9punkt - Die Debattenrundschau
Nichts weiter als eine Romantik
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Über das BSW denkt in der taz der Politikredakteur Stefan Reinecke nach. Allzu großen Schrecken empfindet er nicht: "Der Aufstieg des BSW ist Teil einer Art Italienisierung des deutschen Parteiensystems: Die beiden tragenden Säulen Union und SPD verlieren in einem langsamen Prozess ihre zentrale Stellung. Situative EmpörungsunternehmerInnen wie Wagenknecht sind im Aufwind. Der Osten mit seinen losen Parteibindungen ist da Trendsetter." Als "links" will Reinecke das BSW nicht sehen: "An der Stelle der Ausgeschlossenen aus dem kapitalistischen System adressiert sie nun 'die Fleißigen'. Die sind ein Synonym für den biodeutschen 'kleinen Mann', der sich vom Gendern und von Migranten, von globalen Konzernen und grünen Eliten bedroht fühlt. BSW appelliert so an die 'alte Mitte' (Andreas Reckwitz), an Handwerker, Kleinunternehmer und Facharbeiter, die sich vom Zentrum an den Rand geschoben fühlen." Den Putinismus des BSW spricht Reinecke nicht an, der hofft, dass der Lack an der BSW abgeht, wenn man sie an Regierungen beteiligt.
Die immer stärkere Hinwendung vieler Ostdeutscher zum Rechtsextremismus deutet der Politologe Hans Vorländer in der FAZ als eine Art Rache "angesichts der Deutungsmacht der etablierten, westdeutsch geprägten audiovisuellen Medien." Man sah sich als Opfer "einer asymmetrischen Konstellation, die als wenig wertschätzend und übergriffig gegenüber den Befindlichkeiten ostdeutsch sozialisierter Menschen empfunden wurde. Auch der mit der Vereinigung vollzogene Elitenaustausch in Wirtschaft und Politik wurde weitgehend so erfahren. Eine Kanzlerin Merkel und ein Bundespräsident Gauck änderten nichts an dieser Wahrnehmung, im Gegenteil, wurden sie doch als Teil des politischen Establishments gesehen."
Robert Putzbach und Alona Savchuk berichten in der FAZ über einen selten thematisierten Aspekt von Putins Krieg gegen die Ukraine, die Verschleppung von Zivilisten aus besetzten Gebieten: "Nach ukrainischer Zählung werden mehr als 16.000 Zivilisten vermisst. 1.800 davon sind inhaftierte Zivilpersonen, deren Identität und Aufenthaltsort den Behörden bekannt sind. Beide Zahlen sind vermutlich aber viel zu niedrig. Denn aus besetzten und völlig zerstörten Städten wie Mariupol gibt es keine verlässlichen Angaben. Außerdem vermeiden manche Angehörige den Kontakt zu Menschenrechtsgruppen, weil sie fürchten, damit alles noch schlimmer zu machen. Anastasija Pantelejewa von der Nichtregierungsorganisation Media Initiative for Human Rights (MIHR) schätzt, dass die tatsächliche Häftlingszahl fünf bis sieben Mal höher liegen könnte."
Politik
Der Jerusalemer Rechtsprofessor Mordechai Kremnitzer legt in der FAZ einen Friedensplan für Israel und die Palästinenser vor, der "folgende Elemente enthalten würde: einen stabilen Waffenstillstand an beiden Fronten, die Ablösung der Hamas durch eine andere Regierung im Gazastreifen, ein Friedensabkommen zwischen Israel und den Palästinensern auf Basis der Zwei-Staaten-Lösung, die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien sowie anderen arabischen und muslimischen Staaten." Als Haupthindernis für diesen Plan sieht Kremnitzer die Tatsache, "dass Israel jedwede Verständigung mit den Palästinensern ablehnt. Diese Haltung ist bedauerlich."
Gesellschaft
Kulturpolitik
Die geplante Resolution des Bundestags gegen Antisemitismus in den Institutionen wird nicht ohne Widerstand durchgehen. Gestern veröffentlichte eine ganze Reihe von Kulturinstitutionen von Kampnagel, über die Akademie der Künste, lit.COLOGNE und andere einen Gegenappell. Auffällig ist bei der Liste der Erstunterzeichner allerdings, dass die Front bei weitem nicht so breit ist wie seinerzeit beim "Weltoffen"-Aufruf, in dem fast die gesamte Creme besonders vom Bund geförderter Kulturinstitutionen versammelt war. Auffällig ist bei dem neuen Aufruf auch, dass statt dessen dezidiert antiisraelische Stimmen wie die "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost" dabei sind. Man gibt seiner "großen Sorge" Ausdruck, dass Positionen, die einen Boykott Israels fordern, nun selbst nicht mehr unter dem Zeichen der Meinungsfreiheit inkludiert werden können sollen. Die geplante Resolution "Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken" kollidiere mit dem Grundgesetz und "bringt eine mannigfaltige Rechtsunsicherheit, zweifelhafte Praktikabilität und die Gefahr der Diskriminierung mit sich. Durch die autoritative Verwendung der sehr weitreichenden und gleichzeitig unscharfen IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument, sowie durch die unklare Frage faktischer Bindung einer Bundestags-Resolution, droht sie enorme Verunsicherung mit sich zu bringen und zum Verstummen jener Stimmen zu führen, die durch entsprechende Ansätze geschützt werden sollen. Ein immenser Schaden für unsere Demokratie wäre die Folge."
Der Kulturkampf der AfD besteht darin, kulturelle Fragen mit negativen Emotionen aufzuladen und zu Existenzfragen zu machen, erklärt im FR-Gespräch die Politologin Natascha Strobl, deren Buch "Kulturkampfkunst" im Frühjahr erscheint: "Es ist immer ein Narrativ von Notwehr (…) gegen die Degeneration, die Dekadenz, den Niedergang der westlichen Welt, der vorangetrieben wird von Eliten, von Linken, von Minderheiten." Dabei hat der AfD gar keinen konsistenten Kulturbegriff: "Diese Nationalisierung von Kunst und Kultur ist nichts weiter als eine Romantik, die historischen Fakten nicht standhält." Mit ihren vielen kleinen Anfragen, gerade in Sachsen, wolle "die AfD besonders vor der Wahl und besonders in Ostdeutschland sehr stark eine Abgrenzungserzählung zum Westen etablieren. Im Osten gäbe es eine ganz tief verwurzelte Kultur, ein reiches kulturelles Erbe, das 'die' im Westen nicht sehen und verstehen, und das es zu bewahren gilt. Zum anderen sind diese Kleinen Anfragen ein Instrument im Wahlkampf, um als seriös und engagiert zu wirken: Man hat sich für das Thema eingesetzt, für die Kultur der Ostdeutschen gekämpft."
Ebenfalls in der FR ergänzen Silvia Bielert und Lisa Berins: "Alleine 211 Anfragen hat die sächsische AfD in der Legislatur zu den Themen Kunst, Kultur und Musikhochschulen gestellt. Darin ging es um Fragen der Provenienz und Restitution von Museumsobjekten an Herkunftsländer, um 'präventive Korruptionsbekämpfung' in Staatsbetrieben und die 'Subventionierung' von Theatereintrittskarten. In Thüringen fragte die AfD nach der 'politischen Neutralität an Thüringer Theatern'. Das kann man alles als Vorarbeit sehen zu einer rechten Kulturpolitik, die darauf abzielt, durch die Verteilung von Kulturfördergeld zu regulieren, was als Kunst stattfinden soll und was nicht. Statt inhaltlich frei agierender Kulturbetriebe - die es nach Vorstellung der AfD zu definanzieren gilt -, will die Partei beispielsweise Einrichtungen für 'Heimatpflege und regionales Brauchtum' besser ausstatten."
Dazu passt ein Artikel in der Nachtkritik, der zeigt, wie stark der Einfluss der AfD in Kommunen in den Neuen Ländern auch schon ist, wenn sie nicht im Amt ist. Aljoscha Begrich und Christian Tschirner, die das Festival "Osten" in Bitterfeld-Wolfen betreiben, erzählen in einer Art Chronik, wie sie einerseits an Initiativen teilnahmen, um die Wiederwahl des CDU-Bürgermeisters gegen die AfD-Konkurrenz zu unterstützen, wie aber andererseits dieser Bürgermeister von ihnen immer mehr verlangt, dass ihr Festival "unpolitisch" sein soll. "Der Oberbürgermeister erklärt uns im Gespräch, es sei unklug gewesen, dass sich das Festival bei seiner Wahl politisch exponiert habe. Es sei nun sehr viel schwieriger für ihn, das Festival zu unterstützen. Wie bitte? Ohne die Unterstützung des Bündnis für Demokratie und Toleranz wäre er vermutlich nicht mehr im Amt? Richtig, trotzdem sei die Lage nun sehr viel komplizierter geworden." Wegen eines politischen Werks einer ukrainischen Künstlerin, gibt's am Ende Ärger, und dem Festival wird der Geldhahn zugedreht. "Die Enttäuschung des Bürgermeisters ist echt. Er könne das Festival nicht mehr vor dem Stadtparlament verteidigen, das sei einfach nicht mehr möglich."