9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.05.2022. Die Russen brauchten fast drei Monate für die Eroberung Mariupols. Für Putin ist die Übernahme einer komplett zerstörten Stadt eine moralische Niederlage, schreibt Jen Kirby bei vox.com. Wie rechts ist das Asow-Regiment, fragt die taz. Der größte blinde Fleck der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland heißt Ukraine, erklärt Timothy Snyder in der Zeit. Zeit online erklärt, warum der russische Cyberkrieg nicht stattfindet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.05.2022 finden Sie hier

Europa

Ein Stellungskrieg droht, glaubt Viktor Funk in der FR, denn: "Moskau wird die Realität nicht anerkennen, aber gleichzeitig auch militärisch nichts mehr ausrichten können." Allein die russischen Verluste seien enorm: "Offiziell existiert bisher nur eine Zahl. Am 25. März berichtete das russische Verteidigungsministerium von 1.351 Gefallenen. Das ist absurd wenig. Am 25. April ging das britische Verteidigungsministerium von mindestens 15.000 gefallenen russischen Soldaten aus, inzwischen spricht das ukrainische Verteidigungsministerium von mehr als 28.300. Für übertrieben hält der israelische Militäranalyst Igal Levin diese Zahl nicht. In seinem Telegram-Kanal 'Ressentiment', in dem er von Anfang an den Kriegsverlauf analysiert, geht er davon aus, dass mit toten, verwundeten und nicht mehr einsatzfähigen russischen Soldaten die Verluste auf mehr als 70 000 geschätzt werden müssten."

Die Schweizer Politologen und Völkerrechtler Michael Ambühl, Nora Meier und Daniel Thürer, sozusagen zertifizierte Experten für Neutralität, denken in der FAZ darüber nach, wie ein Friedensschluss für den Ukraine-Krieg aussehen könnte: Drei Abkommen wären zu treffen, ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Russland und der Ukraine, ein Abkommen über die regionale Zusammenarbeit, in dem die heikle Frage des Status der Krim zu klären wäre. Ein drittes Abkommen wäre ein internationales "Garantieabkommen und könnte eine Art Ersatzfunktion für die jetzt nicht realisierbare NATO-Mitgliedschaft übernehmen. Sollte Russland die Auflagen im Friedensabkommen nicht einhalten, käme ein automatischer 'Snapback-Mechanismus' zum Tragen, wodurch die früheren Sanktionen ohne weitere Entscheidungen wiedereingesetzt und gegebenenfalls verschärft würden."

Bernhard Clasen geht für die taz der Frage nach, wie rechts das Asow-Regiment ist, das bei den Verteidigern des Asow-Stahlwerks vertreten war und spricht dafür etwa mit Asow-Kritiker Sergey Movchan, Koordinator des Projekts "Violence Marker", das rechte Gewalt in der Ukraine dokumentiert. "Auf keinen Fall, so Movchan, sei die Anwesenheit von Rechtsextremen ein Grund, den Menschen, die Mariupol verteidigen, jetzt nicht zu helfen. Die Mehrheit der Verteidiger:innen seien reguläre Militärs und nicht Asow-Leute. Auch Stanislaw Kibalnyk von der Charkiwer Plattform assembly.org.ua, ebenfalls ein Kenner der rechtsextremen Szene in der Ukraine, sieht den Einfluss rechtsradikalen Gedankengutes abnehmen."

Aber das Asow-Regiment steht auch für den heroischen Widerstand der Ukraine, der Putin seine Siegesparade am 9. Mai versauerte. Die Russen brauchten fast drei Monate für die Übernahme der Stadt. Für Putin ist die Übernahme einer komplett zerstörten Stadt eine moralische Niederlage, schreibt Jen Kirby in einer viel retweeteten Analyse be vox.com. "Im Laufe der Belagerung wurde deutlich, dass das ukrainische Militär sehr viele Ressourcen in die Verteidigung der Stadt investiert hat, so dass sie dem wochenlangen russischen Bombardement standhalten konnte. Die Fähigkeit Mariupols, den Angriffen zu trotzen, half der Ukraine auch bei ihren Bitten um ausländische Hilfe und militärische Unterstützung, die der Westen nun in erheblichem Umfang leistet."

Mit Memes und dem Motiv der Ikone Sankt Javelin, eine Madonnenfigur, die eine Panzerabwehrrakete vom Modell Javelin in ihren Armen hält, hat die Ukraine der Geschichte der Propaganda ein neues Kapitel hinzugefügt, schreibt Andrian Kreye in der SZ - Tassen, T-Shirts und Mützen werden angeboten: "Javelins sind FGM-148-Panzerfäuste des amerikanischen Rüstungskonzerns Rayetheon & Lockheed Martin. Die bisherige Erfolgsgeschichte dieser Panzerfäuste in den Kriegen in Afghanistan, im Irak, in Syrien und Libyen war nur in Militärkreisen bekannt. Sankt Javelin hat das System nun zu einer Art iPhone der Rüstungsindustrie gemacht. Vielseitig einsetzbar, mobil und mit einem Design, das mit seinem Abschussgerät in Hantelform und dem Geschoss mit stumpfer Spitze und Spreizflügelchen inzwischen hohen Wiedererkennungswert hat. Ganz billig ist das im Verhältnis auch nicht. Um die 200 000 US-Dollar kosten Gerät und Geschoss. Einmal nachladen 78 000."
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Wissenschaft

Der Deutschlandfunk stellt die Ergebnisse der "China Science Investigation" vor, eine Recherchearbeit mehrerer Medien, die die Zusammenarbeit chinesischer und europäischer Universitäten bei Militärthemen untersucht. Die Kontakte sind erstaunlich intensiv: "Die überwiegende Mehrheit dieser Studien (2210) wurde mit Forschenden der Universität für Wissenschaft und Technik der Landesverteidigung (National University of Defense Technology / NUDT) durchgeführt, der wichtigsten Universität des chinesischen Militärs. Sie untersteht direkt der Zentralen Militärkommission, dem höchsten Verteidigungsgremium Chinas... Die meisten Kooperationen verteilen sich auf Hochschulen in Großbritannien, gefolgt von Deutschland und den Niederlanden." Hier der Bericht der ebenfalls beteiligten SZ zum Thema.
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Geschichte

Der größte blinde Fleck der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland heißt Ukraine, erklärt Timothy Snyder im Gespräch mit Jochen Bittner in der Zeit: "Sie war das Hauptziel von Hitlers Kolonialkrieg, er wollte sie als Kornkammer und Siedlungsgebiet." Snyder kritisiert auch die spezifisch deutsche Kombination von Zerknirschung und Geschäftsinteressen, die allein die Sowjetunion zum privilegierten Gesprächspartner machte: "Die Ukraine hat proportional viel mehr gelitten als Russland. Man vergisst das gern. Warum? Weil es in Moskau immer etwas Wichtiges zu holen gab: Absolution und Rohstoffe. Mit den Ukrainern zu sprechen wäre dagegen nur unbequem gewesen, dort gab es für die Deutschen nichts zu holen. Die Ostpolitik hat deshalb dazu geführt, erst das sowjetische und dann das russische Narrativ des Krieges und der Kriegsschuld zu akzeptieren."

Erstaunlich langsam kommen in den Niederlanden die Kolonialverbrechen ins Bewusstsein, aber es gibt gute Zeichen, berichtet Tobias Müller in der taz, etwa die Ausstellung "Revolution! Indonesien unabhängig" im Rijksmuseum. Und "was die Diskussion um Zwarte Piet angeht, aber auch das Eingestehen der Rolle im transatlantischen Sklavenhandel und der Unterdrückung in den karibischen Kolonien, ist in den Niederlanden in den letzten Jahren durchaus einiges in Bewegung geraten. Im Sommer 2020, als international die Black-Lives-Matter-Kampagne begann, entstand eine neue Dynamik, die diesmal auch das Thema Indonesien nicht aussparte. Ähnlich wie in anderen westeuropäischen Ländern kamen auch hier koloniale Denkmäler in die Kritik."
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Ideen

Im Leitartikel der Welt springt Jacques Schuster den Unterzeichnern des Emma-Briefes, vor allem aber Jürgen Habermas zur Seite, der sich, so Schuster, gegen die "geistige Mobilmachung" der "Kriegsredner" stellte (Unser Resümee): "Seither hat sich das Moralisierende in der Debatte abgeschwächt, dafür ist das Wiegen von Gründen und Gegengründen wieder stärker geworden. 'Die moralisierende Form politischer Auseinandersetzungen läuft stets Gefahr, im Triumph der guten Gesinnung über die Gesetze des Verstandes zu enden', stellte der Philosoph Hermann Lübbe vor Jahren zu Recht fest. Wenn die Gegenposition eines Jürgen Habermas oder einer Alice Schwarzer und ihrer vielen Anhänger zur Überprüfung der eigenen Haltung und zur Selbstbefragung führt, hat der Wetzstein seine Aufgabe erfüllt."
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Medien

"Wer in Russland wissen will, was in der Ukraine geschieht, der kann es wissen", schreibt Sonja Zekri in ihrem SZ-Porträt des Berliner Privatsenders Ost West TV, des letzten unabhängigen russischsprachigen Nachrichtensenders Europas: "Für die Kreml-Hörigen unter ihren Zuschauern sind bereits die Fakten eine Provokation. In den ersten zwei Wochen des Krieges sei der Hass in den Social-Auftritten des Senders so schlimm gewesen, dass sie die Kommentarfunktion abschalteten. Dennoch versucht der Sender, jene zu erreichen, die noch nicht ganz verloren sind, bemüht sich um eine betont nüchterne Sprache und meidet herabsetzende Wendungen, wie sie viele Ukrainer und selbst einige ukrainische Medien für russische Soldaten oder Russen allgemein gebrauchen - 'Orks' zum Beispiel, nach den Finsterlingen in 'Herr der Ringe'."

Gereiztes Klima in der Schweizer Öffentlichkeit, notiert Jürg Altwegg in der FAZ, wo die Bürger geplante großzügige Mediensubventionen per Abstimmung cancelten: "Den Verlegern werden die üppigen Gewinne vorgeworfen, die sie nicht in ihre Medien investieren. In der Pandemie kassierten sie Gelder vom Staat und zahlten hohe Dividenden. Die Verleger sind für das schwindende Vertrauen in Medien mitverantwortlich." Außerdem erlaubten neue Pressegesetze Betroffenen von Berichterstattung - etwa russischen Oligarchen - schnelle juristische Schritte gegen Medien. Aber Sanktionen gegen Russland sind ohnehin unbeliebt, "der Rechtsaußen-Politiker Christoph Blocher von der Schweizer Volkspartei meint, dadurch beteilige sich die Schweiz am Krieg".
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Politik

Was wird in Nordkorea, das quasi als einziges Land der Welt seine Bevölkerung überhaupt nicht gegen Corona geimpft hat, nach dem Ausbruch der Omikron-Variante geschehen, fragt Pierre Haski in seiner Kolumne bei France Inter: "In den letzten zweieinhalb Jahren hat der Covid viele verborgene Probleme aufgedeckt. Das war in Europa oder den USA der Fall; es ist derzeit in China der Fall mit der ruinösen Null-Covid-Obsession; und jetzt Nordkorea, wo die militärischen Überinvestitionen das Land gegenüber der Krankheit hilflos machen. Die Tragik einer Diktatur besteht jedoch darin, dass man sein Volk schweigend sterben lassen kann."
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Internet

Russland setzt im Cyberkrieg gegen die Ukraine auf eine "Taktik der 1000 Nadelstiche", sagt der Cyberexperte Matthias Schulze im Interview mit ZeitOnline und erklärt, weshalb es bisher keine größeren Aktionen gab: "Erstens ist das russische Militär selbst auf die Infrastruktur angewiesen. Russische Soldaten kommunizieren zum Teil über den Mobilfunk in der Ukraine, sie brauchen auch Strom. Zweitens kann das wie ein Bumerang sein, da man schlecht antizipieren kann, welche unerwarteten Effekte so etwas eventuell auch für Russland hat. Drittens sind solche Angriffe sehr aufwendig. Man braucht Personal, Zeit und sehr, sehr viele sensible Informationen über die Konfiguration der Netze sowie Baupläne des elektrischen Equipments in Transformatorstationen und Umspannwerken."
Archiv: Internet
Stichwörter: Schulz, Matthias, Cyberkrieg