9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2022. In der SZ spricht Tatjana Chomitsch über die folterähnlichen Haftbedingungen ihrer Schwester Maria Kolesnikowa. Im Deutschlandfunk kritisiert Jörg Baberowski die Anerkennung des Holodomor als Völkermord durch den Bundestag: "Das ist eine Angelegenheit der Ukrainer, die das als ihren nationalen Mythos brauchen; wir brauchen das nicht." Bei geschichtedergegenwart.ch liefert Benjamin Kaufmann eine scharfe Polemik gegen die Wiener Honoratiorenschaft, der an Karl Lueger als "Stachel im Fleische" gelegen ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.12.2022 finden Sie hier

Europa

Die Deutschlandfunk-Sendung "Kultur heute" scheint komplett auf Transkriptionen von Interviews zu verzichten. Gestern wurde dort der bekannte Historiker Jörg Baberowski zur Bundestagsresolution über den Holodomor befragt - hier der Link zur Audiodatei. Es ist der Twitter-Notiz seines Kollegen Bert Hoppe zu verdanken, dass Baberowskis Aussagen außerhalb der Audiodatei zur Kenntnis genommen werden. Baberowski kritisiert den Beschluss des Bundestags und unterstellt, dass er vorgeschoben ist, um die Deutschen vom Holocaust zu entlasten. "Das ist für die Selbstverständigung der Deutschen keine so gute Sache, dass man den Holocaust sozusagen entsorgt, indem man sich jetzt auch mit dem Holodomor identifiziert", sagt Baberowski zur Dlf-Moderatorin Anja Reinhardt. "Das ist eine Angelegenheit der Ukrainer, die das als ihren nationalen Mythos brauchen; wir brauchen das nicht."

Da die Äußerungen Baberowskis ein Gewicht in der Debatte haben, zitieren wir etwas aus dem Interview noch etwas ausführlicher. Baberowski sieht die Resolution des Bundestags als einen Akt der Geschichtspolitik: "Es ist nichts Ungewöhnliches, dass mit Geschichte Politik gemacht wird, und jetzt im Augenblick ist es an der Zeit, dass Solidaritätsadressen an die Richtung von Kiew verschickt. Es ist ja kein Zufall, dass das Verlangen dieses Verbrechen als Genozid einzustufen, jetzt kommt, und nicht vorher." Der Holodomor sei zwar ein Menschheitsverbrechen, aber es bestehe keine Einigkeit darüber, "ob das ein Genozid war, ob das eine absichtlich herbeigeführte Hungersnot gewesen ist, um die Ukrainer zu töten und als Nation auszulöschen, oder ob das nicht doch eher Folgewirkung einer katastrophalen Kollektivierungsstrategie war. Und es gibt auch keine Einigkeit in der Frage, ob das ein russisch-imperiales Projekt war, oder ob das nicht doch eher ein bolschewistisches Projekt gewesen ist." Baberowski erläutert in der Folge, dass der Holodomor sozusagen ein Instrument war, um eine nationale ukrainische Identität zu schmieden. Es sei darum gegangen, die Idee der Nation "mit einem Mythos zu verbinden, der diesen Zweck erfüllen kann. Es ist ja oft so, dass sich Nationen über gemeinsames Leiden definieren." Baberowski betont in der Folge, dass der Begriff ds Genozids auf Kasachstan viel eher zutreffen würde, weil die Hungermorde dort dazu dienten, die nomadische Lebensweise zu zerstören.

Der Hungermord an den Kasachen heißt "Ascharschylyk" (mehr dazu in unserer Magazinrundschau) erzählt Othmara Glas heute in einem kleinen Hintergrundartikel für die FAZ. Anderthalb bis zwei Millionen Kasachen sollen in der Zeit von 1930 bis 1933 ums Leben gekommen sein. Der Begriff des Genozids sei wegen der langen Nähe des kasachischen Regimes zu Russland allerdings nicht durchgesetzt, so Glas. Dabei wurde Kasachstan durch die Hungermorde radikal verändert: "Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge kehrte nach der Hungersnot nach Kasachstan zurück. Nicht nur der Ascharschylyq hinterließ Spuren. Auch die Zwangsansiedlung von Russen und Ukrainern, die Deportationen von Koreanern und Deutschen führten dazu, dass die Kasachen bis in die Neunzigerjahre hinein nur zwischen 30 und 50 Prozent der Bevölkerung Kasachstans ausmachten."

Dem Historiker Bert Hoppe ist übrigens auch der Hinweis auf eine ziemlich skandalöse Aussage Alice Schwarzers in einem NZZ-Interview zu verdanken, aus dem auch wir gestern zitierten.
Die Deutschen argumentieren immer wieder im Namen der Maxime "Nie wieder Krieg", schreibt die Historikerin Tatjana Tönsmeyer im Spiegel. Den Ukrainern aber gehe es mit ihrem "Nie wieder" um etwas anderes, nämlich um "Nie wieder Besatzung". Der Zweite Weltkrieg sei ein Okkupationskrieg gewesen. Dem deutschen Terror fielen Abermillionen Menschen zum Opfer, und zwar meist Zivilisten: "Man möchte es in Großbuchstaben schreiben: In der ehemaligen Sowjetunion, Polen, dem damaligen Jugoslawien, Griechenland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Norwegen und Ungarn überstieg die Zahl der zivilen Toten jene der gefallenen Soldaten. Die Ukraine etwa zählt rund fünf Millionen zivile Opfer sowie weitere drei bis vier Millionen tote Ukrainer in den Reihen der Roten Armee."

Ein Ende des Krieges ist nicht absehbar, sagt die Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse, die gerade das Buch "Der Krieg gegen die Ukraine" veröffentlicht hat im Gespräch mit Susanne Lenz (Berliner Zeitung). Sie befürchtet, dass eine Wiederherstellung der Ukraine in den Grenzen von 1991 schwierig werden könnte: "Die Frage vor allem im Donbass ist, wer in diesen Gebieten überhaupt noch lebt."

Maria Kolesnikowas Zustand ist weiterhin ernst, sagt ihre Schwester Tatjana Chomitsch im SZ-Interview mit Silke Bigalke. Über die Diagnose oder den Grund der Operation hat die Familie keine Informationen erhalten. Zuletzt saß Kolesnikowa in einer Strafzelle: "Das ist eine Einzelzelle zur Bestrafung, gewöhnlich verbringen politische Häftlinge dort nicht weniger als zehn Tage. Das wissen wir aus der Praxis. Es gibt dort oft keinen Bettbezug, es gibt kein Bett, nur ein Brett, das tagsüber an die Wand geklappt wird. Das bedeutet, der Häftling darf tagsüber weder darauf sitzen noch liegen, er muss stehen. Es gibt zwar einen kleinen Stuhl und Tisch, aber sie sind sehr unbequem. Solche besonderen Bedingungen werden extra für die politischen Häftlinge geschaffen. Es kann sein, dass ihnen in der Strafzelle die wichtigsten Hygienemittel fehlen, Zahnbürste, Zahnpasta, Handtücher, Shampoo oder Seife. Sie dürfen nicht spazieren gehen, haben oft keine Bücher und keine Möglichkeit, Briefe zu schreiben."

In diesem Jahr wurde linker Antisemitismus "salonfähig", schreibt im Aufmacher der Welt der israelische Botschafter in Berlin, Ron Prosor, nicht nur mit Blick auf die Documenta 15. (mehr in Efeu) "Nach fast jedem linksantisemitischen Ausfall stellen sich in der Regel die immer gleichen Israelis an die Seite der Israelfeinde. Sie erinnern dabei an den 'Grizzly Man' aus Werner Herzogs gleichnamigem Film. Dieser lebte über 13 Sommer hinweg in Alaska mit Grizzlybären zusammen, wollte sie verstehen, gab seinen Schützlingen Namen, führte eine innige Beziehung mit ihnen. Es half nichts, am Ende fiel er eben doch seinen pelzigen Freunden zum Opfer."

Verpackt in eine Liebeserklärung an ihre Mutter zeichnet die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy ein Bild des Grauens von Großbritannien: "Die niedrigsten Renten in Europa treffen bei uns auf die höchsten Kosten für Nahverkehr, Waren, Dienstleistungen. Diese existenzielle Bedrohung betrifft mittlerweile auch Mittelschicht-Menschen, die man früher noch als höflich, leicht christlich angehaucht und in erträglichem Maße bigott eingestuft hätte. Dietrich Bonhoeffer warnte einst davor, dass, wenn wir unsere Schwächsten und Ausgestoßenen nicht verteidigen, uns selbst das Unheil ereilen wird, das sie zuerst erleiden. Großbritannien hat jahrelang Behinderte, Flüchtlinge, Einwanderer, Sinti und Roma, Menschen in Armut, ob mit oder ohne Arbeit, ins Visier genommen. Wir haben sie völlig unzureichend beschützt. Jetzt hat unser Innenministerium Flüchtlingslager eingerichtet, die nach den tiefsten Abgründen der Unmenschlichkeit stinken, während britische Vermieter nicht mehr verpflichtet sind, ihre Häuser für Menschen bewohnbar zu halten."
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Medien

Helmut Hartung resümiert in der FAZ ein Positionspapier der Bundestags-FDP zu den Öffentlich-Rechtlichen. Unter anderem fordert es, "dass sich die Sender auf ihren 'Marken- und Wesenskern', den Bildungs- und Informationsauftrag, konzentrieren. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk müsse durch Fusionen und eine klare Digitalstrategie effizientere Verwaltungs-, Sender- und Angebotsstrukturen aufbauen. Dazu gehöre eine einheitliche Mediathek sowie eine klare Aufgabenverteilung von bundesweiten und regionalen Inhalten innerhalb des Systems." Allerdings appelliert das Papier auch die Bundesländer - wo nun mal in dieser Frage der Hammer hängt.

Außerdem wird der Bau des vom RBB und seiner früheren Intendantin Patricia Schlesinger geplanten Digitalen Medienhauses nun endgültig gestoppt, meldet Claudia Tieschky in der SZ. Noch 2021 wurde mit Kosten von 65 Millionen Euro kalkuliert, Schlesinger hatte zuletzt von 188 Millionen Euro gesprochen, ihre Nachfolgerin Katrin Vernau korrigierte die Zahl gestern auf 311 Millionen Euro, also sogar mehr als ein Intendantengehalt. "Schlesinger-Nachfolgerin Vernau hat bereits vorige Woche 'Kassensturz' beim RBB gemacht und ein Einsparziel von 41 Millionen Euro bis 2024 ausgerufen. Die entscheidende Frage ist jetzt: Wie viel Luft verschafft der Baustopp dem RBB? Da der Bau komplett kreditfinanziert gewesen wäre: Keine, im Gegenteil."
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Kulturmarkt

Die "Sozialistische Verlagsauslieferung" hat Pleite gemacht, berichtet Josef-Otto Freudenreich in kontext. Für kleine und sehr kleine Verlage klingt das wie eine mittlere Katastrophe, denn die "Sova" sorgt dafür, dass ihre Titel noch in den Buchläden zirkulierten. Aber "auch die Linken bestellen heute bei Amazon, kaufen bei Wittwer/Thalia & Co. ein, wo sie die Kleinen meist nicht finden. Zu winzig für die Großen, kein Platz mehr neben der Spiegel-Bestsellerliste. Bürgerliche Auslieferer wie die Stuttgarter Koch, Neff & Oetinger, heute 'Zeitfracht', nehmen die kleinen Chargen nicht mit. Der ökonomische Druck ist gewaltig, Lager-, Papier- und Energiekosten fragen nicht nach der Gesinnung, der Kampf um Aufmerksamkeit wird immer teurer, das Budget der Lesenden geringer." Zu den betroffenen Verlagen gehören zum Beispiel Konkursbuch oder die Edition Tiamat.
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Stichwörter: Buchhandel, Verlagsbranche

Internet

Es hat sich durch die Übernahme von Elon Musk herausgestellt, dass Twitter ein kapitalistisches Unternehmen ist. Nun bleiben nur noch die Alternativen des "Fediverse", des "Universums der föderierten Netzwerke", insistiert der Netzaktivist Ulf Schleth in der taz. Daran mäkeln aber prominente Linke mit Iphone herum. Die Twitter-Alternative Mastodon sei etwas für Nerds, hat Sascha Lobo etwa gesagt. Und "selbst Georg Diez von The New Institute, wo nichtkommerzielle Plattformen gefordert werden, schreibt, Mastodon funktioniere nur 'sehr holprig'. Beides Falschaussagen, aber woher kommen sie? Dezentrale, föderierte Netzwerke funktionieren anders als die bekannten Plattformen, Nachrichten können mal eine Weile brauchen, bis sie rund um die Welt sind, wenn sie nicht auf einem Server liegen." Mastodon, das Lastenfahrrad unter den sozialen Netzen.

Äh, und dann noch diese Meldung, gefunden (über Twitter natürlich) bei axios.com. Musk rudert zurück: "Ye, früher bekannt als Kanye West, wurde von Twitter suspendiert, nachdem er am Donnerstagabend ein Bild mit einem Hakenkreuz in einem Davidstern gepostet hatte, teilte Elon Musk mit."

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Ideen

Michael Angele plädiert im Freitag für eine "Kultur des Schweigens". Dankbar kann man etwa sein, dass sich Peter Handke noch nicht zum Ukraine-Krieg geäußert hat. Es ist natürlich paradox: "Ein Buch, das nicht geschrieben wird, wirft keinen Ertrag ab, ein Leitartikel, der verworfen wird, ist ein großes Ärgernis für den Redakteur, eine Talkshow, der man fern bleibt, ruft den Konkurrenten auf den Plan. Die einzige mir bekannte Ausnahme der Würdigung des Schweigens in der jüngeren deutschen Kulturgeschichte ist der Karl-Kraus-Preis. Immerhin mit 10.000 Euro dotiert, wurde er vom Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza an Autoren verliehen, die sich verpflichten mussten, in ihrem Leben keine einzige Zeile mehr zu veröffentlichen." Nur leider hat sich auch Gremliza nicht dran gehalten.
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Geschichte

Benjamin Kaufmann ist Dichter und Präsident der österreichischen Sektion der LICRA - Ligue Internationale Contre le Racisme et l'Antisémitisme. Bei geschichtedergegenwart.ch liefert er eine Wiener Polemik in bester Karl-Kraus-Tradition. Hintergrund ist ein Brief von neun Holocaust-Überlebenden, unter ihnen Georg Stefan Troller, die die Stadt Wien auffordern, ein monströses Denkmal für den antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger zu entfernen und auch den nach ihm benannten Platz umzubenennen. Der sozialdemokratische Bürgermeister Michael Ludwig, bekennender "Antifaschist", antwortete nicht, und die Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, ebenfalls von der SPÖ aufgestellt, riet, die Auseinandersetzung einer "späteren Generation" zu überlassen. Kaufmann wendet sich auch gegen die Historikerin Heidemarie Uhl, die den "Stachel im Fleisch" erhalten wissen will: "Gemeint ist das Fleisch der österreichischen Mehrheitsgesellschaft; für die jüdischen Perspektiven ist man blind und taub. Uhl spricht im Zusammenhang mit der Forderung nach Entfernung des Ehrenmals von der 'Sehnsucht nach Unschuld und Reinheit' und plädiert dafür, 'die Wunde' offen zu halten. Die Sprache, die hier verwendet wird, ist unverkennbar von katholischem Denken geprägt und alle drei reihen sich damit in die tief katholische Tradition ein, den Schmerz von Jüdinnen und Juden als den eigenen zu fetischisieren. Unsere Wunde. Unser Fleisch. Unser Lueger. Unser Wiener Kulturerbe des Antisemitismus, das wir schützen müssen." Zu Luegers Rolle in der Geschichte schreibt Kaufmann: "Luegers Antisemitismus war nicht, wie gelegentlich behauptet, 'ein Produkt seiner Zeit', hingegen war die Zeit, die auf Lueger folgte, mit ein Produkt seiner Rhetorik."
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