9punkt - Die Debattenrundschau

Das Vibrato des Seins

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2014. Mathias Döpfners Angst-vor-Google-Artikel stößt im Netz auf eher amüsierte Reaktionen. Zeit.de meldet: Google macht jetzt Kontaktlinsen, damit man Google Glass nicht mehr erkennt. Techdirt bringt eine Hommage auf Tom Lehrer und seine Meinung zum Urheberrecht. Die Welt staunt über einen nationalbolschewistischen Hybrid namens "russisches Eurasien". Die SZ besichtigt das umgebaute Studio der Tagesschau. Neu: Mit Ganzkörpermoderatoren. Die FAZ ergründet die Rolle François Mitterrands beim Genozid von Ruanda.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.04.2014 finden Sie hier

Internet

Mathias Döpfners Ruf nach den Institutionen gegen Google, das ihm Angst macht, steht jetzt online. In der Welt fällt Torsten Krauel die Aufgabe zu, auf den Artikel des Springer-Vorsitzenden in der diskursführenden Konkurrenzzeitung hinzuweisen. Krauel beklagt zumal "die Gier, mit der deutsche Medienhäuser vor einer Dekade ihre Zeitungsinhalte kostenlos Suchmaschinen wie Google andienten" - was unter den überregionalen Zeitungen bekanntlich ausschließlich die Welt bis heute tut!

Thomas Knüwer antwortet in Indiskretion Ehrensache auf Döpfners Artikel: "Weil die EU Google nicht vom Markt fegen will, attackieren Sie nun das demokratische Institut der Europäischen Union." Und "übrigens: Wissen Sie, wie viele Tracker den Nutzer bei Bild.de durchleuchten wollen? 17. Und bei Welt.de? 26. Besonders lustig finde ich, dass Ihre Konzernseite Google Analytics nutzt. Denn dafür einen anderen Analysedienst zu verwenden, wäre jetzt echt nicht so schwer."

Stefan Niggemeier zitiert diesen Satz Döpfners: "Ist es wirklich klug, zu warten, bis der erste ernstzunehmende Politiker die Zerschlagung Googles fordert?" Und dann gleich Rainer Brüderles jüngsten Artikel im Handelsblatt mit der Überschrift: "Zerschlagt Google! Herzlichen Glückwunsch Herr Döpfner, Sie haben den Mut..." und so weiter. Sascha Kösch resümiert in De:bug recht trocken: "So bleibt am Ende von der Google-Kritik nur ein: die sind größer als wir, da muss wer was machen." Und Und Jeff Jarvis erklärt das Geschäftsmodell deutscher Medien-Tycoons: "The essence of that business model, as practiced especially by German and sometimes French legacy publishers, is to stomp their feet like pouty kindergartners missing a turn at kickball, whining "that"s not fair" and yelling that everything wrong on this playground is the fault of another kid."

Nach den tätlichen Angriffen auf Nutzer von Googles Datenbrille (mehr hier) ist es wohl der logische nächste Schritt: In den USA hat Google ein Patent auf Kontaktlinsen mit integrierter Kamera und Bildschirm eingereicht, meldet Andreas Donath auf Zeit digital. Die dazugehörige Technologie wird bereits emsig entwickelt: "Google beschreibt mehrere Anwendungszwecke, die allesamt auf eine Bildanalyse beziehungsweise eine Mustererkennung hinauslaufen. So könnten Sehbehinderte mit Hilfe der Kontaktlinsen und einer Bildauswertung prüfen, ob die Straßenüberquerung sicher möglich ist... Natürlich sind auch Gesichtserkennungen möglich - was mittlerweile jede einfache Kompaktkamera schafft, sollte auch mit den Kontaktlinsen in Verbindung mit einem Handy möglich sein."

Mike Masnick schreibt auf Techdirt eine kleine Hommage auf den Comedian Tom Lehrer, der vor einigen Jahrzehnten eine kurze Karriere machte und nun eine Menge Fans im Internet hat. Der Norweger Erik Meyn hat den Tom Lehrer Wisdom Channel auf Youtube gestellt und veröffentlichte folgendes Gepräch mit Lehrer über die Frage, was nach seinem Tod mit den Rechten an seinen Songs geschehen soll:

"TL: Well, I don"t need to make money after I"m dead. These things will be taken care of.
EM: I feel like I gave away some of your songs to public domain without even asking you, and that wasn"t very nice of me.
TL: But I"m fine with that, you know.
EM: Will you establish any kind of foundation or charity or something like that?
TL: No, I won"t. They"re mostly rip-offs."

Und das stimmt natürlich, denn dieser Song dürfte dem deutschsprachigen Publikum mit einiger Vorbildung bekannt sein:



Einen langen Artikel über Lehrer veröffentlichte neulich Buzzfeed.

Außerdem: Patrick Bahners berichtet in FAZ.Net, dass die amerikanische Author"s Guild neu gegen Google Books klagt.
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Europa

Vor 20 Jahren hat sich Oliver Thränert, Leiter des Think Tank am Center for Security Studies des ETH Zürich, gegen die Nato-Osterweiterung ausgesprochen, bekennt er in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel. Heute sieht er die Lage anders: "Der Westen im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen (hätten sich) komplett unglaubwürdig gemacht, hätte man die Beitrittswünsche der Reformstaaten dauerhaft abgelehnt... Wie kann man überzeugend westliche Werte wie Pluralität, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte vertreten, wenn man Gesellschaften, die genau danach streben, ihrem Schicksal überlässt, nur weil sie das Pech haben, nahe an Russland zu liegen?"

Mit der Rüstungsindustrie beherbergt die Ostukraine einen der wenigen rentablen Wirtschaftszweige des Landes, berichtet Beate Wilms in der taz. Nach der Eskalation mit Russland wurden nun alle Geschäfte gestoppt. Das schwächt zwar das russische Militär, schadet aber auch massiv der Ukraine: "Zum einen sind viele Betriebe auf Vorlieferungen aus Russland angewiesen. Zum anderen sind auch die Rüstungsunternehmen von der ukrainischen Krankheit befallen - Innovationen fehlen. Außerhalb Russlands und vielleicht Chinas haben sie es schwer, Abnehmer zu finden. So schickte der Iran Mannschaftstransporter wieder zurück - Begründung: Qualität mangelhaft."

(Via huffpo.fr) Voilà, für alle, die französisch können - die allerletzte Rede Daniel Cohn-Bendits vor dem Europa-Parlament, mit gutem altem europäischem Pathos:

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Politik

Richard Herzinger beobachtet in der Welt mit Blick auf die russischen Interventionen in der Ukraine nebenbei "die Geburt einer neuen, die kriegerische Macht glorifizierenden Ideologie. Es ist die erstaunliche Synthese aus einem großrussischen, von mystisch-religiösen Elementen durchdrungenen völkischen Nationalismus mit dem wieder erweckten Geist des Sowjetkommunismus. Das Ziel dieses nationalbolschewistischen Hybrids ist die Schaffung eines 'russischen Eurasiens'."
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Überwachung

Pawel Durow, der Gründer des russischen Facebook-Cones Vkontakte wurde vom russischen Geheimdienst FSB aufgefordert, Daten ukrainischer Oppositioneller herauszugeben und hat sich geweigert, weil Ukrainer nicht unter das russische Gesetz fallen, so schreibt er in einem Post auf seinem Dienst. Mashable (hier) und The Verge (hier) berichten. in Durows Statement heißt es: "In the process I had to sacrifice a lot, including my shares in VKontakte," he wrote. "But I do not regret anything - protection of the personal data of people is worth it and much more. Since December 2013 I have not had property, but I still had something more important - a clean conscience and ideals that I am willing to defend."
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Stichwörter: Durow, Pawel, FSB, Russland, Ukraine

Medien

Auch in der Tagesschau, jenem Museumsstück deutscher Fernsehinformation, müssen die Moderatoren künftig hin und her laufen und einen auf locker machen. Die ARD hat für das neue Studio 23,8 Millionen Euro aus der Demokratie-Abgabe abgezweigt. Gerhard Matzig besichtigt es für die SZ: Und zwar handelt es sich um "zwei organisch gerundete, dynamisch sich nach unten verjüngende Tische in Flügelform einerseits" und eine "18 Meter lange Panorama-Medienwand andererseits, die, unterstützt von sieben Beamern, Bilder wie im 3-D-Kino liefern kann."

Die Insolvenz der Abendzeitung München kommt dadurch zustande, dass sie ihre Auflage jahrelang durch Gratisexemplare und Sonderverkäufe künstlich hochgehalten hat, um "Anzeigenkunden Leserkontakte vorzugaukeln", meint Andreas Bull in der taz. Mit dieser Strategie steht die AZ durchaus nicht alleine da: "Springers Welt etwa 'verkauft' 42 Prozent der Auflage als Bordexemplare oder Sonderverkäufe. Die Anzeigenkunden bleiben dennoch aus, und auch die Leser. Grotesk wird es, wenn Springer-Chef Mathias Döpfner über seine Angst vor Google klagt. Hierzulande nimmt er eine ähnlich marktverzerrende Rolle wie der Internetkonzern ein."
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Geschichte

Michaela Wiegel schildert die Schwierigkeiten französischer Auseinandersetzung mit dem Völkermord in Ruanda. Die Politiker leugneten bis heute die Unterstützung des verantwortlichen ruandischen Diktators Juvénal Habyarimana. Gerade die Sozialisten machen sich hier schuldig, denn die Ruanda-Politik gehörte zur Privatdomäne des bis heute verehrten Präsidenten François Mitterrand, schreibt Michaela Wiegel im politischen Teil der FAZ. Offenbar gibt es aber doch Franzosen, die die Dinge offen legen, denn Wiegel zitiert ein Buch des Journalisten Patrick de Saint-Exupéry: "Warnungen vor der rassistischen, den Hass auf die Tutsi predigenden Politik Habyarimanas sowie der noch radikaleren Clique um dessen Ehefrau Agathe ('Akazu') schlug Mitterrand in den Wind. 'In diesen Ländern ist ein Völkermord nicht so wichtig', zitierte Saint-Exupéry den früheren Präsidenten."
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Gesellschaft

Der spanische Schriftsteller Jorge Carrión berichtet in El País aus San Francisco von Protesten gegen Gentrifizierung, explodierende Mieten - angeblich hundert Prozent in einem Jahr - und diejenigen, die damit offenbar problemlos leben können: Techies und Geeks, die im nahegelegenen Silicon Valley Spitzengehälter verdienen und sich mit eigenem Busshuttle aus ihren überteuerten Wohnungen in San Francisco zu ihrem Arbeitgeber transportieren lassen: "'Sie verändern die ganze Stadt', beklagt sich die Studentin Noemí García Pasmanick, die 'tief frustriert und traurig' darüber ist, dass sie sich in der Stadt, in der sie aufgewachsen ist, niemals eine Mietwohnung wird leisten können. 'Im Castro District gibt es bloß noch reiche Schwule und im Mission District immer weniger Latinos und Künstler - aber die Techies empfinden es als positiv, dass diese Stadtteile bürgerlich werden.' Inzwischen fliegen schon mal Steine auf die Google-Busse und deren betuchte Benutzer werden auf der Straße angerempelt."

Bei einer Großrazzia stürmten Polizisten im Februar 2000 Bordelle in der südchinesischen Millionenstadt Dongguan, berichtet Felix Lee in der taz. Zwei Monate später erweisen sich die wirtschaftlichen Folgen der Aktion als verheerend: "Laut der Yangcheng Evening Post ist der gesamte Dienstleistungssektor in der Stadt zusammengebrochen. Die Razzien sollen Umsatzverluste von rund 50 Milliarden Yuan verursacht haben, rund sechs Milliarden Euro. Auch Geschäfte, Schönheitssalons, Lokale, Taxis und sogar Supermärkte klagen über heftige Einbußen. Besonders betroffen sind Luxushotels."

Und hier nochmal der Hinweis auf zwei Artikel in der Zeit, die wir gestern zu spät gesehen haben: Slavoj Žižek warnt im Aufmacher des Zeit-Feuilletons vor der liberalen Demokratie in Europa, die mit ihrer Spar- und Abschottungspolitik den Rechtspopulisten in die Hände spiele. Und George Steiner, in einem wildgemusterten grau-weißen Pullover, spricht im Interview über Leben, Tod, Gott und das große Schweigen: "Die Tiere schweigen. Das ist die totale Verständigung. Mein Hund wird wissen, wie das Interview war, er riecht bei mir das Vibrato des Seins, ich kann's nicht anders erklären."

Im Aufmacher der SZ und pünktlich zum 150. Geburtstag erklärt Lothar Müller, warum Max Webers "Begriffe bis heute zur Erklärung der modernen Gesellschaft gebraucht werden".
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