9punkt - Die Debattenrundschau

Abhängigkeit einer vernetzten Gesellschaft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.03.2023. In der FAZ fragt Wolfgang Kleinwächter, welche Auswirkungen Cyberwaffen auf künftige Kriege haben werden und wer dabei alles Akteur sein kann. In der SZ fürchtet der israelische Historiker Tom Segev, Netanjahu könnte einen Krieg anzetteln, um seine Macht zu erhalten. Die Berliner Zeitung erinnert daran, dass der Begriff "Kulturschaffende" von den Nazis erfunden wurde. KI wird nie Verantwortung übernehmen, warnt in der FR die Philosophin Judith Simon. Und: Deutschland hat seine CO₂-Ziele übererfüllt. Könnten wir uns nicht mal ganz kurz freuen, fragt Spon.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.03.2023 finden Sie hier

Europa

Im russisch-ukrainischen Krieg kommen auch Cyberwaffen zum Einsatz: DOS-Attacken, Drohnen, internetgestützte Waffensysteme. Dabei mischen zum Teil auch private Akteure mit. Das wirft ganz neue Rechtsfragen auf, erklärt Wolfgang Kleinwächter, emeritierter Professor für Internetpolitik und Regulierung an der Universität Aarhus, in der FAZ: "Wem können Angriffe zugeordnet werden? Was ist mit der staatlichen Verantwortung? Wie kann verhindert werden, dass es zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Hackern mit ehrenwerten Motiven und Kriminellen kommt?" Und welche Rolle spielen transnationale Unternehmen wie Microsoft oder Starlink? Außerdem sind Cyberattacken nicht mehr territorial begrenzbar: "Der russische Cyberangriff auf Satellitenkommunikationssysteme, die die Ukraine versorgen, hatte Konsequenzen für den Betrieb von Windrädern in Deutschland. Russische Hacker haben alle Länder, die Waffen in die Ukraine liefern, ins Visier genommen. Und wie wir von dem Hackerangriff mit der Software 'NotPetya' aus dem Jahr 2017 wissen, kann ein Cyberangriff auf ein Elektrizitätswerk in der Ukraine zu Milliardenschäden rund um den Globus führen. Aus der wechselseitigen Abhängigkeit einer vernetzten Gesellschaft kommt die Menschheit nicht mehr heraus."

Auf ZeitOnline nimmt Thomas Assheuer die Rhetorik von Wagenknecht-Linker und nationaler Rechter auseinander, die den Ukraine-Krieg für ihre Systemkritik am Liberalismus nutzen: "Kein Zweifel, es ist die westliche Doppelmoral, die den naturbelassenen Antiamerikanismus von Höcke und Wagenknecht mit empirischem Material versorgt. Doch ausgerechnet Wagenknechts Parteigenosse Paul Schäfer zeigt, wie man es vermeidet, im Ukraine-Krieg daraus die falschen, nämlich moralisch obszönen Schlüsse zu ziehen. Schäfer kennt das westliche Sündenregister auswendig, auch er klagt über Amerikas Scheinheiligkeit und verweist auf die oft ebenso unkluge wie herablassende Haltung europäischer Politiker gegenüber der Russischen Föderation. Der größte Fehler der Nato-Mitgliedstaaten sei es gewesen, dass sie es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion versäumt hätten, zusammen mit der OSZE eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu entwickeln. Doch all die Versäumnisse, Kränkungen und Unterlassungen änderten nichts am wahrhaft Ungeheuerlichen: 'Kriegerische Gewalt', so Schäfer in seinem Aufsatz über 'Das Elend linker Legenden', ging 'ausschließlich von Russland aus', auch wenn Putins hierzulande gern nacherzählten Geschichtsfälschungen etwas anderes behaupteten."

Dass ukrainische Flüchtlinge in Deutschland so bereitwillig aufgenommen werden, kann für Daniel Bax in der taz nur einen Grund haben: Rassismus. Auch wenn er zugibt, dass diesmal "vor allem Frauen und Kinder nach Deutschland kommen und sie vor einem Krieg in der Nähe fliehen", und dies auch ein Grund sein könnte.
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Politik

El Salvadors Präsident Nayib Bukele lässt Bilder von Bandenhäftlingen verbreiten, die schockieren, aber nicht zu Protesten führen, berichtet Wolf-Dieter Vogel in der taz. Wie Bruthennen würden Tausende Maras (Bandenmitglieder) im salvadorischen Hochsicherheitsgefängnis "Cecot" gehalten. "Dass mindestens 3.000 der insgesamt 63.000 festgenommenen Männer unschuldig hinter Gitter saßen, Menschenrechtsverteidiger*innen schwere Vorwürfe wegen Folter und Morden in Justizgewahrsam erheben, stört Bukele nicht. Seit er vor einem Jahr seine Offensive gegen die Maras startete, hat die Zahl der Morde in dem bis dato extrem gefährlichen Land stark abgenommen. Und nur das zählt, denn fast jede Familie hat unter dem Mara-Terror gelitten. Umfragen zufolge stehen bis zu 90 Prozent der Bevölkerung hinter dem Präsidenten, der sich mit Basecap, lockerer Kleidung und Bitcoin-Deals gerne als cooler Typ gibt."

Die Demokratie in Israel ist noch nie in solcher Gefahr gewesen, sagt der Historiker Tom Segev im SZ-Gespräch mit Alexandra Föderl-Schmidt. Er traut Netanjahu sogar einen Krieg zu, um seine Macht zu erhalten: "Die jetzige Regierung hat die Macht, aber Netanjahu leitet sie nicht. Er wird von ihr geleitet. Ich könnte mir vorstellen, dass er auf die Idee kommt, eine militärische Aktion nicht zu vermeiden oder zu begehen. Wenn es scheint, dass die israelische Gesellschaft auseinanderfällt, dann kommt ein Krieg und rettet unsere Einigkeit."
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Ideen

In der Berliner Zeitung erinnert Harry Nutt jene, die den Begriff des "Kulturschaffenden" wegen seiner Genderneutralität und vermeintlichen Inklusivität so gern nutzen, an dessen Herkunft: Der Begriff gehe, so die Historikerin Isolde Vogel, "auf die nationalsozialistische Reichskulturkammer zurück, die diesen von 1933/34 an neu geprägt habe, indem sie alle in der Kultur Tätigen als Kulturschaffende bezeichnete, die sich ihr sogleich anschließen sollten. 'Wer ab diesem Zeitpunkt in der Kultur tätig sein wollte, musste eben auch Mitglied der Reichskulturkammer sein.' Der Zwangsmitgliedschaft auf der einen Seite stand der Ausschluss der Juden auf der anderen gegenüber. (…) Nach 1945 schien sprachliche Sensibilität besonders vonnöten, weshalb der Schriftsteller Wilhelm Emanuel Süskind das Gerundivum Kulturschaffende in das 'Wörterbuch des Unmenschen' (...) aufnahm. Das jedoch schien in der bald darauf entstehenden DDR niemanden zu beeindruckenden. Weil das Wort zur Ausbildung einer proletarischen Existenz gut geeignet schien, siedelte es kurzerhand in den Jargon des sozialistischen Staates über."

Außerdem: In der FR erinnert der Philosoph Max Beck an Theodor W. Adornos vor sechzig Jahren gehaltenen Vortrag "Der Jargon der Eigentlichkeit".
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Internet

"Künstliche Intelligenz muss ein Werkzeug bleiben, über das der Mensch die Kontrolle behält" - das ist die wesentliche Botschaft, die Andrian Kreye in der SZ aus dem 287seitigen Papier des Deutschen Ethikrats zu den Herausforderungen der KI mitgenommen hat. Probleme dürfte es künftig nicht nur bei Urheberrechtsfragen, sondern ganz allgemein bei Fragen der Verantwortung geben, meint Kreye: "Weil man nach den Kriterien des Ethikrats davon ausgehen müsste, dass eine KI immer nur ein Werkzeug ist und somit alle Dinge, die ein Mensch damit schafft, auch das Werk dieses Menschen sind, egal wie einfach die Maschine den schöpferischen Akt gemacht hat. Was dann sofort die Frage nach sich zieht - wenn die Maschine die Rechte für so ein Werk hat, beziehungsweise diese Rechte einfach ausgehebelt werden, wer trägt dann die Verantwortung? Kehrt man zum KI-Bericht des Ethikrats zurück, stellt sich dann die Frage, wird KI in der Medizin eingesetzt, trägt sie dann auch einen Teil der Verantwortung für die Behandlung? Kann man einen Computer auf Kunstfehler verklagen?"

"Wir sind zu dem Schluss gekommen: Im engen Sinne können Maschinen nicht handeln und dementsprechend auch keine Verantwortung übernehmen", betont die Philosophin Judith Simon, Mitglied des Ethikrats, entsprechend im FR-Gespräch mit Lisa Berins, in dem sie auch Vermutungen darüber anstellt, welche Jobs durch KI wegfallen könnten: "Der Journalismus wird sicher unter Druck geraten, da KI gerade standardisierte Texte schneller und somit billiger als menschliche Redakteurinnen und Redakteure verfassen kann. In allen Bereichen, in denen eine gewisse Standardisierung eine Rolle spielt, in denen nach bestimmten Schemata gearbeitet wird, ist KI ein Gamechanger: bei Vertragsprüfungen etwa - aber auch in der Kulturproduktion. Krimis, TV-Serien - die laufen nach bestimmten Mustern ab. Und KI ist nun mal ziemlich gut darin, Muster mit leichten Variationen zu reproduzieren."
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Gesellschaft

Der neue Klimareport ist raus und alle klagen. Dabei hat Deutschland seine CO₂-Ziele übererfüllt. Auf Spon versteht Nikolaus Blome die Welt nicht mehr. "Niemand Ernstzunehmendes leugnet den Klimawandel, aber zählt nicht erst einmal, wie viel CO₂ insgesamt ausgestoßen wird? Oder ist CO₂ immer dann schlimmer, wenn und weil es aus dem Verantwortungsbereich eines FDP-Ministers stammt? Kurzum: Mir ist der Eifer nicht geheuer, mit dem die Zahlen in eine vollumfängliche Versagenserzählung gepresst wurden." Selbst die Einsparungen der Industrie würden runtergeredet, seien sie doch nur kriegsbedingt: "An dieser Stelle habe ich mich gefragt, was die Klimaschützer und ihre politmedialen Milieus eigentlich wollen: Es war doch die ganze Idee, CO₂-überproduzierendes Verhalten aus dem Markt zu preisen, sei es durch höhere Steuern, Abgaben oder die Verteuerung der Emissionsrechte. Nun hat es der Krieg gefügt, und die Preise werden trotz aller Bremsen auch darüber hinaus viel höher als früher bleiben. Vergleichbares hätte die neue Bundesregierung niemals geschafft". Man könne das Glas aus motivationstechnischen Gründen ja auch mal halb voll, statt halb leer nennen, findet Blome.

In Berlin findet am Sonntag der Volksentscheid "Berlin 2030 Klimaneutral" statt, in dem der Stadt gar nicht einzuhaltende "Klimaschutzverpflichtungen" abverlangt werden. Sollte das Vorhaben durchkommen, ist das vor allem eine Niederlage der Demokratie, meint Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten: "Der Demos hat sich einer 'Weisheit' der Wenigen unterzuordnen. Denn der Demos habe seine Rechte verwirkt, weil er in einer Ansammlung egoistischer 'Partikularinteressen' Ressourcen rücksichtslos verbraucht und emittiert hat. Aus berechtigter ökologischer Kritik glauben nun Aktivisten das Recht ziehen zu können, ohne angemessene demokratische Legitimation, nämlich aus Minderheitsvolksentscheiden und wie auch immer genannten 'Räten' und Aktionen, eine sogenannte 'fortschrittliche' Politik zu installieren, die unser Fundament aus Verfassung inklusive Grundsätzen, Werten und geschützten Freiheiten unterminiert."
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Medien

In der SZ kann der Staatsrechtler Christoph Möllers die Entscheidung des Berliner Landgerichts, die Veröffentlichung durch die von der Akademie der Künste herausgegebene Zeitschrift Sinn und Form vorläufig zu untersagen (Unsere Resümees), nicht nachvollziehen: "Die Akademie ist eine politisch unabhängige sich selbst verwaltende Körperschaft mit einem gesetzlich vorgegebenen, aber offenen ästhetischen Auftrag. 'Staat' ist sie nicht mehr als eine öffentliche Universität, die sich sogar auf Grundrechte berufen kann. Der freie politische Willensbildungsprozess ist durch die Zeitschrift nicht gefährdet. Was aber ist mit der Pressefreiheit vermeintlicher Wettbewerber? Ihr Geschäft könnte erschwert werden. Die Prüfung eines tatsächlichen Konkurrenzverhältnisses zwischen Sinn und Form und Lettre International wurde in der Entscheidung aber eher unterstellt als belegt. Zudem schafft nicht jede Erschwerung des Wettbewerbs einen Eingriff in die Pressefreiheit."
Archiv: Medien