9punkt - Die Debattenrundschau

Das haben wir in Bagdad jeden Tag

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.07.2016. "Stop it Now", ruft der Guardian mit Blick auf die Belagerung Aleppos. Die syrisch-russische Verkündung von "humanitären Korridoren" sei ein Hohn. Zeit online schildert die Nöte atheistischer Flüchtlinge, die in den Heimen drangsaliert werden. In der taz erklärt Klaus Theweleit, wie es wirklich um die Gewalt junger Männer steht.  Spiegel online zeichnet den Streit zwischen Edward Snowden und Wikileaks nach.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.07.2016 finden Sie hier

Politik

Die beschämende Gleichgültigkeit der Weltöffentlichkeit gegenüber der Kriegspolitik des syrischen Regimes und seiner russischen und iranischen Verbündeten lässt sich offenbar auch nicht von den Geschehnissen in Aleppo aufstören. "Stop it Now", heißt es im Guardian-Editorial mit Blick auf die Schlacht um die Stadt: "Die syrische Regierung und ihre russischen Alliierten greifen auf eine Taktik der Belagerung und Aushungerung zurück, die sie auch vorher einsetzten, aber nie so massiv und offen. Ihre Ankündigung 'humanitärer Korridore' für Zivilisten und Rebellen, die aus dem Gebiet fliehen wollen, muss als zynische Manipulation herausgestrichen werden. Es ist keine Überraschung, dass die Bevölkerung Aleppos diesen Exit-Korridoren, die sich auf dem Terrain ohnehin noch nicht manifestiert haben, nicht zuströmt. Den Versprechungen des Regimes kann man nicht glauben." Eine überraschend ausführliche Analyse zu den angeblichen "humanitären Korridoren" findet sich bei bild.de.

Außerdem zum Thema: Im Tages-Anzeiger würdigt Luca De Carli die Arbeit der "Organisation namens Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Sohr)" für die Syrien-Berichterstattung - ohne sie kämen Medien und Nachrichtenagenturen nicht aus.
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Stichwörter: Aleppo, Syrien

Medien

Die in der Türkei verhafteten Journalisten werden zum Teil unter unwürdigen Verhältnissen festgehalten, schreibt Yavuz Baydar in der SZ. Zu den Verhafteten gehört der 80-jährige Schriftsteller Hilmi Yavuz, einer der großen Autoren der türkischen Literatur. Ihm werden Medikamente, die er täglich braucht, verweigert. Angehörige bekommen keinen Kontakt zu ihm. Ähnlich steht es um den 72-jährigen Kolumnisten Şahin Alpay. "Noch trauriger macht mich die Tatsache, dass weder der türkische oder der internationale PEN noch heimische oder internationale Akademikerkreise bisher gegen diese beiden völlig absurden Verhaftungen protestiert haben. Hilmi Yavuz ist einer der großen alten Männer der türkischen Literatur - und die Kunst- und Literaturwelt schweigt."
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Europa

"Ex-Muslim" ist keine Kategorie, in der Flüchtlinge wahrgenommen werden. Dabei haben es Atheisten unter den Flüchtlingen besonders schwer, schreibt Marcus Latton bei Zeit online: "Wie Mehrad Naseri. Er flüchtete aus dem kurdischen Teil des Iran, weil er in seiner Buchhandlung religionskritische Werke verkauft hatte und unter Druck geriet. In seinem Flüchtlingsheim in der Nähe von Köln wohnt er mit acht anderen Männern aus Afghanistan und Syrien in einem Zimmer. 'Ich darf nichts gegen Religion sagen und habe Angst', sagt Naseri. Als er während des Ramadans nicht fastete, wurde er von seinen Mitbewohnern als unechter Muslim beschimpft. Deutschland sei doch ein säkulares Land, sagt er. "
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Internet

Edward Snowden hat per Twitter Wikileaks kritisiert, berichtet Angela Gruber bei Spiegel online. Die Hacker waren wegen zweier Leaks, die die Türkei und die Demokratische Partei in den USA betrafen, in den letzten Tagen in harsche Kritik geraten (unsere Resümees). Snowden stört das unkuratierte Ausspucken von Daten (wobei anzumerken ist, das die Daten türkischer Frauen nicht, wie jüngst berichtet wurde, von Wikileaks freigegeben worden waren). Guber hält fest: "Wikileaks hatte von Snowden keine Dokumente erhalten. Die Organisation unterstützte ihn aber bei seiner Flucht nach Russland und half ihm, dort Asyl zu bekommen. Dass er öffentlich so harte Worte für WikiLeaks findet, ist daher bemerkenswert." Snowden selbst zieht es vor, mit Medien zu kooperieren. Die Diskussion zwischen Wikileaks und Snoden auf Twitter ist nicht gerade freundlich. Wikileaks schreibt: "Opportunismus wird dir auch keine Gnade von Clinton einbringen."
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Wissenschaft

Die taz bringt die Tierethikerin Ursula Wolf mit dem Biologen Stefan Treue zum Streitgespräch über Tierversuche zusammen. Für Treue geht es um eine Abwägung "des potenziellen Nutzens gegenüber dem Leiden, das mit einem Tierversuch einhergeht". Das will Wolf - trotz eines mit Affenversuchen gewonnen Impfstoffs gegen Ebola - nicht einsehen: "Es ist die übliche Rede zu sagen: Wir müssen abwägen. Es heißt dann gern, es steht Leiden gegen Nutzen. Oder umgekehrt soll Leiden gegen Leidensverhinderung stehen. Nutzen heißt aber in dieser Argumentation immer nur, dass Menschen weniger leiden. Um den Nutzen für die Tiere, die für diese Versuche verwendet werden, geht es nicht, er interessiert nicht - und er ist auch nicht vorhanden."
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Stichwörter: Tierversuche, Impfstoffe, Ebola

Ideen

Islamkritik diene eben doch nur rechten Vorurteilen, schreibt Houssam Hamade in Antwort auf einen taz-Essay Ahmad Mansours (unser Resümee), dem er Unwissenschaftlichkeit vorwirft. Schon Mansours Buchtitel "Generation Allah" verzerre: "Auf Grund seiner an sich sehr zu begrüßenden Tätigkeit als Präventionsarbeiter gegen Salafismus wird er berufsbedingt ständig auf 'Problemkinder' treffen, was seine Wahrnehmung beeinflusst. Die jungen Migrantentöchter und Migrantensöhne, die ich kenne, scheinen mir jedenfalls nicht zu dieser 'Generation Allah' zu gehören, werden aber durch solche Zuschreibungen stigmatisiert. Stigmatisierungen und damit verbundene Vorurteile sind ein wesentlicher Faktor in einem von französischen und amerikanischen Wissenschaftlern unlängst nachgewiesenen Teufelskreislauf aus Ausgrenzung und Integrationsverweigerung."

Klaus Theweleit gehört mit Herfried Münkler und Gunnar Heinsohn zu jenen Großdenkern zum Thema Gewalt junger Männer, die zutiefst überzeugt sind, dass nur sie recht und alle anderen grotesk unrecht haben. Theweleit spricht im taz-Interview mit Jan Feddersen islamistischen Selbstmordattentätern, die er in eine Reihe stellt mit Andres Breivik oder den Täter von München, jegliche politische Motivation ab und sieht alle gleichermaßen als Opfer einer "Grundstörung". Der Einzelfall müsse zwar studiert werden. "Eine Zuordnung zu spezifischen Kulturen ist aber keinesfalls möglich. Die Tötungsformen von Männern mit der beschriebenen 'Grundstörung' sind weltweit sehr ähnlich, sind universal. Und geschehen momentan - das hat politische Gründe - überwiegend im Nahen Osten. Der Kommentar irakischer Flüchtlinge zu den jüngsten Attentaten in Deutschland lautet: 'Das haben wir in Bagdad jeden Tag.'"

Sehr viel pragmatischer formuliert es bei den Kolumnisten Heinrich Schmitz, der mit Blick auf die Amokläufer die psychiatrische Unterversorgung des Landes anprangert: Auch "unter den bei uns lebenden Menschen aus Kriegsgebieten sind viele traumatisierte zu erwarten. Auch die brauchen eine schnelle fachärztliche oder psychologische Behandlung. Die können sich unbehandelt zu Zeitbomben entwickeln und sind selbstverständlich, wenn sie ohne qualifizierte Hilfe bleiben, ein gefundenes Fressen für die Werber des IS. Was gibt es für den IS besseres, als entwurzelte, psychisch kranke Menschen, die ohnehin sterben wollen und denen man mit einem Selbstmordattentat noch eine Art von Sinn im Leben und die Aufnahme in das Paradies verkaufen kann?"
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Gesellschaft

Im Welt-Interview mit Marc Reichwein spricht der Kulturhistoriker Klaus Zeyringer über den Nationalismus im Sport, darüber, was Richard Wagner mit Olympia zu tun hat und inwieweit man an den Olympischen Spielen gesellschaftliche und mediale Entwicklungen ablesen kann: "Seit Jahren betonen Politiker und Sportverbände, alles würde immer globaler und internationaler. Unter Kulturwissenschaftlern breitete sich die Vorstellung aus, dass der Nationalstaat bald ganz abgedankt haben könnte. Doch wenn Sie sich Olympia der letzten zehn bis fünfzehn Jahre ansehen, stimmt das alles überhaupt nicht. Man kann eigentlich schon den Beginn der Olympischen Spiele nicht ohne die Moderne und den Kolonialismus mit seiner Idee der Völkerschau verstehen. In den Zwanzigern wächst die mediale Verstärkung, ab den Sechzigern definiert das Fernsehen, was Olympia ist."

Außerdem: In diesen Tagen werden Nachbarn wichtiger, schreibt Joachim Güntner in der NZZ und plädiert für eine klare Unterscheidung: "Nachbarschaftswachen sind, obgleich beide oft in einem Atemzug genannt werden, keine Bürgerwehren." In der Welt fragt sich Sarah Maria Brech, warum sie nach Prenzlauer Berg gezogen ist, wo doch Trier inzwischen genauso hip ist.
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