Efeu - Die Kulturrundschau

Das Berliner Elend hat sie nicht interessiert

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22.12.2021. Die taz entwirrt in Berlin die kolonialen Verwicklungen der Brücke-Künstler. Die FR geht in Moskau unter Putins Schirmherrschaft mit 5000 Plastikmännchen auf die Straße. Die Filmkritiker atmen auf: Der neue Matrix ist viel besser, als man hoffen durfte, jubelt die FAZ. Im Perlentaucher bricht Marie Luise Knott mit späten Gedichten von Pier Paolo Pasolini zu neuen Welten auf. Und die taz lauscht dem Flüstern und Kreischen der Japanerin Phew auf der anderen Seite des schwarzen Lochs.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Bild: Emil Nolde, Meerbucht, 1914, Nolde Stiftung Seebüll © Nolde Stiftung Seebüll

In der taz begrüßt Susanne Memarnia die Doppelausstellung "Whose expression? Die Künstler der Brücke im kolonialen Kontext" und "Transition Exhibition" im Berliner Brücke-Museum, die sich mit den kolonialen Verwicklungen der Künstlerbewegung auseinandersetzt. Untersucht werden etwa Stereotype wie die "Wilden" oder die "Südsee" in den Werken von Nolde, Kirchner, Schmidt-Rotluff, Pechstein oder Heckel. Nur Nolde und Pechstein reisten allerdings in die Kolonien, sparten in ihren Bildern die koloniale Realität aber aus, erfährt Memarnia. Die Direktorin des Brücke-Museums, Lisa Marei Schmidt erklärt "diese 'Kolonial-Amnesie' - das Ausblenden der kolonialen Realität - damit, dass die Künstler in der 'Südsee' eben das gefunden hätten, was sie suchten: das Paradies, wie es schon Paul Gauguin propagiert und gemalt hatte. Tiefgründige soziale Fragen hätten sie ohnehin nicht umgetrieben, 'auch das Berliner Elend hat sie nicht interessiert', so Schmidt. Zudem habe vor allem Pechstein 'sehr auf den Markt geachtet, was sich verkauft'. Bis zu seinem Lebensende 1955 sei seine Reise nach Palau eines seiner Hauptthemen geblieben - ein sehr erfolgreiches dazu. Und eigentlich, fügte sie hinzu, funktioniere das Südsee-Klischee ja bis heute, wie man etwa im Tourismus sehe."

Als die Ausstellung "Diversity United" im Sommer in Berlin gezeigt wurde, fürchtete Stefan Trinks in der FAZ, sie werde wohl nicht nach Russland reisen. (Unser Resümee). Nun ist sie doch in der Moskauer Neuen Tretjakow-Galerie zu sehen und in der FR ist Stefan Scholl froh, dass sie unter der Schirmherrschaft von Macron, Putin und Steinmeier steht, denn: "Die Ausstellung wird von Westfirmen gesponsert und zeigt politische Kunst. Das reichte längst, damit die Staatsorgane die russischen Teilnehmer und Teilnehmerinnen auf die schwarze Liste der 'ausländischen Agenten' setzten." Manche Arbeit erscheint ihm denn auch recht "kühn": "Der Spanier Fernando Sanchez Castillo hat 5000 graue Plastikmännchen mit trotzig über der Brust verschränkten Armen aufgestellt. Auch das sieht monumental aus. Darüber hängt eine berühmte Fotografie von 1936, auf der eine deutsche Menschenmasse den rechten Arm zum Hitlergruß hochreißt, nur ein Mann mitten unter ihnen verschränkt trotzig die Arme über der Brust. Wer will, kann eines der trotzigen Plastikmännchen mitnehmen. Und vorher aufschreiben, was er oder sie unter Demokratie versteht. 'Freiheit ist, wenn man auf die Straße gehen kann', steht auf einem Zettel, 'wann und wofür man will.'"

Außerdem: Im taz-Interview mit Lisa Bullderdiek spricht die Leiterin des Oldenburger Museums "Natur und Mensch" Ursula Warnke über koloniales Raubgut in ihrer Sammlung und die seit Ende November gestartete Datenbank Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten: "Derzeit sind in dieser Datenbank schon 6.644 Objekte gelistet. Bisher gab es für unsere Objekte noch keine Rückmeldungen, aber wir haben von der Kulturstiftung erfahren, dass dort Menschen weltweit reinschauen." In der Welt macht der Galerist Heiner Bastian seinem Ärger über das von Frank Gehry entworfene Museum Luma in Arles Luft: "Das neue Museum unterwirft in seiner hinausschießenden, high-handed Gestik die Maße des Ortes. Was Gehry gebaut hat, sind die medialen Graphen hypertropher Übertreibung - Zeichen fast aller Signatur-Architekturen -, also Macht und Herrschaft beanspruchend, den Zwang des Effekts in unkritischer Selbstreferenz, die Suggestion des Branding und Daring."

Besprochen werden Andreas Koefoeds Film "The Lost Leonardo" über den "Salvator Mundi" (Zeit, SZ), die Michela-Ghisetti-Ausstellung in der Wiener Albertina (Standard) und die Shirin-Neshat-Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne (FAZ).
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Literatur

Mit der Herausgabe von Pier Paolo Pasolinis späten Gedichten "Nach meinem Tod zu veröffentlichen" ist Suhrkamp "eine Großtat" gelungen, schreibt Marie Luise Knott in der Tagtigall-Lyrikkolumne des Perlentaucher. "Ganz wundersam kann man sich hier von Gedicht zu Gedicht verlaufen, fast wie in einem Roman. Denn immer tun sich neue Welten auf. Die Politik und die Liebe, das Leben der Arbeiter und der Außenseiter - alles wird belebt durch seinen Blick und seine Sprache. Pasolini nahm sich bekanntlich in seiner Kunst die Freiheiten, die niemand ihm je gegeben. Er löckte wider alle Stachel. Die Sehnsucht nach einem 'Wirklich-Lebendig-Sein' durchtränkt jedes Wort."

Außerdem: Nachrufe auf Klaus Wagenbach schreiben Arno Widmann (FR) und die Autorinnen und Autoren der Zeit (weitere Nachrufe bereits hier).

Besprochen werden unter anderem der neue Gedichtband "Winterrezepte aus dem Kollektiv" der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück (ZeitOnline), Bücher über das Schreiben als Beruf (Jungle World, Tsp), Tamar Tandaschwilis "Als Medea Rache übte und die Liebe fand" (FR), Georg Kleins "Bruder aller Bilder" (Standard), Eduardo Lagos "Brooklyn soll mein Name sein" (SZ) und die Anthologie "Iber der grenets / Über die Grenze / Crossing the Border" mit modernen jiddischen Kurzgeschichten (FAZ).
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Bühne

Christiane Theobald, kommissarische Leiterin des Berliner Staatsballets, hatte den "Nussknacker" aufgrund vermeintlich "rassistischer und kolonialistischer" Szenen aus dem Programm gestrichen (Unser Resümee). In der Berliner Zeitung protestierte darauf der russische Botschafter Sergej J. Netschajew. In der SZ mahnt Dorion Weickmann zu Gelassenheit auf beiden Seiten, hätte aber auch nichts gegen eine Überarbeitung: "Schon in den Achtzigerjahren hatte ein Kanadier, dessen Vorfahren aus Fernost eingewandert waren, gegen stereotype Darstellung geklagt - ohne Erfolg. Wer immer den 'Nussknacker' choreografierte, präsentierte auch weiterhin Trippelschrittchen (für Mann und Frau) mit abgespreizten Zeigefingern und kombinierte dazu lackschwarze Perücken, Bambushüte und Fu-Manchu-Bärtchen. Die Kaffee-Episode wurde mit schwüler Haremserotik gewürzt und in Pluderhosenoptik serviert. Traditionalisten stört das bis heute nicht, Postkolonialisten dagegen möchten die Karikaturen am liebsten für immer entsorgen. Hierzulande wird der Streit im Stil eines Glaubenskrieges inklusive persönlicher Schmähungen ausgetragen. Das führt nicht nur auf den Holzweg, sondern wirkt im internationalen Vergleich ziemlich provinziell."

Außerdem: Im Tagesspiegel freut sich Nadine Lange auf die musikalische Lesung "Nonbinary" zum Andenken an den Künstler und Musiker Genesis P-Orridge an der Berliner Volksbühne. Besprochen wird Oliver Frljić' Kirchenstück "Das Himmelreich wollen wir schon selbst finden" am Schauspiel Köln ("eine grandios illustrierte Geschichtsstunde und Kirchenkritik", meint Dorothea Marcus in der taz), Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Lessings "Minna von Barnhelm" in Düsseldorf (SZ), John Neumeiers "Dornröschen" an der Hamburger Staatsoper (FAZ) und Béatrice Lachaussées Inszenierung von Humperndincks "Hänsel und Gretel" an der Oper Köln (FAZ).
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Film

Auf der Suche nach der Liebe im Metaversum: "Matrix Resurrections"

Morgen kommt Lana Wachowskis neuer Matrix-Film in die Kinos und versucht, die Trilogie von vor etwa 20 Jahren, die damals als Speerspitze eines postmodernen Kinos Baudrillard-Thesen im Blockbuster-Gewand diskutierte (worauf Benjamin Moldenhauer im Filmfilter einen Blick wirft), würdig fortzusetzen. "Der Film ist viel besser, als man hoffen durfte", meint Dietmar Dath in der FAZ. "Es ist kein Kampf der Giganten daraus geworden, denn die Matrix-Epik" habe sich von ihren "Mythenmustern selbst emanzipiert, es geht ihr heute nicht mehr um Paradoxien zwischen Determinismus und freiem Willen und Entscheidungen wie 'Zweifeln oder Zuschlagen', sondern, in Gestalt einer sehr schönen Liebesgeschichte, um das Einzige, das noch wichtigere Erzählungen inspirieren kann als die Idee 'Konflikt ums Ganze': neue Menschenverbindungen."

Früher war vielleicht mehr Lametta, aber heute ist mehr Meta, lässt sich nach Hanns-Georg Rodeks Kritik in der Welt schließen: Denn der einstige Erlöser Neo (Keanu Reeves) ist nun Game-Designer, der einst eine Art "Matrix"-Spiele-Trilogie programmiert hat und "nun wird Neo zu seinem Chef gerufen, der ihm - wörtlich - eröffnet, dass 'unsere liebe Muttergesellschaft Warner von uns eine Fortsetzung sehen möchte. Sonst macht sie die ohne uns'. Als nächstes sieht man die Mitarbeiter bei einer Brainstorming-Sitzung, in der sie die gesellschaftliche Bedeutung von 'Binary" (also letztlich der 'Matrix'-Filme) zerpflücken. 'Ideen sind das neue Sexy' trägt einer bei, 'Es ist eine Metapher für die kapitalistische Ausbeutung' ein anderer, und ein Dritter warnt, der vierte Teil dürfe 'kein weiteres Sequel' sein.'" Andrey Arnold von der Presse sieht in diesem Plotpoint allerdings "einen Meta-Witz, der in seiner frechen Direktheit zeigt, dass den 'Matrix'-Machern nichts mehr zu blöd ist. Das ist, wie so oft, Fluch und Segen in einem."

Außerdem: Steffen Grimberg referiert in der taz die unter dem Namen "Docs for Democracy" laut gemachten Vorschläge einer Gruppe von Dokumentarfilmemachern, die sich eine Stärkung dokumentarischer Formen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wünschen. In der taz empfiehlt Tim Caspar Boehme neue DVDs für den Gabentisch.

Besprochen werden Aaron Sorkins "Being the Ricardos" mit Nicole Kidman und Javier Bardem (ZeitOnline), Eva Hussons Kostümfilmdrama "Ein Festtag" (Tsp) und die ZDF-Serie "In 80 Tagen um die Welt" (FAZ, FR).
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Design

Legt Euren Liebsten zum Fest der Liebe doch bitte Krawatten unter den Baum, ruft in der SZ Peter Richter den Eheleuten des aktuellen politischen Spitzenpersonals zu. Für seinen Geschmack kleidet sich die Ampel nämlich viel zu leger und zu betont aufgeknöpft. "Die Verweigerungshaltung gegenüber einer professionellen Berufskleidung wirkt bei Spitzenpolitikern besonders unprofessionell, und zwar gerade da, wo sie so penetrant programmatisch daherkommt. ... Nie hat man Lauterbach früher ohne Fliege gesehen. Und ausgerechnet jetzt, wo er Minister ist, hat ihm, wie er bekannt gab, sein eigener Nachwuchs das ausgeredet, damit er irgendwie jugendlicher wirke. Lieber Herr Lauterbach: Das ist leider Unsinn."
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Stichwörter: Lauterbach, Karl, Krawatte, Mode

Musik

Georg Kessler erzählt uns in der taz die Geschichte der japanischen Musikerin Phew, die aus dem Post-Punk und später - hierzulande kaum beachtet - Musik mit gestandenen Krautrock-Helden aufnahm. Jetzt ist ein neues Album erschienen, "New Decade", und "es sind sechs lange, unsentimentale Soundscpaces. Ihr eigentliches Instrument, die Stimme, formt diese Stücke, aber dominiert sie nicht. Sie pendelt souverän zwischen Flüstern und Kreischen, bis unüberhörbar wird: Phew ist hier auf der Höhe ihrer Kunst. Mit großer Selbstverständlichkeit navigiert sie durch apokalyptisch plockernden Noise ('Days Nights'), Klangfelder breit wie Sternenstaubwüsten ('Into the Stream') und hypnotisches Sci-Fi-Synthiewabern ('Flashforward'). Klingt so die andere Seite eines schwarzen Lochs?" Wir forschen tastend nach:



Der Rapper Drakeo The Ruler ist im Alter von gerade einmal 28 Jahren erstochen worden. Notiz von ihm genommen hat hierzulande zumindest in den Feuilletons kaum jemand - ein echtes Versäumnis, meint Berthold Seliger in seinem Nachruf in der jW. Sein aus dem Knast via Telefonleitung aufgenommenes Album "Thank you for using GTL" aus dem letzten Jahr zählt für ihn zu den "herausragenden Rap-Alben der letzten Jahre. ... Wo andere Musikerinnen und Musiker bemüht Voicerecorder zur Verfremdung ihrer Stimme verwenden, sind es hier die sozialen und technischen Verhältnisse, die den Sound der Stimme bestimmen." Drakeos Flow war "laid-back, dank seines Rhythmusgefühls immer wieder den Beat verweigernd und dann gelassen wiederfindend, sanft und doch auch aggressiv, wenn nötig; vor Selbstvertrauen strotzend und gleichzeitig von ungeheurer Melancholie geprägt. Wie Snoop Dogg war Drakeo ein Meister darin, seine sehr poetische Sprache mit codiertem Slang der Straße zu bereichern." Wir hören rein:



Außerdem: Für den Tagesspiegel spricht Georg Rudiger mit dem Dirigenten Vladimir Jurowski vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin.

Besprochen werden eine Ausstellung über Amy Winehouse im Design Museum in London (NZZ), ein Konzertabend der Initiative "Frauen im Schatten" unter der Dirigentin Cecilia Castagneto (NMZ), eine Aufführung von Ernst Lubitschs Stummfilm "Sumurun" mit der rekonstruierten Originalmusik von Victor Hollaender (NMZ), historisch-kritische Ausgaben von Richard Strauss' "Elektra" und Jean Sibelius' vierter Symphonie (NMZ), das Debütalbum der Velveteers (FR), ein Album mit Kompositionen des Briten Eric Coates (Tsp) und neue Popveröffentlichungen, auch wenn SZ-Popkolumnist Max Fellmann von vornherein abwinkt, denn "in den letzten Tagen vor Heiligabend kommen traditionell kaum mehr relevante Alben auf den Markt".
Archiv: Musik