9punkt - Die Debattenrundschau

Nichts weiter als eine Romantik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2024. Die historischen Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen stehen an, die Zeitungen können über fast nichts anderes nachdenken. Die taz hofft, dass man den Lack am BSW abkriegt, wenn man es an den Regierungen beteiligt. Aber die AfD bindet stärkere publizistische Energien. Mehrere Artikel zeigen, welchen verheerenden Einfluss die AfD kulturpolitisch in den Neuen Ländern jetzt schon hat. Alles in allem mag eine Intervention Ian Burumas in der Welt helfen, der Linken dringend rät, vom Woken Abschied zu nehmen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.08.2024 finden Sie hier

Europa

Arne Semsrott vom Informationsfreiheitsportal "Frag den Staat" sieht sich als linker Prepper, und fast meint man im taz-Gespräch, das Gareth Joswig mit ihm führt, so etwas wie eine freudige Erregung zu spüren, mit der er sich jetzt auf den "Widerstand" gegen eine bald bevorstehende "Machtübernahme" der AfD vorbereitet. Er setzt dabei zum Beispiel auf die Gewerkschaften: "Sie sollten sich politische Streiks wieder zu eigen machen und sich anschauen, wie man etwa einen Generalstreik organisiert. Auch so etwas kann die Machtübernahme der AfD behindern. Und an der Basis der Gewerkschaften gibt es großen Druck, dass man kämpferischer auftreten solle." Das Argument, dass viele Arbeiter für die AfD sind, stört ihn nur halb: "Die Gewerkschaft der Polizei etwa hat einen Unvereinbarkeitsbeschluss zur AfD. Das ist genau der richtige Weg, um zu zeigen: Wer AfD wählt, ist arbeitnehmerfeindlich." Das BSW mit seinem durchgeknallten Putinismus wird in dem Gespräch nicht mal als Gefahr angesprochen.

Über das BSW denkt in der taz der Politikredakteur Stefan Reinecke nach. Allzu großen Schrecken empfindet er nicht: "Der Aufstieg des BSW ist Teil einer Art Italienisierung des deutschen Parteiensystems: Die beiden tragenden Säulen Union und SPD verlieren in einem langsamen Prozess ihre zentrale Stellung. Situative EmpörungsunternehmerInnen wie Wagenknecht sind im Aufwind. Der Osten mit seinen losen Parteibindungen ist da Trendsetter." Als "links" will Reinecke das BSW nicht sehen: "An der Stelle der Ausgeschlossenen aus dem kapitalistischen System adressiert sie nun 'die Fleißigen'. Die sind ein Synonym für den biodeutschen 'kleinen Mann', der sich vom Gendern und von Migranten, von globalen Konzernen und grünen Eliten bedroht fühlt. BSW appelliert so an die 'alte Mitte' (Andreas Reckwitz), an Handwerker, Kleinunternehmer und Facharbeiter, die sich vom Zentrum an den Rand geschoben fühlen." Den Putinismus des BSW spricht Reinecke nicht an, der hofft, dass der Lack an der BSW abgeht, wenn man sie an Regierungen beteiligt.

Die immer stärkere Hinwendung vieler Ostdeutscher zum Rechtsextremismus deutet der Politologe Hans Vorländer in der FAZ als eine Art Rache "angesichts der Deutungsmacht der etablierten, westdeutsch geprägten audiovisuellen Medien." Man sah sich als Opfer "einer asymmetrischen Konstellation, die als wenig wertschätzend und übergriffig gegenüber den Befindlichkeiten ostdeutsch sozialisierter Menschen empfunden wurde. Auch der mit der Vereinigung vollzogene Elitenaustausch in Wirtschaft und Politik wurde weitgehend so erfahren. Eine Kanzlerin Merkel und ein Bundespräsident Gauck änderten nichts an dieser Wahrnehmung, im Gegenteil, wurden sie doch als Teil des politischen Establishments gesehen."

Robert Putzbach und Alona Savchuk berichten in der FAZ über einen selten thematisierten Aspekt von Putins Krieg gegen die Ukraine, die Verschleppung von Zivilisten aus besetzten Gebieten: "Nach ukrainischer Zählung werden mehr als 16.000 Zivilisten vermisst. 1.800 davon sind inhaftierte Zivilpersonen, deren Identität und Aufenthaltsort den Behörden bekannt sind. Beide Zahlen sind vermutlich aber viel zu niedrig. Denn aus besetzten und völlig zerstörten Städten wie Mariupol gibt es keine verlässlichen Angaben. Außerdem vermeiden manche Angehörige den Kontakt zu Menschenrechtsgruppen, weil sie fürchten, damit alles noch schlimmer zu machen. Anastasija Pantelejewa von der Nichtregierungsorganisation Media Initiative for Human Rights (MIHR) schätzt, dass die tatsächliche Häftlingszahl fünf bis sieben Mal höher liegen könnte."
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Politik

Im Welt-Gespräch mit Paolo Mastrolilli begrüßt Ian Buruma, Ex-Chefredakteur der New York Review of Books, dass Kamala Harris beim Parteitag der Demokraten auf "woke" Themen verzichtete. Die Verlagerung des Fokus der Linken von der Arbeiterklasse auf kulturelle und soziale Themen sei ein Fehler gewesen: "Das jedoch ist nicht nur ein amerikanisches Phänomen, sondern auch ein europäisches. Wenn man sich die Ursachen für den Niedergang der alten linksgerichteten Parteien in Italien, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden vor Augen führt, so liegt die Hauptursache darin, dass man von der gewerkschaftlichen Linie und den Interessen der Arbeiterklasse abgewichen ist und sich sozialen und kulturellen Themen wie Rassismus, Sexualität und Gender zugewandt hat. Das ist zwar verständlich, da das westliche Industrieproletariat geschrumpft ist und für die linken Parteien nicht mehr ausreichte, um Wahlen zu gewinnen. Diese Entwicklung hat ihnen jedoch auch geschadet. (...) Ein Großteil der extremen Hysterie ist ein Phänomen der Eliten, das die Universitäten, Verlage, Museen und die Kulturwelt in den großen Städten betrifft und von der New York Review of Books verkörpert wird. Doch diese Welt ist sehr klein. Das haben Harris und die Demokraten erkannt."

Der Jerusalemer Rechtsprofessor Mordechai Kremnitzer legt in der FAZ einen Friedensplan für Israel und die Palästinenser vor, der "folgende Elemente enthalten würde: einen stabilen Waffenstillstand an beiden Fronten, die Ablösung der Hamas durch eine andere Regierung im Gazastreifen, ein Friedensabkommen zwischen Israel und den Palästinensern auf Basis der Zwei-Staaten-Lösung, die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien sowie anderen arabischen und muslimischen Staaten." Als Haupthindernis für diesen Plan sieht Kremnitzer die Tatsache, "dass Israel jedwede Verständigung mit den Palästinensern ablehnt. Diese Haltung ist bedauerlich."
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Gesellschaft

Nicht jeder, der aus einem muslimischen Land kommt, ist auch Muslim, hält der in Teheran aufgewachsene Schriftsteller Amir Gudarzi in der SZ wütend über die Pauschalisierungen von rechter wie von linker Seite fest: Es gibt auch sehr viele Atheisten im Nahen Osten. Vor allem ärgert ihn, dass viele Linke beim Islamismus ihre Fähigkeit zur Kritik verlieren: "Dass sich auch Muslime von der Religion lösen und sie kritisch sehen können, kann man sich auch innerhalb der Linken oft kaum vorstellen. Man scheint davon auszugehen, dass die islamische Religion identitätsstiftend, die Zugehörigkeit unveränderlich sei. Diese Sichtweise ist gar nicht so weit entfernt von der Zuschreibung der Rechten, in deren Verständnis Menschen aus entsprechenden Ländern quasi 'genetisch', also für immer Muslime seien und damit - ebenso 'genetisch' - Kriminelle und Terroristen. Beides ist rassistisch." Zwischen diesen "Versäumnissen der Politik, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit der Rechten und der Unfähigkeit der Linken, Kritik zu üben, fischen nun die Islamisten. ... Seit jeher nutzen sowohl die Organisationen des politischen Islam, als auch terroristische Gruppen wie der IS die Marginalisierung und Ausgrenzung von Menschen, um sie zu radikalisieren. Auch wenn die Muslime in Europa zumeist mehr Freiheit und Rechte haben als in islamischen Ländern, bedienen die Islamisten gerne ein bestimmtes Narrativ: Ihr werdet rassistisch behandelt, weil ihr Muslime, nicht weil ihr Migranten seid."
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Kulturpolitik

Die geplante Resolution des Bundestags gegen Antisemitismus in den Institutionen wird nicht ohne Widerstand durchgehen. Gestern veröffentlichte eine ganze Reihe von Kulturinstitutionen von Kampnagel, über die Akademie der Künste, lit.COLOGNE und andere einen Gegenappell. Auffällig ist bei der Liste der Erstunterzeichner allerdings, dass die Front bei weitem nicht so breit ist wie seinerzeit beim "Weltoffen"-Aufruf, in dem fast die gesamte Creme besonders vom Bund geförderter Kulturinstitutionen versammelt war. Auffällig ist bei dem neuen Aufruf auch, dass statt dessen dezidiert antiisraelische Stimmen wie die "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost" dabei sind. Man gibt seiner "großen Sorge" Ausdruck, dass Positionen, die einen Boykott Israels fordern, nun selbst nicht mehr unter dem Zeichen der Meinungsfreiheit inkludiert werden können sollen. Die geplante Resolution "Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken" kollidiere mit dem Grundgesetz und "bringt eine mannigfaltige Rechtsunsicherheit, zweifelhafte Praktikabilität und die Gefahr der Diskriminierung mit sich. Durch die autoritative Verwendung der sehr weitreichenden und gleichzeitig unscharfen IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument, sowie durch die unklare Frage faktischer Bindung einer Bundestags-Resolution, droht sie enorme Verunsicherung mit sich zu bringen und zum Verstummen jener Stimmen zu führen, die durch entsprechende Ansätze geschützt werden sollen. Ein immenser Schaden für unsere Demokratie wäre die Folge."

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Der Kulturkampf der AfD besteht darin, kulturelle Fragen mit negativen Emotionen aufzuladen und zu Existenzfragen zu machen, erklärt im FR-Gespräch die Politologin Natascha Strobl, deren Buch "Kulturkampfkunst" im Frühjahr erscheint: "Es ist immer ein Narrativ von Notwehr (…) gegen die Degeneration, die Dekadenz, den Niedergang der westlichen Welt, der vorangetrieben wird von Eliten, von Linken, von Minderheiten." Dabei hat der AfD gar keinen konsistenten Kulturbegriff: "Diese Nationalisierung von Kunst und Kultur ist nichts weiter als eine Romantik, die historischen Fakten nicht standhält." Mit ihren vielen kleinen Anfragen, gerade in Sachsen, wolle "die AfD besonders vor der Wahl und besonders in Ostdeutschland sehr stark eine Abgrenzungserzählung zum Westen etablieren. Im Osten gäbe es eine ganz tief verwurzelte Kultur, ein reiches kulturelles Erbe, das 'die' im Westen nicht sehen und verstehen, und das es zu bewahren gilt. Zum anderen sind diese Kleinen Anfragen ein Instrument im Wahlkampf, um als seriös und engagiert zu wirken: Man hat sich für das Thema eingesetzt, für die Kultur der Ostdeutschen gekämpft."

Ebenfalls in der FR ergänzen Silvia Bielert und Lisa Berins: "Alleine 211 Anfragen hat die sächsische AfD in der Legislatur zu den Themen Kunst, Kultur und Musikhochschulen gestellt. Darin ging es um Fragen der Provenienz und Restitution von Museumsobjekten an Herkunftsländer, um 'präventive Korruptionsbekämpfung' in Staatsbetrieben und die 'Subventionierung' von Theatereintrittskarten. In Thüringen fragte die AfD nach der 'politischen Neutralität an Thüringer Theatern'. Das kann man alles als Vorarbeit sehen zu einer rechten Kulturpolitik, die darauf abzielt, durch die Verteilung von Kulturfördergeld zu regulieren, was als Kunst stattfinden soll und was nicht. Statt inhaltlich frei agierender Kulturbetriebe - die es nach Vorstellung der AfD zu definanzieren gilt -, will die Partei beispielsweise Einrichtungen für 'Heimatpflege und regionales Brauchtum' besser ausstatten."

Dazu passt ein Artikel in der Nachtkritik, der zeigt, wie stark der Einfluss der AfD in Kommunen in den Neuen Ländern auch schon ist, wenn sie nicht im Amt ist. Aljoscha Begrich und Christian Tschirner, die das Festival "Osten" in Bitterfeld-Wolfen betreiben, erzählen in einer Art Chronik, wie sie einerseits an Initiativen teilnahmen, um die Wiederwahl des CDU-Bürgermeisters gegen die AfD-Konkurrenz zu unterstützen, wie aber andererseits dieser Bürgermeister von ihnen immer mehr verlangt, dass ihr Festival "unpolitisch" sein soll. "Der Oberbürgermeister erklärt uns im Gespräch, es sei unklug gewesen, dass sich das Festival bei seiner Wahl politisch exponiert habe. Es sei nun sehr viel schwieriger für ihn, das Festival zu unterstützen. Wie bitte? Ohne die Unterstützung des Bündnis für Demokratie und Toleranz wäre er vermutlich nicht mehr im Amt? Richtig, trotzdem sei die Lage nun sehr viel komplizierter geworden." Wegen eines politischen Werks einer ukrainischen Künstlerin, gibt's am Ende Ärger, und dem Festival wird der Geldhahn zugedreht. "Die Enttäuschung des Bürgermeisters ist echt. Er könne das Festival nicht mehr vor dem Stadtparlament verteidigen, das sei einfach nicht mehr möglich."

Archiv: Kulturpolitik

Geschichte

Nirgendwo waren die Nationalsozialisten so früh erfolgreich wie in Thüringen, erinnert Thomas Schmid (Welt), der bis ins Jahr 1485 zurückgeht, um die thüringische Anfälligkeit für völkische Parolen nachzuvollziehen. Er stellt fest, dass der Ost-West-Gegensatz in Deutschland viel älter ist als die Teilung: "Vor allem im Südwesten Deutschland kämpften sich in der frühen Neuzeit bis zu hundert große, kleinere und kleine Städte gegen die Fürsten frei. Sie erlangten eine bestimmte Form von Selbstverwaltung - eine Vorstufe der Demokratie. Das gab es im Osten Deutschlands und auch in Thüringen kaum. So fehlte dort die Tradition eines selbstbewussten Bürgertums, das die Geschicke seiner Stadt und der Region in die eigenen Hände nehmen wollte." In Thüringen entwickelte sich dann trotz der schönen Episode der Weimarer Klassik eine Art Bratwurstpatriotismus: "Dieser Patriotismus ist gemeinschaftlich, nicht gesellschaftlich. Wir sind wir: Die Parole hat in Thüringen schnell etwas Ausschließendes, Aggressives."
Archiv: Geschichte

Medien

Vor allem in Russland wird besorgt auf die Festnahme von Telegram-Gründer Pawel Durow geblickt, schreiben Silke Bigalke, Andrian Kreye und Oliver Meiler auf Seite 3 der SZ, denn: "Über Telegram werden ... auch interne Informationen aus Kreml und Geheimdienst verbreitet. ... Warum das jetzt ein Problem ist? Weil Durow aus Logik des Kreml einem Nato-Land in die Hände gefallen ist. ... Andere sorgen sich vor allem um die Telegram-Abhängigkeit der russischen Armee, Kriegsblogger diskutieren über die militärischen Folgen von Durows Festnahme. ... Während Kriegsenthusiasten also laut darüber nachdenken, ob Frankreich den russischen Truppen schaden will, sorgt sich die Opposition aus ganz anderen Gründen um Durows Zukunft. Für sie war Telegram ein letzter Strohhalm, Alternativen hat sie kaum: V-Kontakte gehört heute größtenteils dem Staat, niemand diskutiert hier mehr offen. Der Messenger Signal ist seit Anfang August ebenso gesperrt wie Facebook und Instagram. 60 Millionen Russen nutzen täglich Telegram, mehr als jedes andere soziale Netzwerk."
Archiv: Medien
Stichwörter: Durow, Pawel, Telegram