9punkt - Die Debattenrundschau

Keine Zeile und keine Sekunde

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2016. Die SZ berichtet über die traurige Reise einer Népszabadság-Delegation nach Wien. Leider sind die sexistischen Bemerkungen des nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari in Gegenwart Angela Merkels eher charakteristisch für das Land, schreibt die nigerianische Anwältin Sede Alonge im Guardian. This is Colossal verliebt sich in den Vorderfuß eines Gemeinen Furchenschwimmers - oder genauer in ein Bild davon. Die FAZ skizziert zu Beginn der Buchmesse die Lage am Markt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.10.2016 finden Sie hier

Politik

Die New York Times bringt vier Hommagen amerikanischer Autorinnen und eines Autors an Michelle Obama, und das hat etwas von "Damenprogramm": Warum macht die New York Times das in ihrem Stil-Magazin und nicht auf ihrer Meinungsseite? Die Texte werden als "Four thank-you notes" an die First Lady präsentiert. Es schreiben Chimamanda Ngozi Adichie, Gloria Steinem, Jon Meacham und Rashida Jones. Selbst Steinems Text klingt nicht gerade nach politischer Würdigung: "Nach einem Jahrzehnt unter dem öffentlichen Mikroskop hat sie etwas geschafft, das keine First Lady bisher - und wenige öffentliche Personen - geschafft haben: Sie hat ein öffentliches Leben gelebt, ohne ihre Privatsphäre und Authentizität zu opfern. Sie hat ihren Ehemann zugleich humaner erscheinen lassen und als Präsident Wirksamkeit verliehen, indem sie seine Dolmetscherin und Verteidigerin war. Aber sie war auch fähig, seine Kritikerin zu sein."

Bei einer Pressekonferenz mit Angela Merkel reagierte der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari verstimmt auf die Frage nach der Kritik, die seine Frau Aisha Buhari kürzlich an seiner Politik übte: Ihr Platz sei in der Küche, im Wohnzimmer und "in dem anderen Raum". In einem späteren Interview bekräftigte er das. Soll alles nur ein Scherz gewesen sein, aber im Guardian zeigt sich die nigerianische Anwältin Sede Alonge nicht amüsiert: "Man kann das als Tirade eines 73-Jährigen mit vorgestrigen Ansichten abtun, aber die traurige Wahrheit ist, dass diese Aussagen die Mehrheitsmeinung in einer unverdrossen patriarchalen Gesellschaft sind. ... Unicef-Statistiken zeigen, das Nigeria die höchste Anzahl an Kinderbräuten in Afrika hat. 23 Millionen Mädchen und Frauen wurden im Kindesalter verheiratet. Nordnigeria, wo Buhari herkommt, hat die höchste Verbreitung an Kinderehen im Land. Die Region ist hauptsächlich muslimisch geprägt und 'islamische Tradition' wird meist als Rechtfertigung für solche Praktiken gebraucht."

Außerdem: Im Zeitblog 10 nach 8 erzählt Elke Bredereck von ihrer Reise nach Tschetschenien. Anders als vor 20 Jahren strotzt die Hauptstadt Grosny heute "vor hohen Prachtbauten, die gesamte Innenstadt wurde nach dem zweiten Krieg, der von 1999 bis 2009 dauerte, neu errichtet. Schilder mit der Aufschrift 'Wir lieben unsere Stadt' wechseln sich ab mit riesigen Plakaten des Präsidenten Ramsan Kadyrow."
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Europa

Paul Taylor  sucht in politico.eu nach Gründen dafür, dass Theresa May und ihr Kabinett einen solch harten Brexit-Kurs fahren: "Da sie den Widerspruch zwischen Zugang zum Gemeinsamen Markt und der Kontrolle von Migration nicht lösen können, leugnen sie einfach, dass er besteht. Vielleicht glauben einige von ihnen, dass europäische Regierungen, die unter dem Druck ihrer eigenen Populisten stehen, ohnehin bald die Freizügigkeit in einem Sinne neu definieren müssen, der mit den Sorgen der britischen Wähler übereinstimmt."
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Wissenschaft



In This is Colossal stellt Jobson kurz die fotografischen Arbeiten des Neurobiologen Igor Siwanowicz vor. Die wunderbar farbigen Bilder wurden mit einem konfokalen Laser-Scanning-Mikroskop gemacht, das viel mehr Details erfasst als jedes normale Mikroskop. Im Bild der Vorderfuß eines Gemeinen Furchenschwimmers (Acilius sulcatus). Mehr über seine Arbeit kann man in einem schon etwas älteren Interview mit Wired nachlesen: "Lately he's focused on proprioceptors -- sensors that coordinate balance and spatial orientation, like the inner-ear vestibular system of mammals -- in dragonfly necks. 'They're totally fascinating,' Siwanowicz said. 'They have this huge head that rests on this one point, and those sensors communicate directly to wing and abdomen muscles. It's stabilized inertia. That direct neck-to-abdomen link hadn't been found before. I'm finding something new every other week.'"
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Stichwörter: Dragonfly, Thonet

Kulturmarkt

Zu Beginn der Frankfurter Buchmesse skizziert Andreas Platthaus in der FAZ die Lage am Markt: "Der vielfach vorhergesagte Siegeszug der E-Books ist nicht eingetreten; außer in den Vereinigten Staaten hat das elektronische Publizieren nirgendwo dreißig Prozent des Umsatzes im Buchhandel überschritten, und dieser Anteil wurde schon vor zwei Jahren erreicht, seitdem sind die Zahlen in Amerika rückläufig. Auf dem deutschen Markt machen E-Books nicht einmal fünf Prozent aus. Mehr gedruckte Bücher werden trotzdem nicht verkauft, der Konzentrationsprozess in der Branche ist in vollem Gange."
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Medien

Sehr traurig liest sich Cathrin Kahlweits SZ-Bericht über die Reise einer kleinen Népszabadság-Delegation nach Wien, wo sie das Gespräch mit dem Eigentümer Heinrich Pecina suchte, der das wichtigste Oppositionsblatt Ungarns sang- und klanglos geschlossen hat. Pecina war nicht da, die Delegation musste wieder abreisen. "Die machtlose Redaktion, die in mehr als einer Hinsicht auf der Straße steht, vermutet, Pecina habe sich hinter den Kulissen auf einen wie auch immer gearteten Deal mit der Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán eingelassen, unter dessen Ägide immer mehr kritische Medien verstummen. Zuletzt hatte das Blatt eine Reihe von investigativen Berichten über Orbáns Kabinettschef Antal Rogan gebracht. Allerdings hätten regierungsnahe Medien und Onlineportale wie Origo, VS.hu oder TV2 keine Zeile und keine Sekunde darüber berichtet."

(Via Altpapier) Beunruhigende Perspektiven malt Uwe Vorkötter, ehemals Chefredakteur der Berliner Zeitung, in Horizont für den Berliner Verlag an die Wand, zu dem die Berliner Zeitung und der Berliner Kurier gehören. Der Verlag, ein Teil der Dumont-Gruppe, soll demnächst in kleinere Räume umziehen. Vorkötters Vermutung: "Eine neue Gesellschaft - oder die nicht tarifgebundene Redaktionsgemeinschaft - übernimmt die Herstellung der beiden Zeitungen. Eigentlich führt das zu einem Betriebsübergang mit allen Rechten für die bisherigen Mitarbeiter. Gibt es Möglichkeiten, das Recht auszuhebeln? Vielleicht ja, sagen Arbeitsrechtler. Aber nur unter extremen Voraussetzungen: wenn die neue Firma ihren Geschäftsbetrieb in neuen Räumen aufnimmt (was beim Umzug der Fall ist), wenn nur ein sehr kleiner Teil der bisherigen Mitarbeiter angestellt wird, am besten keine Führungskräfte."

Aus einer Studie der Forscherin H. Iris Chyi und ihres Kollegen Ori Tenenboim schließt Jack Shafer in politico.com, dass Zeitungen eventuell einen Riesenfehler gemacht haben, als sie in Online investierten. Inzwischen, so Shafer, geht sogar die Online-Leserschaft der Zeitungen zurück: Wie Chye erklärt, "Die Printprodukte mögen zwar auf dem Abstieg sein, aber sie erreichen in den Heimatmärkten immer noch mehr Leser als das scheinbar  vielversprechende Digitalprodukt. Dieser Trend gilt für alle Altersgruppen. Und angesichts all der Kosten für den Aufbau, die Programmierung und das Hosten haben die  Online-Versionen auch kaum zum Einkommen beigetragen." Diese ganze Internet-Sache hätte einfach nicht passieren dürfen!
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Ideen

Recht skeptisch folgt Christiane Müller-Lobeck in der Literaturbeilage der taz den als vage empfundenen Diagnosen der designierten Friedenspreisträgerin Carolin Emcke, die gerade ein Buch "Gegen den Hass" vorlegt: "Das Handwerkszeug der 49-Jährigen, zusammengelesen an den Unis von Frankfurt am Main und London sowie in Harvard, besteht aus einer eher saloppen Mischung aus Ideologiekritik und Diskursanalyse. Lackiert wird mit bildungsgesättigter Farbe: 'So wie Titania nicht Zettel liebt, weil er so ist, wie er ist, sondern weil die Wirkung des Zaubertranks sie verführt, so hassen die Blockierer von Clausnitz nicht die Geflüchteten, weil sie so sind, wie sie sind.'" In einem Tagestthemen-Gespräch versuchte Emcke gestern, ihre Ideen zu verdeutlichen.

Im Interview mit dem Tages-Anzeiger fragt sich der Dramatiker Lukas Bärfuss, ob Politik national überhaupt noch funktionieren kann: "Steuern, Umwelt, Sicherheit, Migration - darauf kann man vernünftigerweise nur global reagieren, wie neulich auch Zygmunt ­Bauman in einem hellsichtigen Essay ausgeführt hat. ... Die Idee vom Hoheitsgebiet - in der Wirklichkeit existiert sie immer weniger. Wer hat die Hoheit über das Internet? Wer kann dort zum Beispiel meine Persönlichkeitsrechte durchsetzen? Sicher nicht die Zürcher Kantonspolizei. Und je mehr wir unsere Lebensbereiche ins Internet verlagern - Wirtschaft, Unterhaltung, Kommunikation und Kunst -, desto mehr verlieren wir den nationalen Zugriff. Das müsste diskutiert werden. Leider sinkt die Qualität der öffentlichen Auseinandersetzung ziemlich rapide."
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Kulturpolitik

Der österreichische Kulturberater Martin Fritz, seit kurzem Rektor der Stuttgarter Merz Akademie, erklärt im Interview mit dem Standard seine Vorstellung von einer Reform für die Wiener Museumslandschaft. Einiges ließe sich sehr gut auf Deutschland übertragen. Zum Beispiel die Forderung nach freiem Eintritt in Museen: "Das Tolle daran ist weniger, dass man sich Geld spart, sondern dass sich das Nutzungsverhalten ändert, man geht punktueller, spontaner und häufiger in Ausstellungen und es steigt die Identifizierung mit den Häusern. In Wien wird für öffentliche Parks etwa genauso viel ausgegeben wie für die Bundesmuseen. Der Park ist selbstverständlich frei nutzbar. Ich würde über Museen gerne so sprechen können wie über Parks. Das Mindeste wäre jetzt aber einmal eine gemeinsame Jahreskarte für alle Bundesmuseen."
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Gesellschaft

In der NZZ macht sich Milosz Matuschek beim Elektrofestival im polnischen Garbicz - "bei einem Ticketpreis von 250 Euro bleiben die Westeuropäer unter sich" - Gedanken über Elektro und die Generation Y: "Die etwa 600 Menschen, die sich um mich herum bewegen, tanzen für sich allein. Das ist teils komfortabel, teils traurig. Da ist kein Austausch, kein geistiger Kontakt. Die Musik ist gleich und doch für jeden anders. Die Welt ist nicht eine einzige für uns, sie zersplittert in Tausende kleine Miniwelten. Wir fragmentieren gemeinsam ein Erlebnis. Feiern auf Elektro ist ein Blueprint für den Individualismus der Generation Y. Es gibt kein Wir."
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