9punkt - Die Debattenrundschau

Euer Mathias

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.03.2023. Solidarität mit der Ukraine? Nicht in Burjatien, Tatarstan, Dagestan, Tschetschenien, Baschkirien, Chabarowsk, Murmansk, Leningrad oder Nischni Nowgorod - ihre Eliten schicken alle mehr Soldaten als gefordert an die Front, erklärt die Kulturjournalistin Irina Rastorgujewa in der FAZ. In der NZZ warnt Sergei Gerassimow vor einer Diskriminierung russischer Kultur in der Ukraine: Sonst werden wir nach dem Sieg einen Bürgerkrieg haben. ZeitOnline erklärt die politische Bedeutung traditioneller Medizin in China. Springer machte 2021 rund eine dreiviertel Milliarde Euro Gewinn, wird aber Journalisten aus Kostengründen entlassen, berichten FAZ und SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.03.2023 finden Sie hier

Europa

Solidarität mit der Ukraine findet sich in den Mitgliedsstaaten der Russischen Föderation, deren Eliten vollständig von der Zentralregierung in Moskau abhängen, nirgends, erklärt die Kulturjournalistin Irina Rastorgujewa, auf der Insel Sachalin geboren, in der FAZ. Wie zu sowjetischen Zeiten schicken sie Soldaten, um für Russland zu töten und zu sterben: "Kann man von Mord am eigenen Volk sprechen, wenn die Eliten dieses Volks die Täter sind? Wird Genozid an der eigenen Bevölkerung zum nationalen Suizid? Die Burjaten werden von Alexej Zydenow, einem Politiker von 'Einiges Russland', in den Krieg geschickt, der laut Wahlergebnis 88,06 Prozent der Stimmen erhielt, und das am 11. September 2022, als die 'Spezialoperation' bereits ein halbes Jahr dauerte. Die Rossijskaja Gaseta berichtet, die burjatischen Einwohner hätten den Wahltag zum 'Fest der Einheit der Völker' gemacht, seien in Massen in ihren Nationaltrachten zu den Wahllokalen gekommen. In der Zwischenzeit kehrten die Burjaten massenhaft in Särgen von der Militäroperation zurück." Und doch: "Wenn wir von Völkermord sprechen, dann nur in Bezug auf das ukrainische Volk, und der wurde von allen Subjekten der Russischen Föderation begangen: Tatarstan, Dagestan, Tschetschenien, Baschkirien, Burjatien sind ebenso schuldig wie die Gebiete Chabarowsk, Murmansk, Leningrad oder Nischni Nowgorod. Sie alle verwüsten mit ihren Truppen das weit westlich liegende Land, das einmal wie sie Unionsrepublik war, und töten dessen Bewohner."

In seinem Kriegstagebuch aus Charkiw für die NZZ versteht Sergei Gerassimow die Welt oder zumindest seine Stadt nicht mehr: Russische Namen werden aus dem Stadtplan gestrichen, Theater melden ihr Repertoire nicht mehr, sofern es um russische Dramaturgen gibt, Buchhandlungen bieten keine russische Literatur mehr an. "Die Leute, die so etwas tun, helfen Putin in mehr als einer Hinsicht." Denn "je dümmer wir gegen die russische Sprache und Kultur ankämpfen, desto einfacher ist es für Putin, neu ausgehobene Soldaten zu motivieren. ... Je dümmer wir uns aufführen, desto weniger Menschen unterstützen uns in der zivilisierten Welt und desto mehr Menschen denken, dass die Ukrainer die Bösen in diesem Krieg sind." Und "wenn wir den Donbass befreien, müssen wir es schaffen, uns mit den dort lebenden Menschen zu verbünden, und die meisten von ihnen sprechen Russisch, sind in der russischen Kultur aufgewachsen und haben mittels Hirnwäsche gelernt, alles Ukrainische zu hassen. Wenn wir uns wie Idioten benehmen, werden wir hier nach dem Sieg über Putins Russland einen Bürgerkrieg haben."

Zwischen 500.000 und einer Million Russen haben ihr Heimatland im Laufe des Kriegs verlassen, schreibt die russische Journalistin Angelina Dawydowa im 10nach8 Blog von ZeitOnline. "Nicht alle, die Russland verlassen haben, stehen dem Krieg offen kritisch gegenüber. Die Menschen sind aus unterschiedlichen Gründen gegangen. In der ersten Ausreisebewegung verließen einige, darunter kritische Journalist:innen, Oppositionspolitiker:innen und Aktivist:innen aus der Zivilgesellschaft, das Land aus einem Gefühl der persönlichen Sicherheit und weil sie ihre Arbeit nicht fortsetzen oder sich in Russland nicht frei äußern konnten. Andere, darunter Tausende von IT-Spezialist:innen, weil ein in Russland registriertes Unternehmen oder ein Start-up keine Zukunft in der Zusammenarbeit mit westlichen Ländern hat. So verlagerte ein Studienkollege von mir sein Unternehmen, das 200 Mitarbeiter:innen beschäftigt, in die Türkei. Einige andere sahen für ihre Kinder keine Zukunft im heutigen Russland und wollten nicht, dass ihre Kinder die staatlichen Schulen besuchen und dort staatliche Propaganda und verdorbenen Geschichtsunterricht lernen."
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Politik

In einem interessanten Artikel auf ZeitOnline erzählt Franka Lu von der politischen Bedeutung traditioneller Medizin in China. Während der Corona-Pandemie wurde beispielsweise das Medikament Lianhua Qingwen in großem Maßstab verschrieben, in manchen Städten war die Einnahme verpflichtend, die Medikamente mussten zu einem bestimmten Zeitpunkt eingenommen und ein Video der Einnahme an die Bezirksverwaltung geschickt werden. Wirkung und Nebenwirkungen sind unbekannt. Präsident Xi Jinping bezeichnete die TCM wiederholt als "Chinas Schatz" und forciert ihren Einsatz: "Xi ist da keine Ausnahme, fast alle kommunistischen Anführer Chinas haben die Verbreitung von TCM in der Vergangenheit gefördert. Es gibt einen praktischen Grund dafür: Eine moderne pharmazeutische Industrie gab es früher nicht in China, und ein entsprechendes Gesundheitssystem war in den ersten 50 Jahren der kommunistischen Parteiherrschaft einfach zu teuer. Die Herstellung von TCM war stets deutlich günstiger als der Import oder Lizenzierung westlicher Medikamente, und die Einnahme und Benutzung von TCM boten denjenigen Kranken, die keinen Zugang zu herkömmlichen Arzneimitteln und Behandlungsmethoden hatten, zumindest Trost: Etwas wurde getan gegen ihre Erkrankungen. Der einstige Leibarzt Mao Zedongs hat einmal verraten, dass Mao selbst selten TCM nutzte, aber unterstützt hat der große Anführer ihre weitere Popularisierung in China doch. Bei seinen Nachfolgern sah es ähnlich aus, auch wenn sie sich meistens von den besten im Westen ausgebildeten Ärzten behandeln ließen."

Eine jüngste Umfrage des European Council on Foreign Relations offenbart einen eklatanten Unterschied zwischen dem Blick der westlichen Länder und dem der übrigen Welt auf Russland, schreibt Susi Dennison, Senior Policy Fellow beim ECFR, in der Welt. So halten etwa die meisten Befragten in China, Indien und der Türkei Russland nach wie vor für einen "Partner" des eigenen Landes. "Die wohl markanteste Differenz offenbart sich jedoch bei der Frage, wie die Bürger den Zustand der Welt und die künftige internationale Ordnung sehen. Hier im Westen zeigt sich, dass das Erbe des Kalten Krieges weiterlebt und die öffentliche Meinung weiterhin prägt. Man ist der festen Überzeugung, dass wir in eine bipolare Welt eintreten, in der die Vereinigten Staaten beziehungsweise China das Sagen haben. In anderen Ländern, insbesondere bei aufstrebenden Mächten wie Indien und der Türkei, wird diese Ansicht jedoch nicht so stark geteilt. In diesen beiden Fällen sehen die Befragten ihr eigenes Land als einen erstarkenden Akteur auf der internationalen Bühne - und prognostizieren ihrerseits die Entwicklung einer multipolaren Weltordnung, die auf zahlreiche Machtzentren verteilt sein wird. In einem solchen Szenario wäre der Westen nur ein Pol unter vielen, und er wäre damit weder der bestimmende Ordnungsfaktor noch die leitende Kraft globaler Demokratie." Dennison rät westlichen Führern zu "Demut" gegenüber diesen Ländern.
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Urheberrecht

Erinnert sich noch jemand an die Jahre als die Zeitungen für ein fast uferloses Urheber- bzw. Verwertungsrecht trommelten, als sei es das Fundament der westlichen Zivilisation (mehr dazu hier)? Bis zu 70 Jahre nach dem Tod des Autors gilt es. Das hat tatsächlich auch Nachteile, zum Beispiel für die Wissenschaft, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Hendrikje Schauer jetzt in der FAZ, zum Beispiel wenn Erben das Bild des Autors nicht gefähren wollen und Briefe nicht freigeben. "Wer Unveröffentlichtes von Martin Heidegger drucken will - ob eine ganze Edition oder einen prägnanten Satz -, braucht das Einverständnis der Rechteinhaber. Und so beginnt spätestens nach Fertigstellung historischer Arbeiten ein Ritual, das ob seiner Peinlichkeit oft verschwiegen wird: eine mühselige Überzeugungsarbeit, nicht selten ein Scharwenzeln, Katzbuckeln und Lieb-Kind-Machen. Professorinnen, Lektoren, Betreuerinnen und Unterstützer telefonieren mit Erben. Dinner-Einladungen werden ausgesprochen, viel Kaffee wird getrunken: alles im Dienst einer Publikationsgenehmigung. In ihrer Entscheidung sind die Rechteinhaber, wenn nicht bereits Festlegungen getroffen sind, frei. Kritischen Darstellungen und Debatten können sie ohne Benennung von Gründen die Beleglage entziehen." Schauer fordert eine Reform des Paragraph 51 des Urheberrechtsgesetzes, damit künftig auch aus unpublizierten Werken zitiert werden darf.
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Kulturpolitik

Im großen FR-Interview mit Lisa Berins macht sich SPK-Präsident Hermann Parzinger keine Sorgen, dass die Benin-Bronzen in Nigeria nicht ausgestellt werden oder gar verschwinden könnten, wie die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin gestern in der FAZ befürchtete (unser Resümee). Vielmehr sollen weitere Objekte an Namibia restituiert werden, sagt er. Parzinger kommt auch auf die Ukraine zu sprechen: Es sei inzwischen eindeutig, dass Russland in der Ukraine gezielt Kulturgüter zerstöre, zudem werde in großem Maße geplündert: "In Melitopol ist ein berühmter skythischer Grabfund mit etlichen Goldobjekten verschwunden, die Museumsverantwortlichen sollen angeblich zeitweise verschleppt worden sein. Genaues weiß ich dazu nicht, und mir ist auch nicht klar, ob Russland das Skythengold als eine Art Trophäe behalten will. Bei vielen anderen geplünderten Objekten muss man damit rechnen, dass sie auf den illegalen Kunstmarkt gelangen. Es ist eine ähnliche Situation, wie wir es beim sogenannten Islamischen Staat in Syrien erlebt haben; auch dort sind wertvolle archäologische Objekte aus Raubgrabungen in den illegalen Handel gelangt. Vor einigen Monaten hat der britische Zoll übrigens einen Schatz mit mittelalterlichen Objekten beschlagnahmt, die ganz offensichtlich aus der Ukraine stammen."
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Medien

100 Millionen Euro will Axel Springer in den kommenden drei Jahren bei Bild und Welt einsparen, unter anderem wird der Zustellservice von Bild am Sonntag und Welt am Sonntag eingestellt, auch von Stellenabbau ist die Rede, entnimmt Anna Ernst in der SZ einer mit "Euer Mathias" unterschriebenen internen Mail von Mathias Döpfner. Geplant ist ein "Digital Only"-Unternehmen der Zukunft, man müsse sich darauf einstellen, dass Print eingestellt werde, so Döpfner. "Wer selber kündigen möchte, darf auf eine Abfindungen hoffen, wenn der Verlag ihn gehen lassen will," weiß Ernst. "Der SZ liegen Auszüge der Mitarbeiter-Fragen vor, die am Dienstag bei einer digitalen Konferenz im Chat vorgebracht wurden. 'Bild ist in wichtigen Ressorts extrem unterbesetzt. Wie passt das noch zusammen mit qualitativem Journalismus?', fragt dort ein Mitarbeiter Richtung Chefredaktion der Bild. Es gebe kaum mehr Zeit für exklusive und investigative Recherchen, man sei mit den Kräften am Ende. Boie sieht die 'Herausforderungen' an anderer Stelle: 'Jede und jeder hier muss sich fragen: Bin ich schon fit für diese Zukunft? Wo kann ich dazulernen? Was fehlt mir?'"

In seinem Brief sagt Döpfner auch, dass "Künstliche Intelligenz das Potenzial hat, den unabhängigen Journalismus besser zu machen als er je war - oder ihn einfach zu ersetzen", berichtet Jonathan Yerushalmy im Guardian. Was er genau sagte, war allerdings, dass Bots bestimmte Fleißrecherchen oder Archivrecherchen besser können, nur Journalisten dagegen Beweggründe verstehen, so die FAZ: "Das ist das Pathos, mit dem Döpfner gerne formuliert. Doch sind die hehren Ziele bei ihm mit knallharten Gewinnerwartungen verbunden, die sich vor allem auf den amerikanischen Markt richten, in dem Döpfner mit Springer zur Weltmarke wachsen will. Und das, obwohl die Zahlen stimmen: 3,9 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2021, rund eine dreiviertel Milliarde Gewinn. 18.000 Mitarbeiter hat Springer, davon sind 3400 Journalisten. Bei Bild und Welt stehen ihnen sehr ungemütliche Zeiten bevor. Den Kollegen bei Gruner + Jahr haben sie aber immerhin eines voraus: Ihr Oberboss glaubt an den Journalismus. Der Bertelsmann-Chef beerdigt ihn gerade."

Wird dieser Murdoch-Skandal größer als der um die illegalen Telefon-Überwachungen vor einigen Jahren? Murdochs amerikanisches Sender-Imperium Fox ist von der Firma Dominion Voting auf Schadenersatz verklagt worden, weil einige Moderaten Trumps Wahlfälschungslüge weiterverbreiteten und damit auch den Ruf der Firma schädigten. Murdoch musste in dem Prozess aussagen, berichtet unter anderem Ed Pilkington im Guardian: "Unter starkem Druck der Anwälte von Dominion gab er zu, dass mehrere Moderatoren von Fox News - Lou Dobbs, Maria Bartiromo, Jeanine Pirro und Sean Hannity - die Lüge unterstützt hatten, dass die Präsidentschaftswahlen 2020 Trump gestohlen und Joe Biden zugesprochen worden seien. 'Einige unserer Kommentatoren haben das gebilligt', sagte er. 'Ja, sie haben es gebilligt.' Murdoch versuchte, einen Unterschied zwischen den Moderatoren - 'Kommentatoren', wie er sie nannte -, die falsche Behauptungen über Wahlbetrug aufstellten, und Fox selbst zu machen. Aber in anderen Teilen seiner niederschmetternden Aussage gab er zu, dass er Wahlleugner wie Rudy Giuliani nicht aus dem Sender nahm, obwohl er die Macht dazu hatte." In der taz hofft Steffen Grimberg, dass Murdoch diesmal so verliert, dass es wehtut: "Dominion fordert 1,6 Milliarden Dollar von Fox beziehungsweise Murdoch wegen Verleumdung. Dass erstmals überhaupt so ein Fall vor Gericht zugelassen wurde - die Hauptverhandlung soll im April beginnen -, ist eine gute Nachricht. Möge Rupert verlieren! Eine solche Summe zahlt selbst er nicht mal eben aus der Portokasse."
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