9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Art Menschmodul

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2016. Keine gute Diagnose stellt Roberto Saviano laut Guardian dem Finanzplatz London - er sei das Einfallstor kriminellen Kapitals, das dann in Finanzparadiese verschwindet. Zeit online porträtiert den Philosophen Nick Bostrom, der darüber nachdenkt, wie die Menschheit die KI an die Leine nehmen kann. Tausende Kunstwerke höchster Qualität sind der Öffentlichkeit entzogen, weil Oligarchen sie in Freihäfen lagern, berichtet die New York Times
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.05.2016 finden Sie hier

Europa

Keine gute Diagnose stellte Roberto Saviano auf dem Hay Festival dem britischen Finanzplatz aus. Laut Dan Carrier im Guardian sagte er: "Wenn Sie mich fragen, wo der korrupteste Ort auf Erden sei, werden Sie denken, es ist Afghanistan, Griechenland, Nigeria, Süditalien. Aber ich sage, es ist Britannien. Nicht die britischen Beamten, Polizisten oder Politiker, aber die Finanzkapitale. Neunzig Prozent der Kapitaleigner in London haben ihre Hauptquartiere offshore. Jersey und die Caymans sind die Einfalltore für kriminelles Kapital in Europa, und Großbritannien ist das Land, dass das erlaubt."

Gabriele Goettle porträtiert in ihrer monatlichen taz-Reportage den Dresdner Aktivisten Albrecht von der Lieth, der die Proteste gegen Pegida mit organisiert und überraschende Bündnispartner fand: "Die Sportvereine haben ihr Couscous-Essen gemacht. Und die Wirtschaft gründete das so genannte City Management, eine findige Initiative von Geschäftsleuten, um die Shopping-Flaute in der Innenstadt zu bekämpfen. Unter dem Slogan 'Dresden geht aus' soll nicht etwa demonstriert werden, nein, die Dresdner sollen künftig jeden Montag von 17 bis 20 Uhr mit speziellen Events, freiem Streichquartett und Rabattaktionen und so weiter dazu verlockt werden, zum Shoppen anzumarschieren, um den zwanzigprozentigen Umsatzverlust wieder auszugleichen."

Das Recht in den modernen Nationen Europas verdankt sich nicht den Nationen, sondern einer jahrhundertelangen Entwicklung, die europäisch war, bevor sie national wurde, sagt der Rechtshistoriker Michael Stolleis in einem Vortrag, den die FAZ dokumentiert, mit Blick auf den überall neu aufblühenden Nationalismus. "Grundlagen der europäischen Rechtskultur sind in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen erstritten worden. Von ihnen darf sich das heutige Europa nicht dispensieren."
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Ideen

Auf Zeit online porträtiert Stefan Schmitt den in Oxford zur Künstlichen Intelligenz forschenden schwedischen Philosophen Nick Bostrom. Als Apokalyptiker fürchtet Bostrom, dass die KI den Menschen eines Tages degradieren oder gar auslöschen könnte. Als Fortschrittsoptimist ist er begeistert von den Versprechungen der KI. Man muss sie eben zähmen, meint Bostrom. "Wie stelle man sicher, dass eine übermenschliche Maschine unsere Werte und Normen bei ihren Entscheidungen beachte? Darüber grübeln sie gerade am Future of Humanity Institute. Eine simple Liste mit ethischen Regeln ist längst vom Tisch (auf so etwas könnten sich Menschen ja nicht mal untereinander einigen, geschweige denn es einer Maschine vermitteln). Stattdessen sollen künftige KIs Menschen und ihr Verhalten beobachten, ihre Schriften analysieren und alle Lehren daraus in einer Art Menschmodul speichern, das dann stets mitentscheidet ... - so was in der Richtung. 'Indirekte Normativität' nennen sie das in der St. Ebbes Street. Dafür heuert Bostrom gerade Informatiker an."

Im Interview mit der SZ sieht uns der Wissenschaftsautor John Markoff noch weit entfernt von einer echten Künstlichen Intelligenz, die mit eigenem Bewusstsein ausgestattet ist: "Das kann ich mir nur schwer vorstellen, weil wir gar nicht verstehen, was Bewusstsein überhaupt ist. Sicher werden die Neurowissenschaften immer besser. Meine Science-Fiction-Hoffnung ist ja, dass wir herausfinden, dass das Hirn ein Quantencomputer ist, und wir dann eines Tages einen funktionierenden Quantencomputer bauen. Aber bevor wir das menschliche Bewusstsein nicht wirklich begreifen, ist es lächerlich, solche Debatten zu führen."

Außerdem: Für glanzundelend.de liest Wolfram Schütte Gerd Uedings Erinnerungen an Ernst Bloch.
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Überwachung

Nichts spricht gegen einen Schutz von Whistleblowern in Geheimdiensten und der öffentlichen Verwaltung, schreibt Constanze Kurz in ihrer FAZ-Kolumne: "Sofern man sich nicht mit undemokratischen, rechtsbrüchigen oder ethisch deformierten Strukturen abfinden möchte, liegen doch die Vorteile im öffentlichen Interesse auf der Hand, insbesondere bei der Bekämpfung der Korruption und des Machtmissbrauchs."
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Kulturmarkt

Tausende von Kunstwerken meist hoher und höchster Qualität sind der Öffentlichkeit entzogen und lagern in Freihäfen als Vermögensanlage superreicher Sammler, schreiben Graham Bowley und Doreen Carvajal in der New York Times: "Diese Freihäfen liegen in Städten und Ländern mit geringen Steuern und bieten ein Sparpotenzial und eine Sicherheit, die Sammler und Händler fast unwiderstehlich finden. (Wer ein Gemälde für 50 Millionen Dollar in New York kauft, muss mit einer Verkaufssteuer von 4,4 Millionen Dollar rechnenen. Bringen Sie das Werk in einen Freihafen, und der Steuerbecheid verschwindet, zumindest so lange, bis Sie das Werk nach New York zurückbringen.) Mindestens vier Freihäfen spezialisieren sich in der Schweiz auf Kunst und andere Luxusgüter wie Wein und Juwelen, und rumd um die Wrelt sind vier neue Häfen eröffnet worden, in Singapur, Monaco, Luxemburg und Newark, Delaware."
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Gesellschaft

In der NZZ erklärt der malische Schriftsteller Mohomodou Houssouba die Bedeutung des Handys in Afrika - für Geldüberweisungen, politische Aktionen und Kommunikation mit der Außenwelt, wie Houssouba durch einen Anruf aus der malischen Kleinstadt Bourem lernte: "Dort hatte ein junger Mann von meiner Informationsveranstaltung gehört und wollte mich für sein 'Radioprogramm' interviewen. Ich erfuhr, dass er seine Sendungen und Interviews - alle auf Songhay - einzig mithilfe eines Smartphones aufzeichnet und via Whatsapp in die ganze Welt ausstrahlt; seither höre ich sein Programm regelmäßig, sogar hier in der Schweiz. Dieser Pionier ist beileibe kein Einzelkämpfer, sondern Teil eines ganzen Archipels von Netzwerken, die sich mit viel Cleverness und minimaler technischer Infrastruktur ins World Wide Web einbringen. Computer, Breitbandanschluss? Solchen Luxus hat man nicht, eine SIM-3G-Karte im Mobiltelefon muss reichen."
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Internet

Schwarz-weiß und ziemlich oberflächlich werden in Deutschland die Debatten über die Folgen der Digitalisierung geführt, meint Johannes Kuhn in der SZ. Beispiele: Als Airbnb aufkam, wurde es praktisch nur als Konkurrenz zu Hotels gesehen. "Auf den ersten Blick ging es wirklich nur um das Geschäft mit den Übernachtungen; inzwischen ist klar, dass der Erfolg solcher Zimmervermietungen das Miet- und Wohnraumgefüge in Städten verändert - und damit auch deren Sozialstruktur. Ein Dienst wie Uber wiederum wird auf die Folgen für die Taxi-Industrie abgeklopft, obwohl die Technologie und Geschäftsmodell ganz andere Fragen aufwerfen: Wenn man die Stehzeit eines Autos, die bisher 90 Prozent beträgt, besser nutzt, bietet das die Chance, den Nahverkehr in Städten neu zu ordnen. Doch welche Rolle hat dabei die öffentliche Hand, welche die Privatwirtschaft? Statt über eine Alternative nachzudenken, die auf lokalen Kooperationen aufbaut, ist das Thema jedoch in vielen deutschen Städten per Verbot erledigt, der Status quo siegt vorerst."

In der NZZ sieht der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider im Internet dagegen nur eine gefährliche Heilsutopie sozialistischer Netz-Gemeinschaften.
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Religion

Die Verhältnisse zwischen der AfD und der katholischen Kirche sind recht gespannt, resümiert Philipp Gessler in der taz nach dem Leipziger Katholikentag: "Allerdings findet sich auch in der katholischen Kirche ein stramm rechtes Milieu. Zwar gibt es Studien, wonach Kirchenmitglieder unter den Anhängern der AfD im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung unterrepräsentiert sind. Aber die gerade unter Rechtspopulisten populäre Verherrlichung der traditionellen Familie sowie die Verurteilung von Homosexualität und Gender-Theorie ist für ultrakonservative Christinnen und Christen durchaus attraktiv."

Jetzt online auch der FR-Kommentar von Arno Widmann zum "Böckenförde-Dilemma", der auch noch mal die fast nicht thematisierte weitgehende Finanzierung des Katholikentags durch die öffentliche Hand ansprach: "Was machen wir, wenn demnächst ein paar muslimische Verbände ihre Veranstaltung subventioniert sehen möchten? Wir werden uns weiter säkularisieren müssen. Wenn wir uns nicht gewaltige Schwierigkeiten bereiten möchten."
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