9punkt - Die Debattenrundschau

Von diesen besetzten Gebieten aus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.05.2022. Herfried Münkler weiß es schon: "Die Ukraine wird unter die Räder kommen, wie auch immer die Sache ausgeht", annonciert er in der NZZ - und hat auf Twitter bereits heftige Gegenreaktionen ausgelöst. Putin ist ein Faschist, schreibt Timothy Snyder in der New York Times, wir verstehen's nur nicht, weil wir Stalin nicht verstehen. In der FAZ antwortet Anatoliy Yermolenko scharf auf Habermas' Rhetorik des Dilemmas. Der Tagesspiegel liest Viktor Orbans Antrittsrede - er malt - wie der Attentäter von Buffalo, über den Paul Mason in der FR schreibt  - den "großen Austausch" an die Wand. In Quillette liest Sol Stern Jeffrey Herfs neues Buch über Nahost im Nachkrieg.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.05.2022 finden Sie hier

Europa

"Die Ukraine wird unter die Räder kommen, wie auch immer die Sache ausgeht", prophezeit der politische Denker Herfried Münkler im großen, gestern auf den Auslandsseiten versteckten NZZ-Interview. In der EU sieht er die Ukraine vorerst nicht, bei einer Einigung auf Neutralität mit Sicherheitsgarantie hätte der Krieg aber vermieden werden können, glaubt er. Der Westen habe zudem unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft der Ukraine: "Die absolute Minimalbedingung ist sicher die Weiterexistenz der Ukraine als souveräner Staat, aber eventuell reduziert auf das Gebiet westlich des Dnipro. In Deutschland und Frankreich betrachtet man eine Ukraine in den Grenzen des 23. Februars (also ohne Krim und Separatistengebiete) als Sieg. Die Briten möchten die Ukraine von 2013, also mit Krim und Donbass, wiederherstellen. Die Amerikaner schließlich haben eine eigene Sicht. Sie sagen: Putin ist uns wieder in die Quere gekommen, wo wir uns doch jetzt um Xi Jinping und die Herausforderung durch China kümmern wollten und nicht um Europa. Das soll nie mehr passieren. Wir organisieren also einen Abnützungskrieg gegen die Russen, der ihr militärisches Potenzial aufzehrt. Denn in Abnützungskriegen sind die Tiefe der Logistik und die Fähigkeit zur Mobilisierung von Kämpfern entscheidend. Die Europäer signalisieren jetzt den Russen, dass sie mit einem Verhandlungsfrieden vermeiden können, von den Amerikanern mithilfe der Ukrainer ausgeblutet zu werden. Der Westen spielt also mit unterschiedlichen Optionen."

Münklers kaltschnäuziges Fallenlassen der Ukraine hat gestern schon bei Twitter Reaktionen provoziert, etwa vom Grünen Ralf Fücks:
Die blinden Flecken in Münklers Geopolitismus seien fappierend, schreibt die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies ebenfalls auf Twitter. Münkler verkenne, "dass Putin die Ukraine als Teil der russischen Nation begreift. Schon seit dem 19. Jahrhundert kann man im russischen Fall Imperium und Nation nicht trennen. Es geht eben um sehr viel mehr als 'Einflusssphären'. Das übersieht man aber, wenn man den Blick auf geopolitische Fragen verengt."

Münkler konzediert der Ukraine im NZZ-Interview zwar einen Rest von Souveränität, "aber eventuell reduziert auf das Gebiet westlich des Dnipro". Tim Hagemann verweist auf ein HNA-Interview Münklers von 2014, wo er dieses Szenario bereits verfochten hatte und riet, mit Russland im Geschäft zu bleiben und die Ukraine zu teilen. Die Ukraine sei so etwas wie das einstige Jugoslawien: "Es handelt sich um postimperiale Räume, die keinen Nationalstaat im westeuropäischen Sinn haben ausbilden können." Münkler ist allerdings von seinen Maximalansichten zur Ukraine ein wenig zurückgekommen. Zu Beginn des Krieges sagte er noch laut NTV: "Ukraine wird kein souveräner Staat mehr sein."

Wir hätten es wissen können, notiert Christian Thomas in der FR nach der Lektüre von Büchern über Putins Russland. "Vertrauen gegenüber Putin wurde zu einem hoch dekorierten Begriff. Mit dem jedoch bereits 2014 gemachte Erfahrungen ignoriert wurden, beschrieben durch die langjährige Russland-Korrespondentin Katja Gloger, die Zugang zum Kreml ebenso wie zu Putin hatte: 'Kalt erwischt, stellten Kanzlerin Merkel und ihr Außenminister Anfang 2014 fest, dass die Unberechenbarkeit nun neues Arbeitsprinzip des russischen Präsidenten schien. (…) Manchmal waren die Mitarbeiter im Kanzleramt so wütend, dass sie von 'Verarschung' sprachen. Bemerkenswert, dass daraufhin, 2014, im Kanzleramt, im Auswärtigen Amt, im Wirtschaftsministerium keine Rückschlüsse gezogen wurden. Jedenfalls grenzt die Begründung, man habe sich in Putin getäuscht oder geirrt, an Selbstbetrug, wenn man bei Gloger die Stelle aufstöbert: 'Überhaupt sprach er (Putin) die meiste Zeit - Gabriel kam kaum zu Wort.' Trotz der Gräuel in Tschetschenien, der Kriege in Georgien, auf der Krim, im Donbass haben Realpolitik und Pazifismus an den Prädestinationen vorgeschossenen Vertrauens festgehalten. Wer sich schlau wähnte, warnte vor einem 'Russland-Bashing'. In Milieus, die sich selbst zu den 'Anständigen' zählen, zeigte man sich affin für die von Putin behauptete 'moralische Überlegenheit' einer historischen Mission Russlands."

"Entputinisiert die Russen" ist der Welt-Artikel überschrieben, in dem der Schriftsteller Peter Schneider die russische Propaganda in ihre Einzelteile zerlegt. Aber Umfragen zufolge glauben 70 bis 80 Prozent der Russen dem Staatsfernsehen, fährt er fort und fragt: Wie lassen sich Löcher in Putins "fast totale Meinungskontrolle" schlagen? "Wäre es nicht möglich, einen europaweit zu empfangenden Sender zu gründen, der den Behauptungen und Bildern des Russischen Staatsfernsehens Tatsachen inklusive Quellen angaben gegenüberstellt?" Die Hoffnung will er nicht aufgeben: "Der hartnäckige, seit Generationen geübte Widerstand gegen zaristische Obrigkeit und stalinistischen Terror erzeugt ein Gedächtnis - er prägt sich dem Genom einer Nation ebenso ein wie sein Widerpart, die uralte Tradition der Unterdrückung. Sobald er genügend Anlässe und Gelegenheit hat, wacht der Widerstand wieder auf."

35 Staaten enthielten sich, als Russland in der UNO-Vollversammlung aufgefordert wurde, den Krieg sofort zu beenden. Im Tagesspiegel mutmaßt der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Rocholl: "Viele der 35 Staaten ziehen auch die moralische Glaubwürdigkeit des Westens in Zweifel. So kritisieren afrikanische Länder ihre unzureichende Versorgung mit Impfstoffen gegen Covid-19. Trotz entgegengesetzter Zusagen falle die Besorgung von Vakzinen überwiegend auf Afrika selbst zurück. Andere Staaten wie Pakistan kritisieren den Umgang des demokratischen Lagers mit Afghanistan: Sie sprechen von einer 'Doppelmoral' des Westens und weisen auf die gegenwärtige Hungerkatastrophe im Land hin. Die Bilder vom überstürzten, chaotischen Abzug der westlichen Truppen 2021 sind hier in frische Erinnerung."

Spätestens seit Putins Krieg wissen wir, dass man bei den Reden von Autokraten besser genau hinhört, schreibt Caroline Fetscher im Tagesspiegel hinter Paywall. Und bei Viktor Orbans Rede zur nächsten Amtszeit vom 16. Mai sollten nach jeder Passage die Alarmglocken klingeln, meint sie: "Als Nato-Mitglied trage Ungarn Sanktionen gegen den Aggressor Russland mit, solange sie die Nation nicht schädigten, wie etwa ein Öl-Embargo. Orbán sieht 'zehn Jahre Krieg' voraus, durchsetzt von 'wiederholten Wellen an Suizidversuchen der westlichen Welt'. Einer dieser Versuche sei Europas 'großes Programm zum Bevölkerungsaustausch', wobei 'der Mangel an christlichen Kindern Europas' wettgemacht werden solle 'durch Migranten aus anderen Zivilisationen'. (...) An die Verschwörungsthese vom 'großen Austausch', in Deutschland teils bei der AfD zu finden, glaubt laut Umfragen inzwischen jeder dritte Erwachsene in den Vereinigten Staaten."
Archiv: Europa

Ideen

Für den britischen Journalisten Paul Mason - aktuelles Buch: "Faschismus: Und wie man ihn stoppt" - zeigt sich in der FR in Worten und Tat des Attentäters von Buffalo die "Architektur des modernen Faschismus": "Der faschistische Massenmörder ist in unserem Jahrhundert zu einem erkennbaren menschlichen Stereotyp geworden. Immer männlich, immer unter sozialem und persönlichem Versagen leidend, immer eloquent und wortreich in seinem Aufruf zum Völkermord. (...) Es gibt eine übergreifende Logik zwischen dem Schützen, der rechtsextremen Bewegung, rechtspopulistischen Parteien und den aufrührerischen Stimmen in den konservativen Medien. Das Narrativ des 'Großen Austauschs' ist das ideologische Rückgrat, das sie miteinander verbindet. Sie wurde 2010 von dem französischen Autor Renard Camus formuliert und ist im Grunde ein Aufguss der Theorien des arischen Vormachtpolitikers Houston Stewart Chamberlain aus der Zeit vor 1914."

Sprechen wir es aus: Putin ist Faschist, schreibt Timothy Snyder in der New York Times und dürfte damit auch bei vielen Linken ein unbehagliches Schlucken auslösen. Aber es gibt einen Kult des Führers, einen Kult des Todes und den Mythos von einem goldenen Zeitalter, wie es sich für einen ordentlichen Faschismus gehört. Das Zögern gegenüber diese Einsicht erklärt sich für Snyder aus der Tatsache, dass unser Geschichtsbild zur Hälfte unbelichtet ist: Stalin werde immer noch als "Antifaschist" gesehen: Dabei sei "Stalins Flexibilität gegenüber dem Faschismus der Schlüssel zum Verständnis des heutigen Russland. Unter Stalin war der Faschismus zunächst indifferent, dann war er schlecht, dann war er gut, bis er - als Hitler Stalin verriet und Deutschland in die Sowjetunion einmarschierte - wieder schlecht war. Aber niemand hat jemals definiert, was er bedeutet. Es war eine Box, in die alles hineingesteckt werden konnte. Kommunisten wurden in Schauprozessen als Faschisten abgestempelt. Während des Kalten Krieges wurden die Amerikaner und die Briten zu Faschisten. Und sein 'Antifaschismus' hinderte Stalin nicht daran, bei seiner letzten Säuberung die Juden ins Visier zu nehmen, so wie seine Nachfolger, Israel mit Nazideutschland in einen Topf warfen."

SPD-nahe Philosophen wie Münkler (siehe oben) oder Jürgen Habermas pflegen im Blick auf den Ukraine-Krieg eine Rhetorik des Dilemmas. Scharf antwortet in der FAZ der ukrainische Philosoph Anatoliy Yermolenko, selbst Habermasianer, auf Habermas' in der SZ dargelegtes (unser Resümee) "Dilemma", dass die Ukraine "nicht verlieren" solle, Russland aber auch nicht, damit Putin sein Gesicht behält und kein dritter Weltkrieg ausbricht. Die Logik, dass die Ukraine in diesem "Kompromiss" zur Hälfte besetzt bleibt, die daraus bei Habermas (wie auch bei Münkler) folgt, will Yermolenko nicht anerkennen, denn "Jede Besetzung von Territorien führt zu einer weiteren Besatzung von weiteren Territorien": "Die Zerstörung von Mariupol und der Genozid an der dortigen Zivilbevölkerung wären unmöglich gewesen, wenn Russland nicht 2014 die Krim und den Donbass besetzt hätte - da Mariupol von diesen besetzten Gebieten aus angegriffen wurde. Der Angriff auf Kiew wäre unmöglich gewesen, wenn Russland Lukaschenkos Belarus nicht besetzt hätte, denn die Stadt wurde von Belarus aus angegriffen, und der Genozid in Butscha ereignete sich eben deshalb, weil Belarus russischen Truppen den Zugang auf ukrainisches Territorium erlaubt hatte... Und wenn die Ukraine in diesem Krieg ihre Souveränität verliert, wird Russland zweifellos weiterziehen und Europa besetzen."
Archiv: Ideen

Geschichte

Sol Stern stellt bei Quillette Jeffrey Herfs neues Buch "Israel's Moment" über die direkten Nachkriegsjahre im Nahen Osten vor. Hier finden sich interessante neu Details über den Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, der eng mit den Nazis zusammengearbeitet und in Bosnien eine muslimische SS-Division aufgebaut hatte. Nach dem Krieg kam er in Jerusalem in Hausarrest, wo ihn die Franzosen, die an guten Beziehungen zur arabischen Welt interessiert waren, entkommen ließen - auch um einen Auslieferungsersuchen wegen Kriegsverbrechen aus Titos Jugoslawien zuvorzukommen. Wie andere ehemalige Nazis bekam al-Husseini Asyl in Ägypten: 'In Kairo wurde er vom Gründer der islamofaschistischen Muslimbruderschaft, Hassan al-Banna, als siegreicher Held begrüßt. Der Mufti, so al-Banna, sei ein großer Führer, der 'ein Imperium herausgefordert und den Zionismus mit Hilfe von Hitler und Deutschland bekämpft hat. Deutschland und Hitler sind nicht mehr da, aber Amin al-Husseini wird den Kampf fortsetzen'."
Archiv: Geschichte

Wissenschaft

Das große SZ-Dossier zur "China Science Investigation" haben wir gestern schon verlinkt. Heute ist es im Print zu finden. Im Interview erklärt die Expertin Didi Kirsten Tatlow, "dass chinesische Universitäten und Forschungsanstalten direkt dem Bildungs- und damit auch dem Propagandaministerium unterstellt sind und der Kommunistischen Partei Chinas dienen müsse." Deutschland gehe "nicht ahnungslos, sondern wissentlich risikoreiche Kooperationen", sagt sie und warnt: "Deutschland muss definieren, was die Risikoforschungsbereiche sind - und sollte dort nicht mehr kooperieren. Schauen wir doch einmal nach Russland, das heute Krieg gegen die Ukraine führt und mit dem wir bis vor Kurzem viele risikoreiche, auch wissenschaftliche Kooperationen unterhalten haben. Ich bin wirklich besorgt, dass wir auf eine viel schwierigere Situation mit China zusteuern. Die Warnsignale sind schon da, das Wissen ist da, die Beweise sind da, dass es höchst kritische Kooperationen gibt.

In einem offenen Brief haben die Hochschulrektoren Russlands dazu aufgefordert, Putin zu unterstützen. Im SZ-Gespräch mit Silke Bigalke zeigt sich Irina Busygina von der Higher School of Economics (HSE) in Sankt Petersburg entsetzt: "Ich habe alle möglichen Anti-Kriegs-Erklärungen unterschrieben. (...) In der Erklärung wird auch gesagt, dass Universitäten sich um den Präsidenten und die Armee herum versammeln müssen. Für mich ist das Unsinn. Es wird gesagt, dass die Universitäten schon immer Säulen des Staates waren. (…) Viele Jahre waren wir in einer beinahe paradoxen Situation: Wir hatten Herrn Putin und Herrn Lawrow mit ihren antiwestlichen Positionen. Aber an den Universitäten wurden wir daran gemessen, wie viele Artikel wir in englischsprachigen Journalen veröffentlichten.
Archiv: Wissenschaft