9punkt - Die Debattenrundschau

Das letzte Wort der Aufklärung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.04.2024. Was für ein trauriger Sinkflug: Die Losung "Frieden schaffen ohne Waffen" ist inzwischen bei Björn Höcke gelandet, notiert der Historiker Volker Weiß in der SZ. In der FAZ will Jürgen Kaube Hedwig Richters vegane Suppe partout nicht essen. Im Tagesspiegel erhofft sich Marina Weisband durch ein AfD-Verbot mehr Zukunft für die Demokratie. Nochmals in der FAZ wirft Armin Nassehi einen "dritten Blick" auf den Gaza-Konflikt. Und was macht Steinmeier mit Erdogan?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.04.2024 finden Sie hier

Europa

Seit "im Kreml nicht mehr die KPdSU im Sattel sitzt, sondern ein 'Racket-Staat' aus autoritärer Führung, mafiösem Kapital und großrussischen Nationalisten" hat ein großer Teil des rechten politischen Flügels der USA ihre Haltung zu Waffenlieferungen geändert, beobachtet der Historiker Volker Weiß in der SZ. Vielleicht, weil sie in "der großrussischen Oligarchie das eigene Begehren wiedererkennen?" Und nicht nur in den USA kann Weiß verfolgen, wie sich die Rechten einen dubiosen Friedensdiskurs aneignen: "Das gilt indessen nicht nur für die ehemaligen US-Falken, auch die deutsche Friedenstaube ist kaum wiederzuerkennen. Seit Jahren taucht das Symbol in immer zweifelhafteren Kontexten auf. 'Frieden schaffen ohne Waffen', das Leitmotiv der Friedensbewegung in den Achtzigerjahren, wird mittlerweile ohne jede Ironie von Björn Höcke verwendet. Hier ist der Wunsch nach Appeasement ebenso groß wie im Gefolge Trumps. Die 'Deutschland zuerst'-Fraktion hat ihre Liebe zu Putin entdeckt, da dessen Interessen den eigenen Wünschen am nächsten kommen. Moskau-Treue ist heute kein Vorwurf mehr, der allein nach links zielt. "

Muss das nicht eigentlich zu einem diplomatischen Eklat führen? Heute trifft unser glückloser Bundespräsident Steinmeier auf seiner Türkei-Reise Tayyip Erdogan. Aber Erdogan hat viel Besuch in letzter Zeit: Am Wochenende empfing er den Hamas-Führer Ismail Haniya wie einen Staatsgast (mehr hier). Zuvor hielt Erdogan eine Rede, in der er nicht zum ersten Mal Israel mit den Nazis verglich: "Brüder und Schwestern, sie haben 14.000 Kinder getötet! Sie haben Hitler schon längst übertroffen. Trotz derjenigen, die den Tod von 14.000 Kindern ignorieren und versuchen, sich bei Israel einzuschmeicheln, indem sie die Hamas als Terrororganisation bezeichnen, werden wir weiterhin mutig - und unter allen Bedingungen - den Kampf für die Unabhängigkeit Palästinas unterstützen." Der Wortlaut von Erdogans Rede findet sich bei memri.org.
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Gesellschaft

Buch in der Debatte

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Die ukrainisch-deutsche Politikerin (ehemals Piratenpartei, heute bei den Grünen)  Marina Weisband sieht im Tagesspiegel-Interview mit Barbara Nolte und Hans Monath die Demokratie in Deutschland massiv bedroht. In ihrem neuen Buch plädiert sie daher für frühe Demokratieförderung in Schulen. Als Jüdin sieht sie sich in den letzten zehn Jahren verstärkt Antisemitismus ausgesetzt, noch einmal mehr nach dem 7. Oktober. Das hat auch mit der Erstarkung der deutschen Rechtspopulisten zu tun, denen schnell ein Riegel vorgeschoben werden muss, wie sie findet: "Das Allererste, was wir tun müssen, ist ein AfD-Verbot anzustreben, und zwar selbst dann, wenn wir die Partei nicht sofort verbieten können. Denn: Wenn man ein Verbotsverfahren einleitet, wird es juristisch relevant, was die Parteiführung so in die Kameras sagt. Und dann hat sie Druck von zwei Seiten. Sie darf nichts Verfassungsfeindliches sagen, muss aber ihre Basis bedienen, die Verfassungsfeindliches hören will. Das wird zu Konflikten führen. Die Basis wird sich von der Führung abwenden. Es werden Köpfe rollen. Die AfD wird zerstört, weil sie nicht mehr ihre Message offen kommunizieren kann."

Inna Hartwich berichtet in der NZZ, dass zwei Männer, von der Presse rasch als "Deutschrussen" bezeichnet, verdächtigt werden, im Auftrag der Russischen Föderation Sabotageaktionen in Deutschland geplant haben. Hartwich nimmt das zum Anlass, über die Bezeichnung "Russlanddeutsche" oder "Deutsch-Russen" nachzudenken: Immer noch ist der Begriff mit Klischees behaftet, die deutsche Gesellschaft weigere sich beharrlich, sich mit dem historischen Hintergrund und der Lebensrealität der ehemals Geflüchteten auseinanderzusetzen: "Die Vorurteile befördern mitunter genau das, was so unerwünscht ist: dass sich Parallelgesellschaften bilden, dass sich viele der Angekommenen nie als Menschen mit eigener Geschichte - einer leidvollen Geschichte - wahrgenommen fühlen und deshalb ihr Glück dort suchen, wo sie hoffen, die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihnen fehlt: in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem in Russland, das sich solcher 'Suchender' bestens zu bedienen weiß, zu seinen Gunsten in seinem menschenverachtenden Sinne."
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Politik

Dass es sich bei AfD-Politikern um vaterlandslose Gesellen handelt, war ja schon länger klar. Nun zeigt sich, dass man sich nicht nur von Putins Russland, sondern auch von Xi Jinpings China gern umgarnen lässt. Jian G., der Assistent des prominenten AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah, ist wegen Spionage festgenommen worden. Hinweise auf Krahs ausgesprochen China-freundliche Haltung gab es schon vorher, berichten Thomas Gutschker und Friederike Haupt in der FAZ: "etwa ein Video aus dem Jahr 2021, inzwischen gelöscht, in dem Krah Tibet als Ort des friedlichen Zusammenlebens und Kinderlachens gepriesen haben soll; eine Reise nach China zwei Jahre zuvor, der er ein Schreiben an die Bundestagsfraktion der AfD folgen ließ, in dem er sich über deren harte Haltung gegenüber Huawei beklagte. Als EU-Abgeordneter war er im November 2019 nach Peking geflogen, per Businessclass, und hatte sechs Tage in Luxushotels verbracht; die Hotelkosten übernahmen Stadtverwaltungen."

Auf den Geisteswissenschaften-Seiten der FAZ sucht Armin Nassehi nach Auswegen aus einer "Diskurssituation, in der man nur noch streng binär ausschließlich für oder gegen Israel oder die Palästinenser sein kann". Dabei gehe es aber nicht darum, "Israel und die Hamas auf eine Stufe zu stellen, wie es die großen Symmetrisierer praktizieren, um Ununterscheidbarkeiten zu insinuieren". Letztlich könne ein "dritter Blick" helfen zu erkennen, dass die Konfliktlinien auch innerhalb der beteiligten Länder verlaufen: "zwischen jenen, die sich um eine pragmatische Koexistenz bemühen, und jenen, die mit ihren Strategien geradezu Eschatologisches im Sinn haben und das Religiöse mit dem Nationalistischen verbinden. Nicht ohne Grund ist die Verbindung von Iran mit Russland so stabil, das Interesse an einer Destabilisierung der Region hat. Dieser Konflikt geht durch die gesamte Region - auch durch Israel hindurch. Es ist weniger ein Kampf der Kulturen als eine politische Frage, pragmatisch mit Pluralismus umgehen zu können oder nicht."

Eine Lösung für Israel und Gaza kann es nur geben, wenn beide Seiten eine neue Führung erhalten, konstatiert der Schriftsteller Etgar Keret in der NZZ. Denn sowohl die Hamas als auch die Regierung in Israel blockieren einen möglichen Frieden: "Netanjahu benutzt die Hamas, um zu legitimieren, dass er den Palästinensern ihr Recht auf einen Staat abspricht. Tatsächlich haben aber die Hamas und die Ultrarechten in der israelischen Regierung keine diametral verschiedene Weltanschauung. Die beiden Parteien sind sich einig, dass in diesem Land nur Platz für eine Nation ist; ihr einziger Streitpunkt ist: für welche? Netanjahu und seine extremistischen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich bevorzugen die Hamas sogar. Sie ist ihnen lieber als jeder andere palästinensische Feind, der, zwar ebenso grausam und entschlossen wie die Hamas, bereit wäre, sich auf eine Zweistaatenlösung einzulassen. Ich habe nicht vor, meine Heimat in nächster Zeit freiwillig zu verlassen, ebenso wenig meine palästinensischen Nachbarn."
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Ideen

Buch in der Debatte

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Die Historikerin Hedwig Richter und und der Zeit-Hierarch Bernd Ulrich predigen in ihrem Buch "Demokratie und Revolution" dem Volk Verzicht. Es soll zum Beispiel endlich einsehen, dass es kein Fleisch mehr essen darf und sich überhaupt notwendigen Dekreten der Politik freudig unterwerfen. Hedwig Richter hatte diesen Ansatz gegen die "Suppenkaspar-Freiheit" der Unartigen in der FAZ nochmal verfochten (unsere Resümees). Darauf antwortet heute FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube: "Sie träumt, wie alle Anhänger des Volksbegriffs, von einer Gemeinschaft und von einer volonté générale, einem vernünftigen Volkswillen, der sich den Gesetzen beugt, weil er sie selbst erlassen hat. Die Bürgerschaft stimmt den Zumutungen zu, weil sie die Zumutungen als vernünftig erkennt." Auch der von Richter bemühte "Suppenkaspar" leuchtet ihm nicht ein: "Ist Zwangsernährung die gebotene Therapie bei Essstörungen? Hatte denn der Suppenkasper einen 'niedrigen Instinkt'? Ist denn die schwarze Pädagogik, die ihn zu disziplinieren sucht, das letzte Wort der Aufklärung?"

In postkolonialen Studiengängen werden bestimmte Haltungen kultiviert, die nicht unbedingt zu objektiven Ergebnissen führen, fürchten die Ethnologin Susanne Schröter und der Musikwissenschaftler Ulrich Morgenstern in einem gemeinsamen FAZ-Artikel. Die Studenten würden angeleitet, aus einer Position der "Allyship" mit als unterdrückt gelesenen Gruppen heraus Forschung zu machen: "Während empirische Sozialwissenschaft fragen kann, wo, inwieweit und warum gesellschaftliche Übelstände zu verzeichnen sind und welche Faktoren zu ihrer Überwindung beitragen können, setzt aktivistische Wissenschaft diese Nachteile absolut und sich selbst als die rettende Kraft in Szene. Jede Wissenschaft, die Aktivismus einfordert, läuft Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Implizite oder explizite politische Positionierungen von Hochschulen, Instituten und Lehrveranstaltungen erzeugen zudem einen Konformitätsdruck auf Studenten und Stellenbewerber." Nicht erst seit dem 7. Oktober geht diese Positionierung überdies mit einer Dämonisierung Israels einher, so Schröter und Morgenstern.

In der Welt erklärt der Extremismusforscher Hendrik Hansen ebenfalls, warum die postkoloniale Theorie besonders anfällig für radikale Haltungen ist und warum viele Linke die Hamas nicht als Täter sehen (wollen): "Dieser ideologische Postkolonialismus ist - wie der Antiimperialismus von Lenin - von einem radikalen Dualismus gekennzeichnet. Während Lenin die Welt auf den Kampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten reduziert, erfolgt im Postkolonialismus eine Zweiteilung in Unterdrücker und Unterdrückte, wobei die Mechanismen der Unterdrückung nicht mehr primär ökonomisch gedeutet werden, sondern im Bereich von Sprache und Normensetzung gesehen werden. Unterdrückte handeln moralisch gut, Unterdrücker sind moralisch böse. Wenn 'Unterdrückte' - wie im Fall der Hamas - Taten verüben, die auch gewaltorientierte Linksextremisten nicht gut finden, dann ist die Ursache für ihr Handeln dennoch bei den 'Bösen' zu suchen, zum Beispiel den angeblichen 'israelischen Kolonisatoren'. Akademisch orientierte Hamas-Unterstützer wie Judith Butler nennen dies die 'notwendige Kontextualisierung' der Taten der Hamas."
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