9punkt - Die Debattenrundschau

Eine noch tiefere historische Sehnsucht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.01.2022. Die Zeitungen feiern das Urteil gegen Anwar R., nur Ronen Steinke fordert in der SZ einen deutschen Prozess gegen amerikanische Verbrechen. Tayyip Erdogan treibt sein Land in die Armut - und da hilft auf einmal sein religiöser Populismus nicht mehr, notiert Bülent Mumay in der FAZ. In der Welt wirft Alan Posener dem Historiker Wolfgang Reinhard, der ein Ende der "deutschen Holocaust-Orthodoxie" fordert, die Verbreitung von Verschwörungstheorien vor. Nichts gegen Windräder, die Idee der Landschaft wird ohnehin überschätzt, meint Jörg Häntzschel in der SZ. Apokalypse in Wien: Covid killt Caféhäuser, fürchtet Paul Jandl in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.01.2022 finden Sie hier

Politik

"Der Schuldspruch war zu erwarten - und ist dennoch historisch", schreibt Dominic Johnson in der taz zum Prozess gegen den syrischen Geheimdienstmann, Folterer und Mörder Anwar R. (unsere Resümees), der jetzt zu Lebenslänglich verurteilt wurde. Aber die Haupttäter sind noch nicht belangt, so Johnson: "Sobald Assads Opfer in Deutschland Zuflucht finden, werden Assads Gräueltaten zu einer deutschen Angelegenheit. Und zugleich ist dies keine Selbstverständlichkeit. In vielen Ländern verzichten Justizapparate aus politischen Gründen darauf. Die deutsche Politik muss aus solchen Urteilen politische Schlüsse ziehen und die gebrandmarkten Machthaber ächten, auf allen Ebenen." Sabine am Orde berichtet über die Urteilsverkündung. Johnson und am Orde werfen auch einen Blick nach Frankreich, wo Täter womöglich davonkommen.

Anwar R. kam als Flüchtling nach Deutschland, notiert Julian Staib in der FAZ, "so wie viele der Nebenkläger und Zeugen, die nun gegen ihn vor Gericht ausgesagt hatten. Doch war er Teil der syrischen Foltermaschinerie gewesen, Teil des 'systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung', den es aus Sicht des Gerichts seit Anfang 2011 in Syrien gibt. Hunderttausende Menschen wurden seit Beginn des Aufstands gegen das Assad-Regime Anfang 2011 gefoltert, mehr als 102.000 verschwanden gewaltsam, mehr als 14.500 wurden durch Folter ermordet."

Zum "Glück" haben sich deutsche Richter "aufgeschwungen", einem syrischen Geheimdienst-Oberst a. D. zu erklären, "was er in seinem eigenen Land zu tun und zu lassen gehabt habe", meint Ronen Steinke in der SZ. Deutschland ist nach dem Weltrechtsprinzip vorangegangen, aber: "Der Einsatz der deutschen Justiz ist durchaus nicht frei von politischen Eigeninteressen. Man sieht das daran, welche Länder die Ermittler schonen. Die Folterkeller des ägyptischen Diktators al-Sisi beispielsweise, über die Menschenrechtsorganisationen auch eine Menge zu berichten wissen, sind für sie kein Thema. Auch die Folter in amerikanischen Gefangenenlagern im Mittleren Osten oder in Guantanamo haben sie sich nie näher angesehen. Kurz bevor US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Jahr 2007 nach Deutschland reisen wollte, versicherte die Bundesanwaltschaft ihm: Keine Sorge, wir ermitteln nicht."

"Es ist ein wegweisendes, ein historisches Urteil. Aber auch eines, das ernüchtert, weil Baschar al Assad als oberster Befehlshaber nicht auf der Anklagebank Platz nehmen musste und es wohl nie tun muss", schreibt Christian Böhme im Tagesspiegel. Er fragt: "Reicht es aus, ein Deserteur zu sein, um straffrei davonzukommen? Nein, meint das Gericht. Zu Recht. Denn Anwar R. hatte lange Zeit kein Problem damit, dem Sicherheitsapparat anzugehören und ihm zu dienen. Im Gegenteil. Er verdankte dem verbrecherischen System seine Karriere. Dass er sich schließlich doch abwandte, aus Syrien floh und in Deutschland Asyl beantragte, hatte wenig mit moralischen Bedenken zu tun. Vielmehr störten ihn die Exzesse der Generäle, die einfach jeden einkerkerten und so seine Arbeit als effizienter Verhörspezialist infrage stellten."

Der Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh saß sechzehn Jahre lang in Syrien im Gefängnis, seit 2017 lebt er in Deutschland. Bei einer Rückkehr nach Syrien würde ihn vermutlich der Tod erwarten, aber auch hierzulande hat er nicht das "Recht, Rechte zu haben", schreibt er: "Angesichts des Umstands, dass Syrer die drittgrößte Gruppe an Ausländern in Deutschland bilden - nach den Türken und den Polen - , ist Syrien im Grunde ein Nachbarland von Deutschland geworden. Es ist enttäuschend, obgleich auch verständlich, dass Syrien in den Medien unseres deutschen Nachbarn praktisch nicht vorkommt. … Das Gespräch über Syrien muss anders in Gang kommen als über Nachrichtensendungen. Es ist Zeit für uns, auf die Felder der Künste, der Literatur, der Geisteswissenschaften zu gehen."
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Geschichte

Am Montag fürchtete der Historiker Wolfgang Reinhard in der FAZ, dass der "Holocaust zu einer erinnerungspolitischen Identifikationsfigur von geradezu sakralem Charakter geworden" sei und forderte ein Ende der "deutschen Holocaust-Orthodoxie". (Unser Resümee). In der Welt zerlegt Alan Posener den Text heute in seine Einzelteile und wirft Reinhard, der von der "Medienmacht" einer Minderheit schreibt, vor, Verschwörungstheorien zu verbreiten: "'Niemand wird den Deutschen je verzeihen', jammert Reinhard, als wäre Deutschland nicht eines der beliebtesten Länder dieser Erde, nicht zuletzt in Israel. 'Keine Zerknirschung kann ihnen helfen.' Nun, von Zerknirschung ist bei ihm ebenso wenig zu bemerken wie bei Björn Höcke, der in der von Reinhard zitierten Rede eine 'erinnerungspolitische Wende um 180 Grad' fordert. Weg von Zerknirschung und geheucheltem Philosemitismus, so muss man annehmen, hin zu Nationalstolz und ehrlichem Judenhass. Denn auch Reinhard warnt: 'Ein moralisches Tabu erzeugt automatisch eine entsprechende moralische Gegenerzählung.' Was wäre diese Erzählung? Etwa die alte Mär, dass die Juden ihre 'Medienmacht' missbrauchen, um den Deutschen eins auszuwischen? Soll der Artikel Auftakt zu dieser Erzählung sein?"

Außerdem: In der SZ erinnert der Historiker Norbert Frei noch einmal daran, dass bei der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 keineswegs der Holocaust "beschlossen" wurde: "Tatsächlich waren eine halbe Million jüdischer Sowjetbürger - Männer, Frauen und Kinder - bereits seit dem deutschen Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 ermordet worden, und am 15. Oktober hatte die Deportation jüdischer Deutscher 'nach dem Osten' begonnen." Anlässlich der olympischen Winterspiele in Bejing erzählt die chinesische Schriftstellerin Wei Zhang in der NZZ, wie sich in China das Ideal des "blassen, zarten Gelehrten", das zu Bezeichnung der "kranke Mann" Ostasiens führte, im Laufe des vergangenen Jahrhunderts veränderte.
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Europa

Richard Herzinger macht in einer Kolumne im Perlentaucher auf klassisch rechtsextreme Aspekte in Wladimir Putins Agieren aufmerksam: "Putins Vorstellungen von einer in Einflusszonen gegliederten Weltordnung gleicht der 'Großraum'-Vision Carl Schmitts in auffälliger Weise. Zwar trifft es zu, dass der Kreml-Chef die Wiederherstellung des sowjetischen Machtbereichs betreibt. Ideologisch steht er jedoch der 'Reichsidee' des ethnischen Nationalismus näher als den kommunistischen Maximen, mit denen einst der sowjetische Totalitarismus seinen Weltherrschaftsanspruch begründete. Hinter der Sowjetnostalgie Putins steckt eine noch tiefere historische Sehnsucht: die nach der Wiederherstellung des alten Zarenreichs und der imperialen Weltordnung des 19. Jahrhunderts."

Als Tayyip Erdogan vor langer Zeit antrat, schaffte er es, die Inflation von 29 auf 6 Prozent zu senken, erinnert sich Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Heute liegt sie höher denn je, bei 36 Prozent nach offiziellen Zahlen, wesentlich höher nach Angaben der Bürger. Da bringt auch Erdogans religiöser Populismus nichts mehr: "Nichts hat geholfen, die leeren Kühlschränke zu füllen: nicht die Öffnung der Hagia Sophia zum Gebet, nicht der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt, nicht der Religionsunterricht für vier-, fünfjährige Vorschulkinder. Stattdessen laufen Erdogan auch jene Wähler davon, die sich selbst als fromm bezeichnen."
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Gesellschaft

Es werden noch viele Windräder kommen, schreibt Jörg Häntzschel, der im Feuilleton der SZ alle Einwände gegen die Verschandelung der Landschaft wegwischt. Natürliche Landschaft gebe es in Deutschland eh nicht, meint er: "Für Werner Krauß, der in Bremen Ethnologie lehrt, steht dahinter auch ein zu wenig beachteter Klassenaspekt: 'Unser Landschaftsideal ist geprägt vom Bürgertum des 19. Jahrhunderts, das sich dadurch legitimiert und konstituiert hat, dass es besser wusste, was schönes Land ist, als die Landbevölkerung.' Und daran habe sich bis heute wenig verändert. Den Widerstand gegen Windräder führen vor allem Städter an, die 'bürgerlichen Elite', die auf dem Land mit Entsetzen die Zeugnisse der Industrialisierung wiederfinden, vor denen sie doch geflohen waren. 'Die Idee von Natur war in Deutschland immer schon ein Fake', sagt Krauß. 'Die Enttäuschung darüber kommt immer wieder.'"

In der NZZ fürchtet Paul Jandl das Ende der Wiener Kaffeehäuser, die zwar wieder öffnen dürfen, aber kaum noch besucht werden: "Kaffeehäuser sind ein Anschlag auf die Vernunft heutiger Städte. Ihre ökonomische Entschleunigung will aus einer speziellen Atmosphäre Geld destillieren. Während der Gast im alten Café langsam in seiner Melange rührt, kann jeder moderne Coffee-to-go-Unternehmer sein Geld ganz schnell nach Hause tragen. Mit den immer blasser werdenden Innenstädten siechen auch die Kaffeehäuser dahin. Das Wiener Zentrum ist in dieser Hinsicht ein abschreckendes Beispiel. Es ist durch neue Luxushotels mit angeschlossenen Luxuseinkaufsmeilen atmosphärisch weitgehend entkernt. Die Idee, dass die Wiener mit ihren Cafés ausgerechnet hier eine Art öffentliches Wohnzimmer haben, wirkt auf einmal hoffnungslos altmodisch."

Das "Zentrum für politische Schönheit" hat sich für eine seiner satirischen Aktionen als Flyer-Verteilfirma ausgegeben, hat von der AfD Millionen Flyer zum Verteilen bekommen, die es dann nicht verteilte, worauf es sich auf eine Website als "Weltmarktführer im Nicht-Verteilen von Nazi-Flyern" outete. Dagegen hat die AfD geklagt. Und nun wurde das Zentrum durchsucht, berichtet unter anderem Markus Reuter in Netzpolitik. "Der Verdacht lautet: Fälschung beweiserheblicher Daten, § 269 des Strafgesetzbuchs. Der Paragraf ist quasi die elektronische Form der Urkundenfälschung und kommt beispielsweise bei Phishing-Straftaten zum Tragen. (...) Normalerweise gehe es bei diesem Paragrafen in fast allen Fällen um Betrug mit Aneignungsabsicht, sagt ZPS-Sprecher Stefan Pelzer gegenüber dem Spiegel. 'Wir sind keine Computerbetrüger, wir haben keinen Profit gemacht. Bei uns steht das Kunstprojekt im Mittelpunkt.'"

Außerdem: "Steigt endlich aus der Luca-App aus", fordert Moritz Tremmel bei golem.de. Die App ist durch viele Sicherheitslücken aufgefallen, ihre eilige Lizenzierung durch die Bundesländer entsprach überdies nicht dem Vergaberecht. Inzwischen könnte man sich auch mit der offiziellen Corona-App einchecken. Und Novak Djokovic darf nun wohl nicht an den Australian Open teilnehmen (mehr hier), dafür wird's eine Netflix-Doku über die unterhaltsamen Verwerfungen dieser Affäre geben, meldet turi2.
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