründung gefordert."
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Gesellschaft

Das Weihnachtsfest ist voller christliche Symbole, und dennoch wird dies Weihnachtsfest "voraussichtlich das letzte sein, an dem die Christen in Deutschland in der Mehrheit sind", schreibt Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach in der FAZ: "1995 sagten 37 Prozent der Befragten einer Allensbacher Umfrage, dass sie Mitglied der evangelischen Kirche seien, in der aktuellen Umfrage im Auftrag der Frankfurter Allgemeine Zeitung waren es noch 28 Prozent. Die Zahl der Katholiken unter den Befragten ging in der gleichen Zeit von 36 auf 25 Prozent zurück. Diese Entwicklung hat sich eher beschleunigt als verlangsamt, und so dürfte es eher eine Frage von Monaten als von Jahren sein, bis die Zahl der Kirchenmitglieder die 50-Prozent-Schwelle unterschreitet."

Säkularisierung ist oft Folge einer übergriffigen Religion, meint der Schriftsteller Giuseppe Gracia in der NZZ. "So gesehen sind die Kirchenaustritte eine gesunde Reaktion auf selbstgerechte, unglaubwürdige Hirten. Ein Reinigungsprozess, der zu einer bescheidenen Kirche führen könnte. Zu einer Kirche ohne politisch-moralische Machtansprüche. Im Dienst eines liebenden Gottes. Eines Gottes, der auf den krummen Zeilen menschlicher Fehlbarkeit gerade schreiben kann. Diese christliche Hoffnung wäre auch im Zeitalter der digitalen Transformation eine geistliche Kraftquelle."

Dem RKI gehen die neuen Beschränkungen in der Coronakrise (mehr dazu hier) nicht weit genug. Für Jörg Phil Friedrich gehen sie dagegen viel zu weit: Warum wird immer das Worst-Case-Szenario als Handlungsgrundlage genommen, fragt er. Omikron verbreitet sich zwar rasend schnell, aber die Zahl der Todesopfer in Britannien zum Beispiel sinke dennoch kontinuierlich. "Man hätte die Gefahren aufzeigen und gleichzeitig darauf hinweisen können, dass sich vieles in der Pandemie bereits zum Besseren gewendet hat. Aber die Experten haben sich, wie so oft in den vergangenen zwei Jahren, für die alleinige Präsentation des Worst-Case-Szenarios entschieden - sie wollen offensichtlich, wieder einmal, ein Maximum an Angst erzeugen, weil sie anscheinend der Meinung sind, dass die Menschen da draußen nur unter Angst und mit Vorschriften das Angemessene tun werden."
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Internet

Die Ampelkoalition verspricht Digitalisierung, die über eine Abschaffung des Faxgeräts hinausgeht. Luca Caracciolo spricht für heise.de mit Sascha Lobo, der seit vielen Jahren mit Regierungsvertretern über das Thema spricht und müde klingt: "Wir haben eine komplette Überbürokratisierung und unglaublich lange Zyklen von Erneuerung. Wir haben - nicht nur, aber auch - aus Altersgründen gegenüber bestimmten digitalen Entwicklungen eine gewisse Abwehrhaltung weiter Teile der Bevölkerung. Wir haben eine Dysfunktionalität bezüglich komplett versaubeutelter Langzeit-Bauprojekte, die zwischen Bürokratisierung, mangelnder Digitalisierung und mangelnder Einsicht ganzer Teile der Verwaltung und Administration entsteht. Das sind alles Mechanismen, die ich als ein Fundament der Dysfunktionalität dieses Landes betrachte."
Archiv: Internet