9punkt - Die Debattenrundschau

Plumpe Charmeoffensive

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2015. Die FAZ beschreibt, wie sich Facebook mit seinen "Community Standards" bei der chinesischen Regierung anbiedert. Die UN leisten sich jetzt einen weitgehend macht- und mittellosen Datenschutz-Sonderberichterstatter, meldet Zeit digital. Auch der Spiegel war im Visier der US-Geheimdienste, berichtet der Spiegel. Die FR findet heraus, dass Willy Brandt wohl doch kein Spion war. Und die taz tröstet sich mit einem eigenen Craft Beer über den Rücktritt ihrer Chefredakteurin Ines Pohl hinweg.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.07.2015 finden Sie hier

Internet

Nachdem Ijoma Mangold kürzlich in der Zeit von der Debattenkultur auf Facebook geschwärmt hat, lobt Götz Hamann in der aktuellen Ausgabe die klugen "Community Standards", nach denen anstößige Inhalte gelöscht werden. Unsinn, meint Adrian Lobe in der FAZ: diese Standards sind nicht nur willkürlich, sondern werden auch für politische Zwecke instrumentalisiert. "Im Januar zensierte Facebook den nach Deutschland exilierten Schriftsteller Liao Yiwu. Er hatte Bilder eines befreundeten Aktivisten gepostet, der nackt durch die Straßen von Stockholm gerannt war. Für seine Zensurpraktiken erhielt Facebook Beifall von der kommunistischen Führung. Die Zeitung Renmin Ribao, das Parteiorgan der Kommunisten, begrüßte die Account-Schließung in einem Leitartikel. Facebook will mit aller Macht nach China expandieren und hofiert daher die chinesische Regierung. Mark Zuckerberg startete eine plumpe Charmeoffensive."

In der taz schildert Johannes Gernert den erbitterten Kampf des britischen Ehepaars Raff gegen Google, das ihre Preisvergleichseite aus seiner Trefferliste gestrichen hatte. Sollten die Raffs mit ihrem Protest Erfolg haben, droht Google ein Bußgeld von mehreren Milliarden Euro durch die EU-Kommission: "Welche Verantwortung trägt ein Konzern, an dessen Suchmaschine sich täglich Millionen Menschen wenden? Ein Konzern, von dessen Algorithmus auch seine Wettbewerber abhängig sind. Muss so ein Unternehmen neutral sein? (...) Der Konzern tritt als unbeteiligter Schiedsrichter auf, befugt zu urteilen, was wichtig ist und was nicht und findet sich dabei selbst oft am allerwichtigsten. Knapp 60 Milliarden Dollar Umsatz machte Google 2014 mit Werbung, die es nicht nur auf seinen eigenen Seiten verkauft. Fast zehn Milliarden mehr als 2013."

Der maltesische Rechtsprofessor und Datenschutzexperte Joseph Cannataci wurde von der UN zum Sonderberichterstatter zum Datenschutz in der digitalen Welt ernannt, meldet Monika Ermert auf Zeit digital. Für die Schaffung des Postens, der nur bescheidene finanzielle Mittel und keinerlei verbindliche rechtliche Werkzeuge erhält, hatte sich unter anderem die Bundesregierung eingesetzt: "Während man sich mit der echten Aufklärung von Grundrechtsverletzungen hierzulande schwer tut und der deutsche Auslandsgeheimdienst BND längst die Zusammenarbeit mit den Diensten der Five Eyes-Länder einräumen musste, schwingt die deutsche Diplomatie in Genf und New York ein Datenschutzfähnchen, könnte man meinen. Von "tiefer Besorgnis" über die Folgen der allgegenwärtigen Abhörpraktiken ist die Rede, von der Gefahr der Profilbildung durch Metadaten und von der Notwendigkeit, die Prinzipien der Rechtmäßigkeit, Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Überwachung zu überprüfen."
Archiv: Internet

Überwachung

Im Jahr 2011 ist die Redaktion des Spiegel ins Visier der amerikanischen Geheimdienste geraten, berichtet der Spiegel. Die Bundesregierung, die davon wusste, verschleierte gegenüber dem Parlament den Sachverhalt: "Damals wurde Geheimdienstkoordinator Heiß durch die CIA-Spitze gewarnt: Es gebe Kontakte des Spiegel in deutsche Regierungsstellen. Konkret verdächtigte die CIA Heiß" Stellvertreter Hans Josef Vorbeck, Dienstliches ausgeplaudert zu haben. Vorbeck wurde kurz darauf innerhalb der Behörde versetzt... Auf Nachfrage des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags wurden die Hinweise aus den USA verschwiegen - für die Versetzung wurden Spargründe angeführt."

Die SZ legt unterdessen weitere Belege für die Ausspähung der Bundesregierung vor, diesmal durch eine Spezialeinheit von NSA und CIA namens Special Collection Service (SCS).
Archiv: Überwachung
Stichwörter: Der Spiegel, NSA-Affäre

Europa

In der Welt wünscht sich Thomas Schmid ein Europa, das nicht nur als Konsens-, sondern auch als Konfliktmaschine funktioniert: "Griechenland läuft - vor allem selbst-, aber auch EU-verschuldet - in ein Chaos und ein Leiden, das man in Europa seit den Römischen Verträgen von 1957 nicht mehr für möglich hielt. Europa wäre das hellenisch intonierte Gedöns nicht wert, das heute gerne von altgriechisch affizierten Feuilletonisten betrieben wird, wenn es nicht in der Lage wäre, das schöne, geschichtsträchtige, aber nicht mehr sehr bedeutsame Griechenland in der EU zu halten, mit oder ohne Euro."
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Stichwörter: Europa, Griechenland

Geschichte

Hartnäckig hält sich der Verdacht, Willy Brandt sei während des Zweiten Weltkriegs im norwegischen und schwedischen Exil als Spion tätig gewesen. Andreas Förster (FR) kann dafür in der geheimnisumwitterten Frahm-Akte im schwedischen Reichsarchiv keine Hinweise finden, dafür aber interessante Einblicke in die Codes und Aktivitäten des Widerstands, die Brandt in seiner Eigenschaft als Journalist in von der Geheimpolizei abgefangenen Briefen an die amerikanische Presseagentur ONA mitteilte: "Büroklammern und Sicherheitsnadeln drücken demnach den Zusammenhalt der Widerständler aus, der aus einem Knopfloch ragende rote Kopf eines Streichholzes stehe für den "rotglühenden Hass" auf die Faschisten. In den Kinos störten Zuschauer durch lautes Husten die Vorführung von deutschen Ufa-Filmen, berichtet Brandt in einem anderen Schreiben."

Der Osteuropa-Historiker Oliver Jens Schmitt widerlegt in der NZZ am Beispiel des Balkans die bis heute in der Türkei propagierte Vorstellung vom Osmanischen Reich als Ordnungsfaktor: "Das Bergland entzog sich der Staatskontrolle fast vollständig, im Nordwesten bestanden die alten Stammesgebiete fort. Muslimische Stammeskrieger plünderten regelmäßig die mehrheitlich muslimischen Städte der Ebenen aus... Besonders deutlich rebellierten ländliche Regionen gegen die staatliche Autorität, wenn sie Steuereintreiber und Volkszählungsbeamte verjagten, das zumeist ausländische Bahnpersonal bedrohten und hohe osmanische Beamte zwangen, mit Draisinen fluchtartig ihre Posten zu verlassen."
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Gesellschaft

taz-Autor Jan Feddersen freut sich über das große Ausstellungsprojekt zu "Homosexualität_en" am DHM und dem Schwulen Museum in Berlin, das die Allgemeinheit auch in Gestalt reisender Schulklassen mit dem Thema konfrontiert, aber er hat auch ein paar politische Fragen: "Wo sieht man die Erosionen des Bildes der Fünfzigerjahrefamilie mit dem Blick auf neue Familien, die das Homosexuelle integrieren? Woran liegt es, dass es kaum Zeugnisse zu sehen gibt, die sich dem eisigen Kampf im Bundestag um zivilrechtliche Anerkennung homosexueller Paare widmen? Warum also ist mehr Nischenhaftiges präsent, als dem Interesse des Mainstreams guttun könnte?"
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Stichwörter: Homosexualität

Urheberrecht

Beim Initiativbericht zum Urheberrecht, den das Europäische Parlament nächste Woche verabschiedet, wird es auch um die Panoramafreiheit gehen, also um das Recht, Abbildungen von dauerhaft im öffentlichen Raum aufgestellten Werken - beispielsweise Gebäuden - auch kommerziell zu verwenden. Im Gespräch mit Carolin Schwarz (FAZ) zeigt sich die EU-Parlamentarierin Julia Reda, die die Panoramafreiheit für ganz Europa festschreiben lassen wollte, verhalten optimistisch: "Dass nach dem öffentlichen Aufschrei über diesen Punkt gesondert abgestimmt werden soll, ist ein gutes Zeichen. Einige Abgeordnete wollen sogar meine ursprüngliche Forderung wiederherstellen. Noch sind alle Möglichkeiten offen: Das Parlament kann auf einer Einschränkung der Panoramafreiheit beharren, dieses Recht anerkennen oder dazu keine Aussage treffen."
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Medien

Große Veränderungen haben sich am gestrigen Freitag bei der taz zugetragen: Nach sechs Jahren erklärte die Chefredakteurin Ines Pohl ihren Rücktritt, sie wird künftig für die Deutsche Welle aus Washington berichten. Ihre Kolleginnen und Kollegen verabschieden sich in der heutigen taz: "In der taz, muss man dazu wissen, bedarf es einer gewissen Leidensfähigkeit im Zwischenmenschlichen." Vielleicht ein Trost: wie die Berliner Zeitung meldet, hat die taz seit gestern ihr eigenes Bier.
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Stichwörter: Deutsche Welle, Pohl, Ines, TAZ