9punkt - Die Debattenrundschau

Ein freier Wille würde ja auch nur stören

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.11.2022. Russland kann erst wieder zu sich kommen, wenn es sich gründlich von seinen nationalistischen Mythen verabschiedet, schreibt der russische Ökonom Wladislaw L. Inosemzew in der NZZ. Die FAZ verspürt bei der Lektüre Yuval Noah Hararis den "eisigen Hauch des Determinismus", der diesen Autor nicht zufällig zum Chouchou der Silicon-Valley-Libertären mache. Die Jüdische Allgemeine kommt auf die antisemitischen Slansky-Prozesse in der CSSR vor siebzig Jahren zurück. Suchen Sie ein friedliche Alternative zu den sozialen Medien? Die SZ empfiehlt Mastodon.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.11.2022 finden Sie hier

Europa

Sehr ausführlich analysiert eine Reportergruppe für die New York Times einige Internetvideos, von denen die Russen behaupten, sie zeigten ukrainische Kriegsverbrechen. Es geht um die ukrainische Wiedereroberung eines Dorfs in der Region Luhanks. Die Autoren haben unter anderem mit Iva Vukusic, einer Expertin für Kriegsverbrechen, gesprochen: "Der russische Menschenrechtsrat erklärte, er werde das Video an internationale Organisationen weiterleiten. Der Ermittlungsausschuss des Landes, das russische Pendant zum FBI, leitete eine strafrechtliche Untersuchung der Begegnung ein. Vukusic sagt, dass der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs den Vorfall angesichts der großen Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, höchstwahrscheinlich untersuchen werde. Eine Untersuchung würde einen Besuch vor Ort erfordern, um festzustellen, wo sich alle Beteiligten aufhielten, um Patronenhülsen zu sammeln, pathologische und forensische Untersuchungen der geborgenen Leichen vorzunehmen und das Vorgehen der ukrainischen Einheit nach dem Schusswechsel zu untersuchen."

In der NZZ denkt der russische Ökonom Wladislaw L. Inosemzew darüber nach, wie Russlands Zukunft nach Putin aussehen könnte. Man müsse zunächst die Russische Föderation auflösen und auf freiwilliger Basis neu gründen, was unweigerlich zu einer Verkleinerung führen werde, sich zweitens demokratisieren und drittens "entnazifiert" werden. Der Krieg mit der Ukraine entstand aus der Hybris eines imperialen Konzepts von 'Russentum', das darauf bestand, dass es ein einziges russisches Volk und ein einziges 'historisches Russland' gibt, das aus Russen, Weißrussen und Ukrainern besteht. Diese Lesart wurde in die Bereitschaft verwandelt, die 'abtrünnigen' Teile Russlands zu erobern und zu unterdrücken. ... Russland sollte sich nicht nur aus der Ukraine zurückziehen, sondern auch die eigene nationalistische Ideologie verurteilen und eine russisch-ukrainische Wahrheitskommission einrichten, die alle von der Vorgängerregierung begangenen Kriegsverbrechen untersucht und alle daran Beteiligten gerichtlich verurteilt."
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Ideen

Thomas Thiel lässt in der FAZ kein gutes Haar an dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari. Der "eisige Hauch des Determinismus" wehe durch seine Bücher und finde begeisterte Aufnahme im Silicon Valley, so Thiel. "Wenn der Mensch eine Maschine ist, dann ist auch der freie Wille eine Illusion, ebenso wie die liberalen Staatsordnungen, die auf ihm aufbauen. Wir würden bei Wahlen nicht denken, (…) sondern nur fühlen (sogar ohne Innenleben). Das Silicon Valley hört so etwas gern - ein freier Wille würde ja auch nur stören in den Affektuniversen des Überwachungskapitalismus. Es verwundert dann nicht mehr, dass die politischen Ordnungen, ohnehin nur Fiktionen, in Hararis Zukunftsbuch von einem Maschinenuniversum weggespült werden."
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Kulturmarkt

Bertelsmann wollte die amerikanische Verlagsgruppe Simon & Schuster übernehmen und in seine Randomhouse-Gruppe eingliedern (unser Resümee) und damit endgültig zu einem Mammut werden. Aber nun wendet sich die amerikanische Regierung mit kartellrechtlichen Argumenten gegen die Fusion und wird sie wohl verhindern, meldet der Spiegel mit Agenturen. Die Begründung ist interessant: "Im Gegensatz zu den meisten Wettbewerbsstreitigkeiten, bei denen es um die Kosten für die Verbraucher geht, ging es in diesem Fall um die Einnahmen der Autorinnen und Autoren. Die US-Regierung argumentierte bei ihrer Klageeinreichung, dass der Kauf verhindert werden müsse, weil er zu weniger Wettbewerb bei Bestsellern und geringeren Vorschüssen für Autorinnen und Autoren führen würde."
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Stichwörter: Bertelsmann, Randomhouse

Geschichte

Kilian Kirchgeßner erinnert in der Jüdischen Allgemeinen an die Slánský-Prozesse vor genau siebzig Jahren in der Tschechoslowakei. Sie markieren die antisemitische Wende der unter Stalins Einfluss stehenden Regimes direkt nach dem Krieg. Kirchgeßner zitiert einen der wenigen Angeklagten, die den Prozess überlebten: "'Um zu beweisen, dass sie gute Freunde der Araber sind, mussten sie sich als Antisemiten legitimieren', schrieb viel später Eugen Löbl... 'Seit dieser Zeit ist Antisemitismus ein Teil der sowjetischen Außenpolitik geworden. Und der Hintergrund dessen ist, Fuß zu fassen im Nahen Osten, um dadurch einen viel größeren Druck auszuüben auf den Westen und gegen Amerika.'"
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Gesellschaft

In der NZZ staunt Lucien Scherrer, wie überrascht viele sind von der schwulenfeindlichen Einstellung Katars. Es gebe eben doch einen Zusammenhang zwischen Schwulenfeindlichkeit und Islamismus. Doch sobald dies hierzulande thematisiert werde, "sind Journalisten, Wissenschafter und Politiker zur Stelle, um sich in Relativierungen, Anklagen und Selbstanklagen zu ergehen. Das geht mittlerweile so weit, dass sich selbst staatliche Institutionen als Fundi-Versteher betätigen.", schreibt Scherrer mit Blick vor allem auf die SZ und die taz, aber auch auf die Berliner Forscherin Iman Attia, die seit 2020 in dem von Horst Seehofer begründeten deutschen "Expert:innenkreis Muslimfeindlichkeit" tätig ist: In ihrem Buch "Die 'westliche Kultur' und ihr Anderes" "vertritt sie die These, dass Kritik am Islam der Legitimation von Kriegen und neokolonialer, neoliberaler Politik sowie einem 'hegemonialen Diskurs' diene. Sie beruht also nicht auf Fakten, sondern auf Einbildung. Passend dazu schreibt Attia den Begriff 'islamischer Antisemitismus' in Anführungszeichen. Auch Äußerungen über 'islamische Homophobie' sind laut Attia rassistisch, sind sie doch 'in ihrer Sündenbockfunktion aus antisemitischen Kontexten bekannt'. Muslime, so behauptet sie, sind die neuen Juden."

Die Grünen in Hamburg haben beschlossen, die Zusammenarbeit mit dem Islamischen Zentrum in der Stadt (IZH) einzustellen und folgen damit dem Argument des Verfassungsschutzes, der das Zentrum als "weisungsgebundenen Außenposten Teherans" betrachtet, berichtet André Zuschlag für die taz: "Der Umgang mit dem IZH hat sich bei den Hamburger Grünen massiv gewandelt. Lange Zeit lehnte die Mehrheit eine harte Linie gegenüber dem IZH ab und beharrte darauf, den Dialog nicht abreißen zu lassen. Daran änderte sich auch wenig, als das IZH noch 2018 die Teilnahme am Al-Quds-Tag in Berlin, bei dem zur Vernichtung Israels aufgerufen wird, mit Bussen organisierte. Spätestens seit Beginn der Proteste im Iran hat sich das gewandelt."
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Kulturpolitik

Internationale Vereinbarungen zum Schutz der Umwelt sind ja was gutes, aber sie können auch völlig bizarre Folgen haben, wie die Transportregeln für Musikinstrumente und die Schutzregeln der Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora (CITES) für Hölzer zeigen, berichtet Michael Stallknecht in der SZ: "So stehen seit 2017 alle Palisanderarten auf der Liste, darunter zum Beispiel Grenadillholz, aus dem gern Oboen und Klarinetten gebaut werden. Gehen solche Instrumente auf Reisen über Landesgrenzen, müssen Ausnahmegenehmigungen eingeholt werden, was ein mehrstufiges Verfahren über die diversen Naturschutzämter erfordert. Reisende Orchester gelten dabei als Wanderausstellungen: 'Die Wanderausstellungsbescheinigung kann als Einfuhrgenehmigung, Ausfuhrgenehmigung oder Wiederausfuhrbescheinigung verwendet werden', heißt es im Hinweisblatt des Bundesamts für Naturschutz. Gleichzeitig unterliegen ältere, besonders wertvolle Instrumente, wie sie vor allem Streicher spielen, dem Kulturgutschutz, für den es weitere Ausnahmegenehmigungen braucht." Man kann sich vorstellen, welch bürokratischer Alptraum eine Tournee heutzutage sein muss.
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Naturschutz

Internet

Elon Musk und Mark Zuckerberg erträumen sich die sozialen Medien als Dorfplatz. Das suggeriert friedliches Beisammensitzen und Plauschen auf einer Parkbank, aber der Dorf- oder Marktplatz war so idyllisch nie, meint Joshua Beer in der SZ. "Forschende an der Medizinischen Universität in Wien - Abteilung: Wissenschaft komplexer Systeme - legten 2020 in einer Studie dar, wie Menschen sich übervernetzen. In sozial ausbalancierten Gesellschaften stärke Konnektivität den Zusammenhalt nur bis zu einem kritischen Schwellenwert, darüber hinaus 'zerfällt Gesellschaft in Gruppen von Individuen, die untereinander positive Verbindungen und zwischen den Gruppen negative haben'. Ein Weg aus der Fragmentierung sei es, 'die Anzahl der Interaktionspartner zu reduzieren (social distancing)'." Das ginge über die Twitter-Alternative Mastodon, so Beer.
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