Efeu - Die Kulturrundschau

Ein hübscherer Heiland

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25.07.2022. Meron Mendel ruft in der SZ Maxim Biller entgegen: Auch Linke können echte Juden sein. Ebenfalls in der SZ erklärt der neue Documenta Geschäftsführer Alexander Farenholtz, wie er künftig Ruangrupa beraten wird. Die FR verfängt sich im Gropiusbau lustvoll schaudernd in den Tüll-Gespinsten von Louise Bourgeois. Die taz lernt von Schorsch Kamerun am Münchner Residenztheater nachhaltige Gemeinsamkeit. Die FAZ bewundert das Regenschirmhaus von Kazuo Shinohara in Weil am Rhein. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.07.2022 finden Sie hier

Literatur

In der SZ antwortet Meron Mendel auf Maxim Biller, der am Samstag der Schriftstellerin Eva Menasse vorgeworfen hatte, sich mit einem neurechten Denken von links sozusagen ihrer jüdischen Identität zu widersprechen (unser Resümee): "Die Vorstellung, dass linke keine echten Juden sind, begann noch vor der Staatsgründung Israels. Der Vordenker der heutigen Siedlerbewegung, Rabbiner Abraham Isaak Kook, bezeichnete die sozialistischen Gründer der Kibbuzim als "Esel des Messias", also die nützlichen Idioten im Dienst der wahrhaftigen Juden. Man muss aber nicht selbst jüdisch-orthodox - oder gar religiös - sein, um den Linken ihr Jüdischsein abzusprechen. Das hat der Spinmaster Benjamin Netanjahu früh begriffen, als er vor zwanzig Jahren vor laufenden Kameras einem Rabbiner ins Ohr flüsterte: "Die Linken haben vergessen, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Sie glauben, wenn wir den Arabern Teile des Landes geben, werden sie sich um uns kümmern." In der politischen Kultur Israels war diese Rhetorik äußerst effektiv. Die Bezeichnung Smolani (Linke) wurde zum Schimpfwort, ein Synonym für: Verräter des eigenen Volks."

In der FAS spricht Rebecca Solnit über George Orwell, über den sie gerade ein neues Buch geschrieben hat. Was ihr dabei aufgefallen ist und vorher von keinem Biografen gewürdigt wurde: Der grimmig-ernste Orwell war ein riesiger Rosenfreund. Um die Blumen kümmerte er sich mit einer Leidenschaft, wie sie einem gestandenen Briten zu Orwells Lebzeiten als Mann kaum zugestanden worden sein dürfte. "Was bedeutet es denn, dass dieser Mann sehr viel Zeit und Energie diesen Blumen gewidmet hat? Das wirft Fragen über sein literarisches Wirken und sein Verständnis von Sozialismus auf. Also ging ich dem nach. Und tatsächlich: In seinen Schriften verteidigt er immer wieder das Recht auf das Vergnügliche, das Schöne. ... Es gibt die Linken, die der Meinung sind, dass man nur dann wahrlich engagiert ist, wenn man ein strenges Leben führt, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche für die Revolution! Dieses Buch habe ich auch gegen die Austerität der Linken geschrieben. Es war eine Freude, festzustellen, dass Orwell selbst ständig die Nase darüber rümpfte."

Warum verlässt Thomas Brussig den S.Fischer Verlag unter ordentlich medienwirksamen Getöse? Wirklich nur, weil er sich von seinem Verlag gegenüber den Beschwerden eines früheren Kompaniechefs, der sich in einem Buch wiederentdeckt hat, zu wenig unterstützt fühlt (unser Resümee)? Mara Delius von der Welt beschleichen nach einer Pressekonferenz, die der Autor dem Literaturbetrieb gegeben hat, andere Gedanken: "Es gebe erfreuliche Nachrichten aus den USA - er deutete eine Übersetzung von 'Am kürzeren Ende der Sonnenallee' durch Jonathan Franzen an - und so habe er den Vertrag gefragt, ob sich 'dieser Rückenwind nicht nutzen ließe', mutmaßlich auch für bessere Verträge. Frau Bublitz von S.Fischer habe sich aber nicht mit ihm treffen wollen. ... Ganz wurde man den Eindruck während der Stunde des Online-Termins nicht los, hier breche sich eine schleichende Enttäuschung über den langjährigen Verlag in einer Übersprungshandlung Bahn."

Außerdem: Im Standard gratuliert Robert Prosser der Schriftstellerin Ali Smith, deren Werke "sich durch ein eigenwilliges Spiel mit Form, Zeit und (Geschlechter-)Identität auszeichnen", zum Erhalt des Staatspreises für Europäische Literatur.
Im Literaturfeature bei Dlf Kultur befasst sich Rolf Cantzen mit Rolle von Hühnern in der Weltliteratur. Der Schriftsteller Christoph Höhtker erzählt in der NZZ vom beschwerlichen Umzug zweier Kater einmal quer durch Mitteleuropa. Die FAZ meldet den Tod der Schriftstellerin Hanne Kulessa.

Besprochen werden unter anderem Ahmet Altans "Hayat heißt Leben" (Standard), Rebecca Gislers "Vom Onkel" (NZZ), Tom Kummers "Unter Strom" (Zeit), Ralf Rothmanns "Die Nacht unterm Schnee" (FR), Andreas Schäfers "Die Schuhe meines Vaters" (Tsp) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Sonja Danowskis "Nachts im Traum" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Martin Heideggers "Hütte am Abend":

"Weit geschartes Waldgezüge
wandert durch den blauen Duft.
Zeichen ziehen Schwalbenflüge ..."
Archiv: Literatur

Kunst

Louise Bourgeois, Spider, 1997. Foto: Erika Ede

Was die französisch-amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois so groß gemacht hat, kann FR-Kritikerin Ingeborg Ruthe in der "exzellenten" Ausstellung im Berliner Gropiusbau sehen: Sie hat alle Trends und Weltanschauungen an sich vorbeiziehen lassen. Die Schau beschränkt sich auf das Spätwerk, das von ihren textilen Arbeiten bestimmt ist, von Nadeln und Stoffen, wie Ruthe erklärt, die vor der berühmten Spinne erschauerte: "Die riesigen eisernen Spinnenbeine, aufgestellt rings um eine der käfigartigen runden 'Cells', bespannt mit bizarr gemusterten Tapisserie-Fetzen. Welch ein Urmutter-Symbol, webend, beschützend und gefährlich zugleich. Etliche solcher klaustrophobisch gefängnisartigen Eisenkäfige sind im Museum niedergegangen wie Raumschiffe vom Planeten der Frauen. Obsessiv wuchern Gebilde aus Baumwoll-, Seide-, Jute-, Tüll-Gespinsten an Ketten. Alles in diesen Zellen gleicht malträtierten weiblichen Körperteilen."

Im SZ-Interview mit Jörg Häntzschel erklärt der neue Documenta-Geschäftsführer Alexander Farenholtz, wie er sich seine Aufgabe vorstellt, welche Freiheiten er Ruangrupa lassen möchte und wie er die Aufregung besänftigen möchte. Es wird schwierig: "Dieses hochgradig politisierte Thema Antisemitismus ist viel größer als die Documenta. Gibt es in bestimmten Kulturmilieus eine Nähe zu BDS? Wie wäre das zu erklären? Wie sieht es aus mit der Repräsentation von jüdischen israelischen Künstlern auf großen Ausstellungen? Das hat insgesamt eine Dimension, die weit über das hinausgeht, was die Documenta betrifft. Vielleicht hat ein Ministerium oder eine Stadtverwaltung nicht die richtigen Leute dafür, aber sie haben die Ressourcen, sich ein solches Expertengremium zusammenzubauen. Es wird aber nicht als Kontroll- oder Entscheidungs-, sondern als Beratungsinstanz für die Kuratoren fungieren."

Dirk A. Moses möchte mit dem Historiker Jeffrey Hadler zwischen "Anti-Israelismus" und "wirklichem Antisemitismus" unterscheiden, auch bei der doumenta fifteen. Das Werk "People's Justice" von Taring Padi, das er bei geschichtedergegenwart.ch in den Kontext der Dekolonisierung stellt, kann er allerdings nicht vom Vorwurf des Antisemitismus freisprechen. Anderes die Kunstwerke des palästinensischen Künstlers Mahommed Al Hawajri: "Al Hawajris Kunst greift weder das jüdische 'Wesen' an noch konzeptualisiert sie es als Abstraktion - sie wendet sich allein gegen das israelische Militär. Während die 'jüdischen' Figuren in 'People's Justice' eine Abstraktion darstellen, repräsentieren die Israelis in der Serie 'Guernica Gaza' einen militarisierten Staat, der palästinensische Gebiete besetzt und die Palästinenser:innen langsam von ihnen vertreibt, sie buchstäblich bombardiert. Anstatt mit paranoiden Symbolen, Vereinfachungen und jüdischen Stereotypen zu arbeiten, bezieht sich Al Hawajris Bilderserie auf konkrete Interaktionen zwischen Israelis und Palästinenser:innen. Es gibt keinen Judenhass in diesen Bildern."

Besprochen werden die Ausstellung "Die Frauen der Boheme 1890-1920" in der Münchner Monacensia (FAZ) und Wenke Seemanns Ausstellung "Utopie auf Platte" in der Kunsthalle Rostock (FAZ).
Archiv: Kunst

Architektur

In der FAZ begrüßt Ulf Meyer sehr, dass Vitra das legendäre Regenschirmhaus des japanischen Architekten Kazuo Shinohara vor dem drohenden Abriss nach Weil am Rhein rettete: Meyer sieht in dem Bau aus Zeder, Kiefer und Douglasie eine gebaute Kritik am westlichen Funktionalismus: "Shinoharas Haus verband moderne Strenge mit traditionellen japanischen Bauformen, um eine puristische, poetische Struktur von bescheidenem Maßstab, aber großem gestalterischen Ehrgeiz zu schaffen. Es war das kleinste Haus, das der Architekt entworfen hat. Für Shinohara ging es nicht um die bloße Herstellung von Wohnraum als gesellschaftliches Ziel, sondern die Schaffung von Räumen, die Menschen ansprechen. 'Ohne den Status als Kunstwerk hat ein Haus keine Daseinsberechtigung', sagte er."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Shinohara, Kazuo

Bühne

Völlig aus dem Häuschen ist taz-Kritikerin Johanna Schmeller nach Schorsch Kameruns Performance "All together now!", die in und vor dem Münchner Residenztheater als "Happening-Gala für nachhaltige Gemeinsamkeit" stattfindet: "Eine Seiltänzerin legt per Tau einen Bogen zwischen Stadt und Theater. Eine gefiederte Vogelfrau (Mareike Beykirch) rast als wild gewordene Papagena herum und interagiert mit überwiegend amüsierten Passanten: "Es ist so schön, wenn es hier um uns geht und nicht um mich!" Den Kopf kann man nicht unbedingt gebrauchen an diesem Abend. Musik und Texte gehen direkt ins vom Lockdown angestaubte Herz."

Weiteres: Im SZ-Interview mit Reinhard J. Brembeck spricht die Bayreuth-Chefin Katharina Wagner über die anstehenden Festspiele, bei denen Valentin Schwarz Wagners "Ring" neu insznieren wird, und die von #MeToo-Vorwürfen überschattet werden. Jan Brachmann hält in der FAZ fest, dass es in dieser Hinsicht keine Vorwürfe gegen Christian Thielemann gegeben habe, dieser aber gleichwohl nicht mehr für die Orchesterzusammensetzung zuständig sei. Im Standard wirft einen Blick auf die peinlichen Aspekte der Salzburger Festspiele, wie inkriminierte Dirigenten und toxisches Sponsoring. In der Zeit kürt Christine Lemle-Matwey die litauische Opernsängerin Asmik Grigorian zum neuen Opernstar.

Besprochen werden Andreas Homokis Inszenierung von Puccinis "Madame Butterfly" bei den Bregenzer Festspielen (die Michael Stallknecht in der NZZ zufolge die Schaulust "unaufdringlich, aber handwerklich brillant" bediene), Franz-Xaver Mayrs Inszenierung von Schnitzlers "Reigen" bei den Festwochen Gmunden (Nachtkritik) und Jan Bosses Inszenierung von Shakespeares "Sturm" (die Nachtkritiker Martin Thomas Pesl trotz der krude-wörtlichen Übersetzungsidee als lustvolles Theater genießen konnte).
Archiv: Bühne

Film

Die Macher von "Babylon Berlin" wehren sich dagegen, dass eine rechte Krawall-Postille ein Sonderheft über ihre Serie gemacht hat, berichtet Peter Laudenbach in der SZ. Die Agenturen melden den Tod des Hollywood-Regisseurs Bob Rafelson.

Besprochen werden Sebastian Kos gesellschaftspolitisch aufgeladener Kammerspiel-Thriller "Geborgtes Weiß" ("gut gemeint, aber weniger Film Noir als moralische Lehrstunde", seufzt Michael Meyns in der taz) und die Disney-Serie "The Dropout" (FAZ).
Archiv: Film
Stichwörter: Disney, Film Noir

Musik

Harry Styles ist auch weiterhin in aller Munde und also auch in den Feuilletons. Heute ist es an Harald Peters in der Welt, zu erklären, was es mit dem Wunderknaben auf sich hat, dem alle Teenie-Herzen zufliegen. "Das ist eigentlich schon das halbe Geheimnis: Styles hat kein Problem - nicht mit dem Auflösen von Geschlechterrollen, nicht mit sexueller Vielfalt, vor Styles sind sozusagen alle gleich. Um ein geflügeltes Wort seiner neuseeländischen Kollegin Lorde zu zitieren, könnte man sagen, Styles sei ein 'prettier Jesus', ein hübscherer Heiland. Er nimmt Babys auf den Arm. Er streichelt Hunde. Er hat für ein Lied, in dem es mutmaßlich um den weiblichen Orgasmus geht, einen Grammy bekommen. ... Jede Zeit verdient eine schöne Utopie, und die von Styles scheint momentan die beste zu sein, die die Popmusik derzeit zu bieten hat."

Weiteres: In seiner Zeit-Kolumne erzählt Maxim Biller von einem Nachmittag im Café mit Jochen Distelmeyer, mit dem er sich unter anderem darüber austauschte, "warum die Musik in Deutschland oft so klang, als hätte Hitler gesiegt". Frederik Hanssen porträtiert im Tagesspiegel Alexander Steinbeis, den neuen Intendanten des "Kissinger Sommers". Auf ZeitOnline erinnert Frederik Steiner an den Jazzvermittler Joachim-Ernst Berendt. In der FAZ freut sich Anja-Rosa Thöming über eine neue, kritische Elgar-Edition. Reinhard J.Brembeck schreibt in der SZ zum Tod des Dirigenten Stefan Soltész.

Besprochen werden Konzerte von Grigory Sokolov (FR), Peaches ("wirklich eine geile Show", strahlt Andreas Hartmann im Tagesspiegel), Seeed (FR), Okean Elzy (FAZ) sowie der Geigerin Julia Fischer und des Dirigenten Tarmo Peltokoski in Wiesbaden (FR).
Archiv: Musik