9punkt - Die Debattenrundschau

Vorform der Informationsflut

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2016. Im Standard blickt Marlene Streeruwitz auf die Goldmaries und Pechmaries des Postfeminismus. in der SZ rechnet die Jungfeministin Meredith Haaf mit der "Sorte Frauenrechtlerei" ab, die sie in Emma liest. Die New York Times verzeichnet nach Restriktionen in der Abtreibungspolitik eine Rückkehr zum "Do-it-yourself" in den USA. Es wäre ein Fehler, Donald Trump als Außenseiter zu sehen, meint der New Yorker: Vielmehr verkörpere er alte Tendenzen der Republikanischen Partei, die er jetzt zerlegt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.03.2016 finden Sie hier

Politik

Es hat sich nicht viel geändert für Frauen, meint in einem Essay zum Weltfrauentag im Standard Marlene Streeruwitz mit Blick auf weibliche Zurichtungen in Oscar- und Castingshows. Zwar kann die österreichische Frau seit der Reform des Scheidungsrechts 1978 "endlich die volle Selbstverantwortung übernehmen. Aber tat sie das. Konnte sie das. Oder kam diese Selbstverantwortung wie ja heute auch erst dann richtig an die Oberfläche, wenn die Sache mit dem Ehemann schiefgegangen war. Die Mädchenerziehung unternahm jedenfalls nichts, diese Selbstverantwortung zu einem positiven Faktor der Lebensgestaltung zu machen. Erziehung und Bildung produzierten weiter Goldmaries und Pechmaries, und die Kultur tat das ihrige. Bis heute sitzen diese Goldmaries und Pechmaries in den Tempeln der Hochkultur und lassen sich widerspruchslos mit patriarchaler Kost päppeln."

Die Feministin Meredith Haaf, geboren 1983, lässt in einem SZ-Artikel über Hillary Clintons schlechte Quoten bei Wählerinnen en passant wissen, was sie von den Feministinnen der siebziger Jahre denkt: "So erhob kürzlich die mittlerweile notorisch islamfeindliche Emma im Zusammenhang mit den Vorfällen der Kölner Silvesternacht den Vorwurf, 'jungen Feministinnen' sei die Kritik an der rassistischen Stimmung hierzulande wichtiger als 'die Gefühle der Opfer'. Solidarität ist in dieser Lesart etwas sehr Exklusives, in diesem Fall etwas, das nur für eine bestimmte Gruppe bestimmter Frauen bestimmt ist. Das ist die Sorte Frauenrechtlerei, die auch in rechten Kreisen angekommen ist." (Vielleicht aber auch bei muslimischen Frauen, die sich ebenfalls nicht gern ungefragt an den Hintern greifen lassen?)

Es wäre ein Fehler, Donald Trump als Außenseiter zu sehen, meint David Remnick vom New Yorker, für den Trump vielmehr die Dekadenz der Republikaner repräsentiert: "Heute mag sich das Establishment der Grand Old Party in einer Kernschmelze befinden, aber die Ausbeutung finsterster amerikanischer Unterströmungen begann schon mit Richard Nixons 'Southern Strategy'... Marco Rubio und Ted Cruz, die mit Trump hart um die allerextremste Position im Konservatismus ringen, prangern die Bösartigkeit und Leere Trumps an, aber sie haben ihm einst Reverenz erwiesen - und äffen heute, beim Versuch, Schritt zu halten, seine Vulgaritäten nach."

Eine "Rückkehr der Do-It-Yourself-Abtreibung" in den USA konstatiert Seth Stephens-Davidowitz in der New York Times und zitiert eine Untersuchung des Guttmacher-Instituts, das die Häufigkeit und geografiesche Verteilung von Google-Suchen wie "how to self-abort" untersuchte und natürlich zu dem Ergebnis kam, dass diese Suchanfragen in restriktiven Staaten am häufigsten vorkommen: Insgesamt "waren die Suchanfragen für selbst durchgeführte Abteibungen von 2004 bis 2007 einigermaßen stabil. Ihr Anstieg begann 2008 mit der Finanzkrise und der nachfolgenden Rezession. Einen ganz goßen Sprung um 40 Prozent machten sie im Jahr 2011. Das Guttmacher-Institut streicht 2011 als das Jahr des landesweiten Einknickens in der Abtreibungspolitik heraus. 92 Bestimmungen zur Begrenzung von Abtreibungen wurden erlassen. In Kanada, das seine Politik nicht verändert hat, gab es auch keinen Anstieg solcher Suchanfragen." Wie den US-Abtreibungskliniken die Arbeit durch gängelnde Maßnahmen systematisch erschwert wird, hat kürzlich John Oliver auf seine unvergleichliche Art in der Last Week Tonight Show auf HBO herausgearbeitet.

Im Gespräch mit Jannis Brühl von der SZ erklärt Stephen Goose, Waffenexperte von Human Rights Watch, warum er für ein Verbot automatisierter Waffen eintritt, die noch gar nicht exisiteren: "In hoch entwickelten Armeen gibt es einen Trend zu einer immer größeren Autonomie der Waffen. Algorithmen könnten bald Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Es darf nicht so weit kommen, dass wir keine menschliche Kontrolle über einzelne Angriffe haben. Menschen müssen in die wichtigsten Entscheidungen eingebunden sein, vor allem in die, auf wen gezielt und wer getötet wird."
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Gesellschaft

Peter Glaser denkt in seiner NZZ-Kolumne ein paar Tage nach dem Tod Umberto Ecos, der eine Bibliothek von 50.000 Büchern gehabt haben soll (die er unmöglich alle gelesen haben kann, wie Glaser nachrechnet) übers Büchersammeln nach: "Diese Ozeane aus Gedrucktem, die man Bibliothek nennt, sind die analoge Vorform der Informationsflut, die wir nun im Internetzeitalter neu bändigen müssen. Viele kennen die sonderbaren Übergangserscheinungen zwischen dem Gedruckten auf Papier und den nur noch geistesleicht leuchtenden Zeilen am Bildschirm. Da gibt es in Japan etwa den Begriff 'Tsundoku'", mit dem das ständige Kaufen von Büchern bezeichnet wird, die nur gestapelt, aber nicht gelesen werden."

Außerdem: In der NZZ denkt der Soziologe Walter Siebel in einem Essay über Stadtentwicklung und die Dienstleistungsgesellschaft nach. Aldo Keel besucht für die NZZ Island und notiert: "Island erholt sich gut von der Krise, die Arbeitslosigkeit liegt unter der Dreiprozentmarke. Die positive Grundbefindlichkeit widerspiegelt das 'Wort des Jahres': Der Neologismus fössari (abgeleitet von föstudagur, 'Freitag') meint den vergnüglichen Beginn des Freitagabends. 'Schnappen wir uns ein fössari!' - ein Freitagabendbier."
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Medien

(Via turi2) Lokalfernsehsender scheitern immer häufiger, jetzt auch NRW.tv des einstigen Granden Helmut Thoma, berichtet Markus Ehrenberg im Tagesspiegel: "Hauptgrund für das notorische Scheitern von Lokalfernsehen ist nach Thoma die Tatsache, dass der TV-Werbemarkt zu 93 Prozent von Mediaagenturen beherrscht werde. 'Diese haben kein Interesse daran, Regionalfernsehsender zu bedenken, da diese für die Planung aufwendiger sind. Die Mediaagenturen schaufeln daher das gesamte Werbegeld zu den beiden großen nationalen Werbegruppen RTL Television und ProSieben Sat 1.'"

Ebenfalls im Tagesspiegel verzeichnet Martin Niewendick das Blühen und Gedeihen von Wladimir Putins deutschem Propagandasender RT Today, der auch in Berlin mit seinen 170.000 russischsprachigen Einwanderer eine treue Gefolgschaft hat. Offenbar bewegt sich der Sender nicht mehr ganz so deutlich im rechtspopulisischen Umfeld: "Wurden anfangs Redner aus dem Pegida-Umfeld zum Plausch ins Studio geladen oder deren Gegner pauschal diffamiert, gab es in der letzten Zeit immer wieder Beiträge, die sich mit der teils katastrophalen Situation von Geflüchteten beschäftigen. Einige Pegida-Aufmärsche werden allerdings immer noch unkommentiert per Live-Schalte übertragen. Und so wuchern in den Kommentarspalten nach wie vor wilde Verschwörungstheorien über Flüchtlinge, Angela Merkel und den Westen."

Die Übernahme der Zeitung Zaman durch die türkische Regierung ist "Teil umfassender Repression gegen sämtliche regierungskritische Medien in der Türkei", resümiert in der taz Jürgen Gottschlich und zählt auf: "Dem Chefredakteur der linken Cumhuriyet, Can Dündar, droht in einem am 25. März beginnenden Prozess eine lebenslange Haftstrafe. Die linke Birgün wird mit dauernden Geldstrafen wegen Beleidigung des Präsidenten überzogen und ist deshalb fast pleite. Und das größte Verlagshaus, das noch nicht auf Erdoğan-Kurs ist, die Doğan Holding, wurde ebenfalls so massiv unter Druck gesetzt, dass die wichtigsten Erdoğan-kritischen Journalisten mittlerweile gefeuert wurden."

Die Zaman-Redakteure haben inzwischen eine neue Zeitung gegründet, Yarina Bakis. Ob sie sich halten kann, weiß Zaman-Kolumnist Joost Lagendijk im Interview mit der taz auch nicht. Er hofft auf die EU: "Ich gehöre nicht zu den Leuten die sagen, die EU dürfe überhaupt nicht mit dieser Erdoğan-Regierung reden oder verhandeln. Die EU braucht wegen der syrischen Flüchtlinge einen Deal mit Ankara. Nur wenn man miteinander redet, hat man auch die Chance, Einfluss zu nehmen. Allerdings erwarte ich, dass heute wenigstens einige hochrangige europäische Politiker dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davu­toğlu sagen, dass eine EU-Annäherung so nicht möglich ist."

Zeit online wird zwanzig (der mit knapp 16 Jahren noch knackfrische Perlentaucher gratuliert!) Online-Chef Jochen Wegner erzählt: "Dem Start stimmte man bei der stets frugalen Zeit nämlich 'nur unter der Bedingung zu, dass die ganze Sache nicht mehr als 20.000 DM kostet. Auch eine halbe Stelle wurde genehmigt', erinnert sich Christian Ankowitsch, der erste Online-Chef."
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Überwachung

Fünf neue Länder wollen ihre historischen Kompetenzen zusammenfassen und planen ein gemeinsames Überwachungszentrum, das offenbar besonders die Telekommmunikation im Blick haben soll. Netzpolitik veröffentlicht den Entwurf des Staatsvertrags für dieses Zentrum. "Im GKDZ sollen Fähigkeiten der Polizeien von Berlin, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Thüringen im Bereich Telekommunikationsüberwachung gebündelt werden", schreibt Anna Biselli. dpa schreibt (unter anderem bei Zeit online): "Völlig unklar ist bislang, mit welchen Kompetenzen das Zentrum ausgestattet werden und wie der Datenschutz sowie die parlamentarische Kontrolle gewährleistet werden sollen. Nicht einmal den Parlamentariern der Länder wurde der Vertragsentwurf zugänglich gemacht."

Außerdem: In ihrer Maschinenraum-Kolumne in der FAZ warnt Constanze Kurz vor dem Cyberkrieg der USA gegen den Islamischen Staat.
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Wissenschaft

Vor 500 Jahren verbot die Inquisition Kopernikus' Buch "De Revolutionibus Orbium Coelestium", das erstmals die Sonne ins Zentrum des Universums stellte. Bevor es auf den Index kam, hatte man es allerdings eifrig studiert, erzählt Arno Widmann in der Berliner Zeitung: "Seine Thesen waren umstritten. Sie wurden bekämpft, aber Nikolaus von Schönberg (1472-1537), Gesandter des Papstes und Kardinal von Capua, schrieb ihm schon 1536, dass er von seiner Theorie 'vor ein paar Jahren' gehört habe, und er würde ihm gerne einen Schreiber bezahlen, der Kopernikus' Text kopieren und ihm zuschicken könne. Dann hätte er, Schönberg, Zeit, Kopernikus' heliozentrische Erörterungen in Ruhe zu studieren. Auch Papst Clemens VII. wollte alles genau wissen. Nicht aus Verfolgungseifer, sondern weil er an astronomischer Forschung und neuen Sichtweisen interessiert war."

Außerdem: Die Basler Philosophin Brigitte Hilmer erinnert in der NZZ an den Philosophen, Arzt und Politiker Ignaz Paul Vital Troxler, der vor 150 Jahren starb.
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Europa

Wenn deutsche Politiker die AfD nicht ernst nehmen oder einfach ignorieren, wird es ihnen ergehen wie ihren französischen Kollegen mit dem Front national, der heute die franzöische Politik dominiert, warnt Christophe Bourdoiseau, der Deutschland-Korrespondet des Parisien in einem Gastkommentar für die Süddeutsche: "Die deutschen Politiker müssen Kurs halten. Sie sollten Argumente für den Rechtsstaat und für die Demokratie liefern, kein Verständnis zeigen für die Rechten. In Frankreich hieß es früher, der FN stelle gute Fragen, habe aber keine gute Lösung. Inzwischen sehen die Franzosen den FN doch als echte Alternative. Schritt für Schritt erlebe ich in Frankreich seit 20 Jahren einen Rückzug des Rechtsstaats."

Der französische Premierminister Manuel Valls macht sich mit seiner Kritik an universitären Milieus nicht unbedingt Freunde. Neulich verteidigte er Kamel Daoud gegen eine Petition von "Experten", die dem Autor "Islamophobie" vorgeworfen hatten (unser Resümee). Aber schon bei der Gedenkfeier für die Opfer des Anschläge auf den jüdischen Supermarkt im Januar hatt er gesagt: "Ich habe genug von den soziologischen oder kulturellen Erklärungen oder Entschuldigungen, für das, was sich abgespielt hat." Darauf antwortet jetzt eine ganze Gruppe von Soziologen, die von der französischen Regierung beauftragt war, nach Ursachen der Radikalisierung zu suchen und die ein siebzigseitiges Papier (hier als pdf-Dokument) vorlegt, berichtet Jean-Baptiste de Montvalon in Le Monde: "Die Lehren der Sozialwissenschaftten sind die beste Art, gegen alle Formen des Terrorismus zu kämpfen." Es sollen mehr Stellen geschaffen werden.

Der Nationalstaat ist überholt, behauptet die Politologin Ulrike Guérot im Tagesspiegel. Machen wir einfach die Grenzen auf, lassen die Flüchtlinge kommen und geben jede Form der Integrationshilfe auf - wie in Amerika: "Wie wäre es, wenn Flüchtlinge in Europa Bauland zugewiesen bekämen, benachbart zu den europäischen Städten, aber in einem Abstand, der die Andersartigkeit wahrt. So entstehen Neu-Damaskus und Neu-Aleppo oder Neu-Madaya inmitten von Europa. Kurz: Wir verzichten auf Integration. Wir respektieren Andersartigkeit - und lassen die Neuankömmlinge in ihrer Andersartigkeit unter sich alleine. Europa gibt Bebauungsland als Starthilfe, das erschlossen ist, also angebunden an Infrastruktur, das aber ansonsten frei zur Gestaltung durch die Neuankömmlinge ist." Zweihundert Jahre später, hofft Guérot, "erinnert - ähnlich wie New Hannover oder Paris (Texas) oder Vienna (Virginia) in den USA heute - nur noch der Stadtname daran, dass die Stadtgründer einst aus einer anderen Welt kamen".
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