9punkt - Die Debattenrundschau

Geh das Risiko ein und nimm ihn mit in die Berge

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2014. Nach der Entscheidung des Berner Kunstmuseums das Erbe Cornelius Gurlitts anzutreten, sind sich die Zeitungen uneins: Ist der Fall damit elegant gelöst? Oder geht das Schlamassel jetzt von vorne los? Laut Financial Times will das Europäische Parlament Google entflechten. In der taz klagt Muhammad Idrees Ahmad, dass selbst so renommierte Journalisten wie Seymour Hersh der Assadschen Propaganda aufsitzen. Der russische Geheimdienst-Oberst Igor Girkin erzählt einer russischen Zeitung, wie er den Krieg im Donbass vom Zaun brach.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.11.2014 finden Sie hier

Kulturpolitik

Die Entscheidung des Kunstmuseums Bern bezüglich des Erbes Cornelius Gurlitts wurde für Montag erwartet, doch bereits jetzt zeichnet sich ab, dass es das Erbe annehmen wird. "Einer der größten Kunstskandale könnte so ein sinnvolles Ende nehmen, und zu danken wäre es wesentlich, welche Ironie, Cornelius Gurlitt", freut sich Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung: "Die testamentarische Verfügung an das Berner Kunstmuseum entlastet die Bundesrepublik von der Peinlichkeit, diesen Schatz entweder den Nachkommen Gurlitts übergeben zu müssen oder irgendeine Unterbringung zu suchen. Und welches Museum in Deutschland hätte ein solches Erbe zeigen können? Das Museum in Bern hingegen kann sich freuen."

Ganz so weit ist es freilich noch nicht. Gleichzeitig wurde nämlich bekannt, dass Gurlitts Cousine Uta Werner ebenfalls Anspruch auf das Erbe erhebt, wie Nicola Kuhn im Tagesspiegel berichtet: "Damit gerät das Verfahren ins Stocken. Was im Vorfeld mühsam ausgehandelt wurde, ist jetzt wieder in Frage gestellt."

Gerade in diesem mühsamen Aushandeln sehen Jörg Häntzschel, Catrin Lorch und Ira Mazzoni in der SZ den schonungslosen Beweis dafür, "was Deutschland an Vergangenheitsbewältigung versäumt hat. Ohne rechtliche Instrumente musste man sich mit einer Serie von Hintergrund-Deals, wackeligen juristischen Konstruktionen und viel Geld behelfen. Statt die grundsätzlichen Probleme anzugehen, hat man sie wegorganisiert."

Und die FR meldet, dass das Frankfurter Städel-Museum schon einmal ausgerechnet hat, dass es über 700 Bilder zurückerhalten müsste, falls sich Jutta Limbach mit ihrem in der SZ vorgetragenen Vorstoß durchsetzen sollte, das NS-Einziehungsgesetz zur "entarteten Kunst" aufzuheben (siehe unser 9Punkt vom Donnerstag).
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Politik

In einem Interview mit der nationalistischen Zeitung Sawtra erzählt der russische Geheimdienst-Oberst Igor Girkin freimütig, wie er die Besetzung der Krim mitorganisiert und anschließend einen Krieg im Donbass vom Zaun gebrochen hat, berichtet Julian Hans in der SZ. Girkin wird mit den Worten zitiert: "Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt. Wenn unsere Einheit nicht über die Grenze gekommen wäre, wäre alles so ausgegangen wie in Charkiw und in Odessa... Den Anstoß für den Krieg, der bis heute in Gang ist, hat unsere Einheit gegeben. Wir haben alle Karten gemischt, die auf dem Tisch lagen. Alle!"

Von Beginn an hatte der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auch religiöse Motive, selbst wenn Politiker beider Seiten meist säkular argumentierten, schreibt Anshel Pfeffer im Guardian nach dem Attentat auf eine Synagoge in Israel (und zwar keineswegs in den besetzten Gebieten). Der säkulare Diskurs ist meist nur noch eine Maske zur Beruhigung wohlwollender westlicher Zuhörer, meint Pfeffer: "Zu akzeptieren, dass der israelisch-palästinensische Konflikt auch ein Religionskrieg ist, gehört nicht zu den Lieblingsperspektiven der internationalen Gemeinschaft. Aber es wäre besser, diese scheußliche Tatsache anzuerkennen, die ein Hauptgrund ist, dass keine der vorgeschlagenen Lösungen je funktionierte, trotz aller diplomatischen Bemühungen."
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Gesellschaft

Die Jüdische Allgemeine druckt Ralph Giordanos Dankesrede für den Arthur-Koestler-Preis der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben: "Meine Frau stirbt am 9. Dezember 1984, mit 71 Jahren und in ihrem Bett - durch einen "Eingriff", den ich mitvorbereitet und gebilligt, von Grund auf gebilligt hatte. Sie geht human aus dem Leben - mit aktiver Sterbehilfe, in einer Situation, an der es nichts zu deuteln gab: Das Allerschlimmste, das Unschilderbare, das Sterben in der Schmerzapokalypse, für die es keine Worte gibt, war ihr erspart geblieben."

Edo Reents warnt hingegen in der FAZ davor, rechtliche Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Sterbewillige andere in ihren Suizid mit hineinziehen: "Instinktiv findet ein Mensch bei der Einsicht, er hätte den Selbstmord eines anderen gar nicht verhindern können, eine gewisse Beruhigung - ein Gefühl, das wichtig zum eigenen Weiterleben ist. Wer einmal das Gegenteil erlebt hat, weiß, wovon die Rede ist. Wird sich das Schuldgefühl bei den Suizid-Assistenten in Luft auflösen, sobald eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen ist?"

In der Presse wiederholt Thilo Sarrazin im Gespräch mit Anne-Catherine Simon und Nikolaus Jilch seine These vom "Tugendterror" und zeichnet ein düsteres Bild von Wien im Jahr 2046, wenn 21 Prozent der Bevölkerung Muslime sein werden: "Wenn sich die Muslime bis dahin nicht deutlich geändert haben, werden die durchschnittlichen Schulleistungen in Wien schlechter sein als heute und die Basisarbeitslosigkeit höher. Wenn weiterhin eine wenig gebildete Unterschicht ihre Frauen verhüllt und unterdrückt und eine unterdurchschnittliche Erwerbsbeteiligung hat, wird Wien eine Stadt sein, die stärker segregiert und weniger liberal ist."
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Medien

Die Greultaten des IS lassen die Berichterstatter den Blick dafür verlieren, dass Assad immer noch der weitaus schlimmste Aggressor in Syrien ist, schreibt der Soziologe und Journalist Muhammad Idrees Ahmad in der taz. Selbst altgediente und anerkannte Reporter wie Charles Glass, Robert Fisk und Seymour Hersh lassen sich vom Regime einbetten und sitzen seiner Propaganda auf, klagt Ahmad: "So offensichtlich monströs die Handlungen des Regimes auch sind, es ist ihm stets gelungen, Journalisten zu finden, die Zweifel säen. Sie sehen im Regime einen Gegner des westlichen Imperialismus und des islamistischen Fundamentalismus. Assad führe keinen Krieg gegen die syrische Bevölkerung, wird uns glauben gemacht, sondern gegen Anhänger einer imperialistischen Kraft, die versuchen, ihn als Teil der "Achse des Widerstands" zu brechen."

In der FAZ meldet Mark Siemons, dass die siebzig Jahre alten chinesische Journalistin und Deutsche-Welle-Mitarbeiterin Gao Yu wegen des "Verrats von Staatsgeheimnissen ans Ausland" in Peking vor Gericht steht.
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Überwachung

Schon in der Prä-Snowden-Ära untersuchte der Blogger und inoffizielle Anonymous-Sprecher Barrett Brown den amerikanischen Überwachungsapparat, berichtet Johannes Gernert in der taz. 2012 wurde er verhaftet, am Montag soll das Urteil gegen ihn fallen: "Wenn man all die Punkte zusammenzählte, die in den ersten drei Anklagen gegen ihn standen, kam man auf 105 Jahre Haft. Vorgeworfen wurde ihm, dass er in dem Youtube-Video und auf Twitter einen FBI-Agenten bedrohte, dass er Laptops, die das FBI suchte, versteckte, vor allem aber, dass er einen Link zu einem ohnehin öffentlichen Dokument mit Kreditkartendaten in ein Forum gepostet hatte. Man kann so eine Anklage eigentlich nur als eine Kriegserklärung lesen. Gegen den Journalismus, den das Internet und Menschen wie Edward Snowden oder Informantin Chelsea Manning den Gruppen wie Wikileaks oder Anonymous ermöglichen."
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Internet

Das Europäische Parlament erwägt, Google zu entflechten, melden Henry Mance, Alex Barker und Murad Ahmed in der Financial Times: "Ein Antragsentwurf, den wir einsehen konnten, sieht vor, Suchmaschinen von anderen kommerziellen Diensten zu trennen, um die Marktmacht von Google einzudämmen... Google ist zum Blitzableiter der europäischen Skepsis gegenüber Silicon Valley avanciert. Von seiner kommerziellen Dominanz bis zu seinen Datenschutzrichtlinien wird der Konzern von Verbrauchern, Regulierern und Politikern angegriffen."
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Geschichte

Die Welt druckt Avi Primors Rede zum Volkstrauertag. Der ehemalige israelische Botschafter würdigt darin die vorbildliche Rolle Deutschlands "in Sachen Erinnerung und Gewissenserforschung": "Alle Länder der Welt errichten nach wie vor Mahnmale und Gedenkstätten. Sie errichten sie, um sich an ihre Siege, an ihre Helden und ruhmreichen Bürger zu erinnern, die ihr Land und ihre Nation ehren. Weltweit habe ich außer Deutschland kein einziges Land gefunden, das es gewagt hat, Mahnmale zu errichten, die an die eigenen Verbrechen erinnern und die eigene Schande verewigen."
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Stichwörter: Primor, Avi

Europa

Der litauische EU-Abgeordnete Leonidas Donskis schreibt in der Jüdischen Allgemeinen über antiisraelische Äußerungen im EU-Parlamanent und fühlt sich an ein Lied von Wladimir Wyssozky erinnert: "Die ersten Zeilen lauten, grob übersetzt: "Wenn dein Freund keiner ist, weder Freund noch Feind, sondern etwas dazwischen. Wenn du nicht sicher weißt, ob er ein guter oder schlechter Mensch ist, dann geh das Risiko ein und nimm ihn mit in die Berge, und du wirst sehen, wer er ist." An diese Zeilen musste ich oft denken, wenn im Europaparlament Israel diskutiert wurde."
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