Efeu - Die Kulturrundschau

Schön schwebende Sätze

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27.06.2022. Die Literaturkritik resümiert den Bachmann-Wettbewerb: Für die Berliner Zeitung hat slowenische Autorin Ana Marwan mit ihrem Text "Wechselkröte" zu Recht gewonnen, die FAZ fragt sich jedoch, woher die gute Stimmung rührte: Wurde der Wettbewerb infiltriert? Die FAZ blickt außerdem mit Susan Meiselas ins traurige Herz der Triebökonomie. Die SZ begibt sich beim Münchner Festival "Radikal Jung" auf die "Bad Roads" des Donbass. Die taz stellt den in Dresden lebenden Musiker Ezé Wendtoin, der westafrikanische Sounds mit Hannes Wader kreuzt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.06.2022 finden Sie hier

Literatur

In Klagenfurt ist der Bachmann-Preis verliehen worden: Er ging an die slowenische Schriftstellerin Ana Marwan für ihren Text "Wechselkröte". In der Berliner Zeitung ist Judith von Sternburg sehr einverstanden mit dieser Entscheidung: "Eine Frau so einsam und um sich kreiselnd, wie man es sich in der Covid-Zeit angewöhnen konnte oder musste - 'es war einmal so, dass ich immer für jeden ein frisches Gesicht hatte' -, ist schwanger.  ... Der recht heftigen Frage 'Wie würde ich leben, würde ich leben?' widmet sie sich ratlos, mit einem nüchtern melancholischen Appell, sich aufzuraffen. 'Meine Vorstellungskraft muss das Metaphorische verlassen, zum Konkreten übergehen." Das gelingt nur bedingt. Die Unsicherheit der Frau bleibt unbestimmt, während die in Niederösterreich lebende Schriftstellerin Marwan, 1980 in Slowenien geboren, eine traumtänzerisch wirkende Haltung zur Sprache einzunehmen scheint. Die natürlich wie jeder gelungene Traumtanz in Wahrheit eine souveräne Haltung ist." Auch Carsten Otte lobt  in der taz: "Ein klassischer Bachmanntext mit schön schwebenden Sätzen, der Tiermotive, Landschaftsbeschreibungen mit einer weiblichen Identitätssuche kombiniert".

In der FAZ ist Jan Wiele froh, dass Klagenfurt überhaupt wieder stattfinden konnte, aber der Jahrgang war nicht der beste, meint er: Er bot "so manche Texte, die zwar ansatzweise gut gemacht waren, denen aber doch der gewisse Dreh oder gar Wow-Effekt fehlte. Denkt man an Lesungen wie jene von Lutz Seiler (2007) oder Katja Petrowskaja (2013) zurück, bei denen so ziemlich jeder sofort spürte: hier hat man einen Siegertext, stellte sich ein solches Gefühl diesmal nicht recht ein. Am ehesten war es der Fall bei der Erzählung eines 'entgeisterten Heimatunfähigen' des 1987 im rumänischen Alba Iulia geborenen Alexandru Bulucz, der sich, bei höchster Sprachreflexivität, von einem Kaffeehausplatz fortdenkt und 'Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen' landet (so der Titel des Texts)".

In der SZ war Miryam Schellbach vor allem beeindruckt von der zahmen Jury in diesem Jahr: "Bitterböse Verrisse gab es kaum, und ein Autor und ein Journalist wurden in friedlicher Eintracht beim Nachtbaden gesehen. Woher kam die gute Stimmung? Der Bachmannpreis wurde infiltriert. Am Rand des wichtigsten Wettbewerbs für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur stand eine Gruppe junger Wissenschaftler in ordentlichen Hemden herum, zu Forschungszwecken, wie sie sagten, um den Stand der Literaturkritik zu vermessen." Im Tagesspiegel resümiert Gerrit Bartels den Wettbewerb, im Standard schreibt Michael Wurmitzer, der daneben noch ein kleines Porträt Marwans liefert.

Besprochen werden die Erinnerungen von Egon Krenz (FR), Peter Balsigers Roman "Der letzte Chindit" (NZZ), Walerjan Pidmohylnyjs Roman "Die Stadt" (NZZ), Marie Malcovatis "Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut" (Berliner Zeitung) und Kinderbücher in der FAZ, nämlich Johan Egerkrans' "Drachen", Lise Villadsens "Sowas wie Sommer, sowas wie Glück" und der Comic "Völlig meschugge?!" von Andreas Steinhöfel und Melanie Garanin.
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Kunst

Susan Meiselas: Lena on the Bally Box, Essex Junction, Vermont, 1973. Bild: C/O Berlin 

Susan Meiselas gehört zu den großen Fotoreporterinnen der Agentur Magnum. Doch in der Ausstellung "Mediations" im C/O Berlin interessieren FAZ-Kritiker Andreas Kilb gar nicht mal die berühmten Bilder aus Nicaragua und El Salvador, vielmehr trifft ihn die Serie "Carnival Strippers" von 1975 wie ein Schlag, schreibt Kilb. "Man sieht nackte und halb nackte, von Schwangerschaftsstreifen, Operationsnarben, Alkohol und Übergewicht gezeichnete Frauen und die Gesichter der Kunden, denen sie sich darbieten. Man erkennt aber auch, dass die Umgebung, in der die Frauen auftreten, das Zerrbild einer Gesellschaft ist, in der Sex und Geld untrennbar verbunden sind. In diesem Maschinenraum des amerikanischen Traums wird das Streben nach Glückseligkeit zur Parodie des Begehrens. Aber die Objekte dieser traurigen Triebökonomie bekommen bei Meiselas eine Würde, die sie auf eine Stufe mit Königinnen und Filmstars stellt." Über Meiselas hat Perlentaucher Thierry Chervel vor einiger Zeit ein grundsätzlicheres Fotolot geschrieben.

Der kubanische Künstler Luis Manuel Otero Alcántara ist wegen Herabwürdigung des kubanischen Nationalgefühls zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden, meldet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung: "Grund der Anklage und des Urteils des Obersten Gerichts in Havanna ist unter anderem ein Medienkunstwerk, in dem  Alcántara mit der Nationalflagge hantiert und in ironisch-drastischer Weise Kritik übt an den undemokratischen Verhältnissen auf der Karibikinsel, an Demagogie, Unfreiheit, Schwulenverfolgung, Mangelwirtschaft und Korruption. Schon seit 2021 in U-Haft, war er aus Protest in einen lebensbedrohlichen Hunger- und Durst-Streik getreten, woraufhin es zur Zwangseinweisung in ein Hospital kam. Darüber verhängten die Behörden eine Nachrichtensperre."

"Grob falsch" findet Meron Mendel es im FR-Interview, die Documenta insgesamt als "Antisemita" abzuqualifizieren, wie es Sascha Lobo im Spiegel  tat (unser Resümee). Dass Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, jetzt für die Kunstschau die Bilder auf einen möglichen antisemitischen Gehalt überprüfen soll, erscheint ihm selbst zwar etwas spät, aber nicht falsch. Er rät grundsätzlich zur Prüfung des Einzelfalls. Über ein palästinensisches Bild, das Interviewerin Lisa Berins als angelehnt an Delacroix' Gemälde "Die Freiheit führt das Volk" beschreibt, sagt er etwa: "Dass Menschen in Gaza in Bezug auf den Konflikt einseitig sind, dass es bis hin zu Hass gegenüber Israel geht, ist erst mal nachvollziehbar - ob ihre Einstellung nun berechtigt ist oder nicht. Die echte Grenzüberschreitung findet statt, wenn sich der Hass gegen Juden selbst richtet und nicht mehr gegen einen Staat."

Weiteres: Leider nicht online ist das Interview mit Peter Sloterdijk aus der Berliner Zeitung, in dem er vor allem auch den postkolonialen Ansatz der Documenta deutet: "Das Unrecht, im vormaligen Zentrum zu stehen, wird so stark empfunden, dass man lieber Interpretation erleidet als ausübt." In der FAZ spricht Brita Sachs mit dem spanischen Architekten Santiago Calatrava, dessen Skulpturen und Zeichnungen die Münchner Glyptothek in der Ausstellung "Jenseits von Hellas" zeigt. Andreas Hartmann besucht für die taz das Berliner Kunstfestival "48 Stunden Neukölln".
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Bühne

Natalia Vorozhbyts "Bad Roads".Foto: Spyros Rennt / Volkstheater

Schön krachend fand es SZ-Kritiker Egbert Tholl beim Münchner Festival für junge Regie "Radikal Jung", das nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause endlich wieder stattfinden konnte. Besonders beeindruckt ist er von Natalia Vorozhbyts Stück "Bad Roads", das in beklemmenden Szenen von den Verheerungen des seit 2014 schwelenden Krieges im Donbass erzählt, auch wenn Tamara Trunovas Inszenierung etwas zu viel Kunstwillen aufbringe: "Ein Schuldirektor gerät in einen Kontrollposten, hat aus Versehen den Pass seiner Frau eingesteckt, die Soldaten treiben bizarre Spiele mit ihm, er zittert vor Angst. Drei Mädchen warten auf die Soldaten, mit denen sie Sex haben wollen. Die Oma schaut eine russische Hochzeitssendung im Fernsehen, die Enkelin erwürgt sie. Eine junge Frau überfährt ein Huhn, will den beiden Alten, denen es gehört, dies bezahlen und gerät in eine Hölle von Gier. Eine Frau überführt den Leichnam ihres Geliebten, eines Kommandeurs, dem die Separatisten den Kopf abschnitten; sie sinnt auf Sex mit dem Fahrer, das Handy des Toten klingelt."

Besprochen werden Verdis Oper "Giovanna d'Arco" bei den St. Galler Festspielen (die anstelle von Tschaikowskys "Jungfrau von Orléans" gespielt wurde, wie Christian Wildhagen in der NZZ eigentlich erfreut bemerkt) sowie Yael Ronens und Dimitrij Schaads dystopische Revue "(R)Evolution" am Theater Erlangen (für Nachtkritiker Christian Muggenthaler kaum mehr als harmloses Trara).
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Film

"'Squid Game' wird verwurstet. Geplant ist ein Reality-Format", verkündet Andreas Scheiner in der NZZ in einem längeren Text über Trash-TV. "Aus der blutigen Serie soll Ernst werden, der Streaminganbieter sucht Freiwillige, die den Stoff in einer Fernsehsendung nachspielen. Man muss sich fragen: 'Squid Game' in echt? Wie tief sitzt eigentlich Netflix in der Tinte?"

Außerdem: In der Berliner Zeitung empfiehlt Claus Löser wärmstens die beiden Stummfilme "Zwei Herzen im ¾ Takt" und "Zuflucht" im Berliner Arsenal.
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Stichwörter: Netflix, Stummfilm

Musik

In der taz stellt Victor Efevberha Ezé Wendtoin vor, einen Singer-Songwriter aus Westafrika. Heute lebt er in Dresden, wo er seinen Master in Germanistik gemacht hat. "Die vielfältigen Welten und Sprachebenen, auf denen er sich bewegt, sind auch auf seinem neuen Album 'Heute HIER morgen DEUTSCH' zu hören. Der Titel verweist auf das Hannes Wader Lied 'Heute hier morgen dort'. Die Lieder darauf sind ein buntes Auf und Ab, laut und leise, mal gelassen, mal kritisch, mal mit schrägem Humor und Ironie, mal elektronisch, mal mit tradtitionellen westafrikanischen Instrumenten wie der großen Tama-Trommel. ... Spannend an Ezés Umgang mit der deutschen Sprache ist der Aspekt, dass er den Zuhörer:innen seine Perspektive auf das Deutsche zeigt. Er zerlegt die Sprache in ihre Einzelteile baut sie kreativ wieder zusammen: 'Jetzt wettdeutschen sie, deutschend in grammatikalischer Deutschheit'."

Hier covert er Max Raabs "Fahrrad fahrn":



"Die endlose Queen-Welttour mit einem anderen Sänger, drei Jahrzehnte nach dem Tod des kreativen Idols, das ist so ein Projekt, das unglaublich nervt und komplett überflüssig klingt, wenn man von ihm liest. Und das dann natürlich doch brachial viel Spaß macht, wenn man wirklich hingeht", freut sich Joachim Hentschel, der für die SZ in der Benz-Arena den neuen Queen-Frontman Adam Lampert begutachtet hat. Ach ja, und es waren überraschend viele junge Leute da, wozu er auch eine Theorie hat: "Die Queerness, die bei der Band Queen zwar immer künstlerisch präsent war, die wohl auch entscheidend dafür mitverantwortlich ist, dass die Musik mit ihrer Fusion aus Schwitzrock und tänzelnder Fantasterei noch immer etwas Besonderes hat - sie wird in der Showversion mit Adam Lambert endlich vom eher klandestinen Moment der 70er und 80er zum ganz offenen Bedeutungsträger. Während Millionen junge 'Rhapsody'-Fans im Publikum stehen, die sich darin spiegeln können."

Weiteres: In der FR berichtet Bernhard Uske über die Eröffnung des Rheingau Musik Festivals in Kloster Eberbach, in der FAZ schreibt dazu Guido Holze. Besprochen werden ein Konzert von Kiss in der Frankfurter Festhalle (FR), ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit russischer Musik in der Waldbühne (Tsp), noch ein Konzert mit russischer Musik, dem deutschen Symphonie-Orchester und dem Geiger Ghil Shaham in der Philharmonie (Tsp), ein Auftritt der Gorillaz in der Berliner Wuhlheide (Tsp) und eine CD-Box des Cellisten Heinrich Schiff (SZ).
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